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Der domes­ti­zierte Richter.Rede zur Verleihung des Fritz-­Bau­e­r-­Preises 1981

Aus: vorgänge Nr. 52( Heft 2/1982), S. 1- 4

Begriffe haben eine Geschichte. Ihre Geschichte ist die Geschichte des menschlichen Denkens. Das Entstehen und Versinken von Begriffen begleitet deshalb auch die Geschichte des Rechts. Der Dichter Rolf Hochhut hat den Begriff des „furchtbaren Juristen” in unser Denken eingeführt. Er hat mit ihm den Richtertyp getroffen, der den Nazis mit herzloser Grausamkeit zudiensten war, gleichzeitig aber sein Gewissen mit der Phrase ruhig gestellt hat, nur seine Pflicht zu tun. Er war nach 1945 mit noch blutiger Hand wieder zur Stelle, um bei der juristischen Bewältigung der Vergangenheit nützlich zu sein und seinen Nutzen zu ziehen. Die Auseinandersetzung mit diesem Richtertyp ist für uns auch heute notwendig, um deutlich zu machen, zu welchen Verirrungen und Grausamkeiten Richter fähig waren und wohl immer fähig sein werden.

Die Darstellung von Verbrechen, deren sich Männer in der Richterrobe von 1933 bis 1945 schuldig gemacht haben, ist jedoch immer in Gefahr, sich in den Einwand festzubeissen, sie reiße unnötig Wunden der Vergangenheit auf. Lassen Sie mich deshalb die Frage in den Mittelpunkt stellen: Wie sieht der die Justiz heute prägende Richtertyp aus?

Einer Antwort muss ich natürlich voranstellen, dass sich unter den etwa 15.000 Richtern in Westdeutschland nicht wenige finden lassen, die dem vorherrschenden Typ nicht entsprechen. Und doch: Es gibt einen die heutige Justiz prägenden Typ: Es ist der gute Jurist! Es lohnt deshalb, eine Beschreibung zu versuchen.

Ich muss hierbei diejenigen enttäuschen, die alte, liebgewordene Feindbilder nicht missen können und ihr Feindbild von gestern im „guten Juristen” von heute wiedererkennen möchten. Der Haudegen indessen, der schon bei Beginn der Verhandlung den Schuldigen erkannt hat und im Dienst von Führer, Volk und Vaterland – ich berichtige: nach 1945 natürlich im Dienste des Rechtsstaates – zuschlägt, wird immer seltener. Er bietet der Kritik offene Flanken, um es in dem von ihm geschätzten militärischen Sprachgebrauch auszudrücken und wird deshalb von der Justizverwaltung an den Rand gedrängt, weil er die lautlose Effizienz des Justizablaufs stört. Es ist gewiss kein Zufall, dass der Kölner Richter de Somoskeoy, der sich als Prototyp des autoritären Richters profiliert hat, zuletzt von dem Präsidium seines eigenen Gerichts beiseite geschoben worden ist, und auch in Stammheim, diesem schwarzen Schatten auf der Justizgeschichte der Nachkriegszeit, ist der Richter Prinzing durch den Richter Foth abgelöst worden, dessen scheinbar liberale Verhandlungsführung die Angriffsmöglichkeiten der Kritik schrumpfen ließ, ohne dass das Ergebnis des Verfahrens gefährdet gewesen wäre.

Der „gute Jurist” von heute ist in der Nachkriegszeit geprägt. Die Frage nach seiner politischen Einstellung stößt ins Leere. Gewiss ist er in seiner Grundhaltung konservativ, doch fällt es schwer, ihn nach herkömmlichen Merkmalen als rechts oder links einzustufen. Ihn kennzeichnet vielmehr die Tatsache, dass er kein Kennzeichen hat. Sein Lebenslauf könnte das Produkt eines Schreibautomaten sein. Die Eltern Mittelschicht, Grundschule, Gymnasium, Abitur, Studium, Examen: die erste Sprosse der Karriereleiter, auf der der „gute Jurist” nach oben klettert, ist erreicht. Die Karriereleiter ist aus demselben Holz, aus dem in allen Hierarchien der Welt – Verwaltung, Militär, Kirche, Industrie – Karriereleitern gezimmert werden. Die Anpassungsfähigkeit an die Erwartungen der den Apparat beherrschenden alten Männer und das von ihnen bestimmte  Binnenklima entscheidet. Wer endlich auf den oberen Sprossen der hölzernen Leiter angelangt ist, ist vom Klettern geprägt und bestimmt die Erwartungen an die Nachkletternden.

Ich will keinen falschen Eindruck erwecken. Bei der Konkurrenz der krummen Rücken entscheidet nicht allein der Krümmungsgrad des Rückens. Juristisch technokratisches Wissen ist nicht zu entbehren. Dies Wissen hat – ohne dass dies bisher der Öffentlichkeit bewusst geworden wäre – in diesem Jahrhundert einen Aufschwung genommen wie nie zuvor, und der nur vergleichbar ist dem sprunghaften Anstieg des Wissens der Naturwissenschaften. Mit diesem Wissen erledigt der „gute Jurist” die ihm übertragenen Fälle schnell und ohne Komplikationen. Der Aktenbock quillt selten über. Nur: die Anstrengung, die die bürokratische Arbeit erfordert, erschöpft den „guten Juristen”. Es gelingt immer weniger, Richter für mehr als die herkömmliche Bearbeitung ihrer Akten zu interessieren und sie aus ihrer meist langweiligen Privatheit herauszulocken. Das kulturelle Interesse nicht weniger Richter endet am Horizont ihrer Heimatzeitung.

Kritik an diesem Richtertyp sollte nicht übersehen, dass er auf weiten Strecken leistet, was von ihm erwartet wird. Auf den Kenntnissen und dem Fleiß dieses guten Juristen beruht die Massenleistung der Justiz in Westdeutschland. Die Zahlen der von den Gerichten bewältigten Verfahren verbergen sich dem Aussenstehenden. Ein Juristentyp, der mit schnellem, in der Ausbildung immer wieder geübtem Griff aus dem unterbreiteten Sachverhalt die juristisch bedeutsamen Teile heraus nimmt und unter einer die Größenverhältnisse verändernden und damit letztlich immer verzerrenden Lupe betrachtet, und die große Zahl der von den Gerichten bewältigten Verfahren bedingen einander.
Der „gute Jurist” ist indessen seinerseits mit Hilfe der juristischen Technik leicht zu beherrschen. Er reagiert wie ein zur Dressur zugerittenes Pferd auf den Schenkeldruck des Reiters auf die Veränderung der Gesetzgebung und von höheren Richtern beschlossene Schwenks der Rechtsprechung. Er ist belastbar, wie dies in Zeugnissen immer wieder hervorgehoben wird, bearbeitet ohne allzu lautes Murren Akten in großer Zahl, ohne wenn und aber, ohne nach dem woher und wohin der Rechtsprechung zu fragen. Kurzum: er hat alle Eigenschaften eines gepflegten höheren Angestellten.

Die Frage, ob unserer Gesellschaft dieser Richtertyp nicht auf den Leib geschnitten ist, ob sie ihn nicht verdient hat, ist berechtigt. Man könnte in die Frage auch den Hinweis einbetten, dass wir ähnliche Entwicklungen auch in anderen Bereichen beobachten können und beklagen müssen. Ich will die Frage beiseite lassen. Wichtiger erscheint mir die Überlegung, ob der „gute Jurist” den Aufgaben des Richteramts gerecht zu werden vermag. Die Antwort ist nicht einfach zu finden, weil sich in unserem Land keine einverständliche Auffassung richterlicher Aufgaben gebildet hat, ja nicht einmal eine breitere Diskussion hierzu stattfindet.

Der „gute Jurist” könnte darauf hinweisen, dass es nach der Verfassung seine Funktion sei, die vom Bundestag beschlossenen Gesetze auf den Einzelfall anzuwenden, dass er hierbei zwar einen gewissen Spielraum habe, aber nicht mehr, und dass er diese Funktion erfülle.

Aber kann das Alles sein? Nähert man sich der Frage nach der Aufgabe des Richters mit dem herkömmlichen juristischen Handwerkszeug der Verfassungsinterpretation, so wird man die herkömmliche Auffassung bejahen müssen, aber letztlich nur bestätigt finden, dass jedes geschlossene Denksystem, und eben auch das juristische, nur einen begrenzten Kreis von Antworten, nur systemkonforme Antworten zulässt.
Ich will deshalb versuchen, eine Antwort auf anderem Wege zu finden.

Ich behaupte:
Der „gute Jurist”, so wie ich ihn beschrieben habe, wird, gerade weil er ein guter Jurist im herkömmlichen Sinne ist, wesentlichen Aufgaben des richterlichen Berufes nicht gerecht.

Ich stimme nicht mit der Auffassung überein, dass die Gesetzestechnik immer schlechter geworden und die Gesetze der Gegenwart unausgereifter seien als die früherer Jahrzehnte. Indessen nehmen mit der zunehmenden Gesetzesfülle zwangsläufig auch bei guter Gesetzgebungstechnik die Ungereimtheiten in Gesetzen zwangsläufig zu. Der „gute Jurist” mit seiner anerzogen übertriebenen Hochachtung vor dem Text der Gesetze kommt schon bei der Aufgabe in Schwierigkeiten, diese Ungereimtheiten mit milder Nachsicht gegenüber dem Gesetzgeber auszuräumen.

Entscheidend aber ist, dass der „gute Jurist” hilflos ist, wenn durch das Gesetz Unrecht bewirkt wird. Ich denke bei diesem Satz nicht nur an die Zeit des Nationalsozialismus, sondern spreche auch von der Gegenwart. Die juristische Technik besteht darin, an im Gesetzestext beschriebene Tatbestände Rechtsfolgen anzuknüpfen. Durch diese Technik bekommen Teile eines Lebenssachverhalts eine unverhältnismäßige Bedeutung, während andere Teile desselben Sachverhalts in das Nichts versinken. Diese Technik reizt den Gesetzgeber zum Missbrauch. Mit ihr lassen sich für gerichtliche Verfahren leicht Rahmenbedingungen schaffen, die das Abwägen des Für und Wider eines Sachverhalts in eine Schieflage bringen und die die an dem Verfahren beteiligte Partei schnell ins Unrecht setzen, die ihr Recht gerade auf den Sachverhalt stützt, den ein parteiischer Gesetzgeber in der Vergessenheit versinken lassen will. Die vergangenen Jahre waren angefüllt mit dem Kampf von Richtern gegen die Wahrheit, die sie nicht hören wollten, weil sie im Gesetzestext nicht vorgesehen war, und von Angeklagten, die sie dennoch als Konterbande in den Gerichtssaal zu schmuggeln versucht haben.

Ein „guter Jurist” wird hier gegen die Wahrheit kämpfen, ein guter Richter ist immer der Bruder der Wahrheit! Lassen Sie mich drei Beispiele nennen. Zum Tatbestand gehört die bei einer Demonstration zerbrochene Scheibe, nicht zum gesetzlichen Tatbestand gehört die Spekulation mit Boden und Wohnraum, gegen die sich die Demonstration gerichtet hatte; ihre Erörterung wird als nicht „zur Sache” gehörig zurückgewiesen werden. Zum Tatbestand gehört das Besprühen mit Parolen gegen „Isolationshaft”, nicht aber die Haftbedingungen. Zum Tatbestand gehören die Zahlungsverzögerungen beim Ratenkredit, nicht zum Tatbestand gehören die wirtschaftliche Misere des Ratenkäufers und die aggressive Werbung, die ihn zum Ratenkauf veranlasst hatte.

Der „gute Jurist” im herkömmlichen Sinn ist nicht bereit, die Verantwortung für seine Entscheidungen zu tragen. Zwar steht er dafür ein, dass seine Entscheidung an dem Gesetz, jedenfalls so wie er es versteht, ausgerichtet ist. Er weiß sich aber von jeder Verantwortung für die Folgen seines Urteils frei. Diesem Satz wird die Mehrzahl der Richter mit Nachdruck widersprechen, ja ihn sogar als bewusste Herabsetzung empfinden. In der Tat ist meine These ein ungeheurer Vorwurf, indessen leider ein berechtigter Vorwurf. Ich könnte mich damit begnügen, zur Begründung meiner These darauf zu verweisen, dass nirgendwo in der rechtswissenschaftlichen Literatur der Gegenwart die Verantwortung des Richters für die Folgen seines Urteils auch nur behauptet wird; eine Tatsache, die von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Gewissensentlastung des Juristen im Richter ist.

Die Folgen des Richterspruchs finden sich nur an wenigen Stellen und nur als Marginalie im Tatbestand eines Gesetzes. Der Richter etwa, der einen Bürger zu untragbaren Zahlungen verurteilt, kann die Folgen für dessen und seiner Familie Schicksal kaum überblicken, geschweige denn verantworten. Der Richter, der ein Räumungsurteil verkündet, kann das, was geschehen wird, nur ahnen, aber kaum steuern. Selbst nach dem 1975 erneuerten Allgemeinen Teil des Strafrechts sind die Wirkungen der Strafe auf das künftige Leben des Täters nur zu „berücksichtigen” – nicht mehr – während Grundlage der Strafe die in der Vergangenheit aufgehäufte Schuld bleibt.

Es hieße, die Intelligenz der Richter zu unterschätzen, wollte man davon ausgehen, dass sie den immer wieder auf flackernden Konflikt zwischen ihrer Rolle im Justizsystem und ihrem Gewissen nicht erkennen. Wenn die Mehrzahl von ihnen – keineswegs alle – diesen Konflikt immer wieder zugunsten der ihnen verordneten Rolle und gegen ihr Gewissen, vielleicht auch gegen die Ideale entscheidet, mit der sie in der Jugend in ihrem Beruf angetreten ist, so müssen hier mächtige Kräfte am Werk sein.

Wie gelingt es dem Justizsystem, das Gewissen auch zweifelnder Richter immer wieder ruhig zustellen? Wie gelingt dem Justizsystem immer erneut die Gewissensentlastung?

Zum Ersten: Das Recht wird idealistisch überhöht und als ein Wert dargestellt, dem viele, wenn nicht alle anderen Werte unterzuordnen sind. Hier wird der Richter an seiner empfindlichsten Stelle angefasst, denn dieser Berufsstand ist mit der Überzeugung angetreten, dass nur die Gerechtigkeit einem Staat sittliche Würde verleiht. Wenn die Idee der Gerechtigkeit jedoch zur Ideologie wird und jede alltägliche gesetzliche Regelung mit einer Tabuzone des Denkens umgeben wird, wird aus Sinn Unsinn, wird aus dem Ladendiebstahl ein Aufbegehren gegen die Eigentumsordnung, wird aus dem Kuss ein Sexualdelikt und aus dem Sexualdelikt ein Angriff auf die sittlichen Grundlagen von Staat und Gesellschaft. Wir wissen, zu welchen Grausamkeiten Menschen fähig sind, die sich als Diener einer Ideologie wähnen. Religionskriege gehören nicht zufällig zu den grausamsten. Zwei Beispiele für die Gefahren, die aus der Überhöhung der Rechtsidee zur Rechtsideologie entstehen:

Der Präsident des Volksgerichtshofs Freisler wird von denen, die ihn kannten, als ein durchaus umgänglicher Mann geschildert. Er hat sich indessen als Diener der nationalsozialistischen Rechtsidee verstanden und ist so zum grausamen Mörder geworden. Der Terrorismusgesetzgebung und -rechtsprechung unserer Tage – zeitweise in ständigem Telefonkontakt zueinander – haben nicht zufällig im scheinbaren Dienst am Recht die Fairness des Verfahrens, die zum eisernen Bestand des Rechtsstaats gehört, zeitweilig vergessen.
Zum Zweiten: Der Richter wird soweit als möglich von den Verfahrensbeteiligten und der Wirklichkeit ferngehalten. Dieser Satz gilt schon rein räumlich. Für uns ist es fast selbstverständlich, dass das Gericht hoch oben thront und dass die Entfernung zwischen dem Gericht und dem Bürger oft so weit ist, dass nicht einmal die Gesichtszüge wechseitig wahrgenommen werden können. Die Entfernung zwischen Richtern und Bürgern wird auch durch die Roben der Richter deutlich gemacht, mit der sie den Menschen im Richter umhüllen. Es sollte zu denken geben, dass von der Mehrzahl der Richter nichts so sehr – Böll würde sagen: mit rattenhafter Wut – verteidigt wird, wie Sitzordnung und Verkleidung. Offensichtlich ist beides für die seelische Hygiene des „guten Juristen” unerlässlich.

Eine dem räumlichen Abstand gleichwertige Bedeutung hat die sprachliche Verfremdung des Prozessgegenstandes. Es ist bekannt, dass man mit einer Auswahl aus juristischen Texten ohne Mühe jede Runde unbefangener Bürger zum Lachen bringen kann. Doch hat diese dem Leben abgewandte Sprache eine sehr ernste Kehrseite. Bei der Übersetzung der Sprache der Menschen in die der Juristen verwandelt sich das Leben, verwandelt sich der dem Richter unterbreitete Ausschnitt des Lebens in einen juristischen Fall. Der Richter greift alsdann mit seinem Urteil nicht in das Leben von Menschen ein, sondern löst einen juristischen Fall. Erst die Vollstreckungsorgane der Justiz verwandeln dann die vollstreckbare Urteilsausfertigung wieder in Lebenswirklichkeit. Die Gefängnismauer oder die Räumung der Wohnung durch den Gerichtsvollzieher sind dann wieder real.

In diesem Prozess der Verwandlung spielt die Anwaltschaft eine überdenkenswerte Rolle. Gewiss stellt sie sich als Dolmetscher zur Verfügung und übersetzt dem Richter das Anliegen des Bürgers. Sie gewöhnt den Richter aber auch daran, nur verdolmetschte Bürgersprache zu hören. Nur Richter und Anwälte sprechen eine gemeinsame Sprache. In nicht wenigen Verfahren fühlt sich deshalb der Bürger durch das Zusammenwirken der Richter und Anwälte des eigenen Problems enteignet.

Zum Dritten: Von nicht geringer Bedeutung für die Gewissensentlastung des Richters ist die arbeitsteilige Arbeitsweise. Es gibt nicht mehr oder kaum noch den Richter, von dem alle von einem Gericht zu lösenden Probleme einer Familie entschieden werden. Der Richter, der durch ein Mieturteil oder das Versagen von Vollstreckungsschutz eine Familie vom Rande der Gesellschaft in den Abgrund stößt, wird nicht dem Ladendiebstahl des Jüngsten der Familie gegenübergestellt, der die Folge der erzwungenen Asozialität ist. Der junge Mann wird vielmehr dem Jugendrichter überantwortet, der kopfschüttelnd von der Asozialität Kenntnis nimmt. Der Richter, der durch eine überlange Haftstrafe eine Familie zerstört, bekommt die Akten des Ehescheidungsverfahrens nicht zu Gesicht.

Der Traum vom guten Richter ist nicht vom Lehrbuch ersonnen. Er ist älter als das moderne Verfassungsrecht, sicher so alt wie der Richterberuf selbst. Der Traum wähnt den Richter unabhängig und menschlich.

Die Frage nach der Unabhängigkeit des Richters verliert sich bei uns allzu schnell in einer an bürokratischen Kriterien festgemachten Diskussion der Frage, welche Weisungen die Justizverwaltung dem Richter erteilen darf. Unabhängigkeit ist mehr. Unabhängigkeit ist das Kennzeichen für eine geistige Verfassung und nicht notwendig die Beschreibung einer gesetzlichen Regelung. Es ist sicher kein gutes Zeichen für das Vertrauen vieler Richter in ihre Unabhängigkeit, wenn sie, nach ihr gefragt, im Kommentar nachschlagen.

Unabhängigkeit des Richters bedeutet heute und hat wohl zu allen Zeiten bedeutet Unabhängigkeit vom Staat und den ihn beherrschenden Kräften. Die Unabhängigkeit des Richters ist kein Wert an sich. Wenn es so wäre, müsste sie als überholtes Standesprivileg schleunigst abgeschafft werden. Die Unabhängigkeit des Richters erhält ihren sittlichen Wert erst durch die Bereitschaft des Richters, sie als Instrument einzusetzen, um der Menschlichkeit auch gegen den Staat und die ihn beherrschenden Gruppen zum Siege zu verhelfen.

Die Gerechtigkeit eines Staates muss notwendig abstrakt sein. Die Gerechtigkeit des Richters kann nur konkret, kann nur auf den einzelnen Menschen ausgerichtet, kann nur menschlich sein.

Der Bürger steht dem Staat wie einer Mauer gegenüber. Wer kennt nicht das Bild von Jugendlichen vor einer Phalanx gepanzerter Polizisten? Stehen nicht viele von uns so hoffnungslos dem Staat gegenüber? Sind nicht seine nur schwer durchschaubaren Regeln und Ansprüche für viele von uns so undurchdringlich wie eine Mauer, wie eine Phalanx gepanzerter Polizisten? Warten wir nicht darauf, dass eine Figur aus der Phalanx heraustritt, die Waffen ablegt und sich zum Menschen wandelt? Dies ist die Aufgabe des Richters heute! Seine Unabhängigkeit macht es ihm möglich, Reih und Glied zu verlassen und auf den Menschen zu zugehen.

Gewiss kann der Richter nicht jedem Begehren stattgeben. Aber der Richter verdiente seinen Namen nicht, wenn er nicht immerzu einem Urteil käme, mit dem der Mensch vor ihm weiterleben kann – und sei es in den Nischen des Gesetzes.

Lassen Sie mich diese Überlegung noch einmal ins allgemeine wenden. Die Brücke des Gespräches zwischen dem Staat und den ihn beherrschenden Gruppen auf der einen Seite des Ufers und den Bürgern auf der anderen ist baufällig geworden. Sicher ist es spät, wenn dieses Gespräch erst im Gerichtssaal stattfindet, in dem der schon ausgebrochene Konflikt aufgearbeitet werden soll. Ich kann aber nicht anerkennen, dass es zu spät ist.
Wenn die Vermittlung zwischen Staat und Bürger gelingen soll, darf allerdings die Gerichtsverhandlung nicht die Fortsetzung des Polizeieinsatzes mit anderen Mitteln sein. Der Weg zum unabhängigen Richter muss für die Funktionäre des Staates ebenso mit Sorgen und Zweifein gepflastert sein wie für den Bürger. Die Richterschaft wird ihrer politischen Aufgabe als Dritte Gewalt nur gerecht, wenn sie auch für Bürger offen bleibt, die der Staat in sein Feindbild eingereiht hat.

Das Bild des unabhängigen, des gerechten und menschlichen Richters ist in mehr als einem Jahrtausend gewachsen. Es ruht unbeschädigt in unser aller Herzen. Es hat großer Anstrengungen des Staates und der Mächtigen in diesem Staat bedurft, um es aus den Herzen vieler Richter zu verdrängen und durch das des „guten Juristen” zu ersetzen. Vollständig ist dies nirgends gelungen. Eine Rückkehr vom Juristen zum Richter bleibt immer offen. Wir sollten indessen nicht darauf vertrauen, dass der Staat selbst diesen Prozess einleitet. Noch nie haben die Mächtigen dieser Welt eine Politik betrieben, die ihre Macht hätte begrenzen können. Dies ist gerade in diesen Tagen umso weniger zu erwarten, als die Linien der heutigen Politik auf einen Punkt zulaufen, an dem sie nur noch mit Tränengas und Gummigeschossen durchzusetzen ist. Noch aber sind wir Bürger der Souverän des Staates.

Rufen wir deshalb unseren Richtern zu:

Sprechen Sie Recht für Menschen! – Sprechen Sie im Namen des Volkes Recht!

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