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Zum Tode Theodor W. Adornos

Aus: vorgänge Heft 6/1969, S. 298/299

Eben diese Assimilation des Geistes an das herrschende Prinzip ist von der philosophischen Reflexion zu durchschauen. Das traditionelle Denken und die Gewohnheiten des gesunden Menschenverstandes, die es hinterließ, nachdem es philosophisch verging, fordern ein Bezugssystem, ein frame of reference, in dem alles seine Stelle finde. Nicht einmal allzuviel Wert wird auf die Einsichtigkeit des Bezugssystems gelegt – es darf sogar in dogmatischen Axiomen niedergelegt werden -, wofern nur jede Überlegung lokalisierbar wird und der ungedeckte Gedanke ferngehalten. Demgegenüber wirft Erkenntnis, damit sie fruchte, à fond perdu sich weg an die Gegenstände. Der Schwindel, den das erregt, ist ein index veri; der Schock des Offenen, die Negativität, als welche es im Gedeckten und Immergleichen notwendig erscheint, Unwahrheit nur fürs Unwahre.
Adorno, Negative Dialektik

Beginnen wir mit einer Phrase: ein großer Aufklärer ist tot! Was ist Aufklärung? Wie ist sie heute zu definieren, nachdem Kants Bezug auf die Mündigkeit, der sozialen Implikationen nicht bewußt, so offensichtlich zu kurz geraten ist? Der Positivismus hätte ebenso eine Definition zu bieten wie die idealistische Systemphilosophie. Adorno hätte die Frage zurückgewiesen, hätte die Möglichkeit der Definition selbst in Frage gestellt. Und wenn Aufklärung irgend möglich ist, dann so, als Prozeß.

Es ist eine der abstrusen Merkwürdigkeiten in unserem sogenannten Geistesleben, daß ausgerechnet diesem Mann Mythologie, wenn nicht gar philosophischer Obskurantismus vorgeworfen wurde. Dabei gibt es keine philosophische Bemühung, die die Möglichkeiten des Begriffs und die Unmöglichkeit eines irgendwie konkretisierbaren Absoluten im Begriff bis an die Grenze des Denkbaren präziser ausgelotet hätte.

Die immanent dialektische Schwierigkeit der Philosophie, so sagte er in einer seiner Vorlesungen, bestünde in dem Versuch, das Unaussagbare zu sagen. Das Wittgensteinsche Verdikt mißachtend, wandte er sich kritisch genau dem Problem zu, das dem Positivismus bei Strafe seiner Auflösung kein Problem sein darf: der Dialektik von Begriff und Sache. Daß wir die Welt nur in Begriffen haben, aber die Begriffe nicht mit der Welt identisch sind, diese sich ihnen immer wieder entzieht, diese lapidare Einsicht ist eine der entscheidenden methodologischen Bedingungen dialektischen und auch jedes konsequent kritischen Denkens (was bei näherem Zusehen auf dasselbe hinausläuft). Dieser Evidenz kann sich nur entziehen, wer sich gegen die Voraussetzungen seines eigenen Denkens blind macht. Solcher Blindheit galt ein wesentlicher Teil Adornoscher Auseinandersetzung.

Wer allerdings den Begriff zum Fetisch erhebt, ihm gar in der Form des steril isolierten logistischen Zeichens a priori apodiktische und generelle Realitätsgültigkeit zuspricht, dem mochte die dialektische Analyse begrifflicher Erkenntnis, wie sie etwa in der „Negativen Dialektik“ mühsam unternommen wird, allerdings mythologisch erscheinen. Doch wird so nur die Anstrengung des Begriffs als Mythologie verketzert.

Der Philosoph Adorno, der so sehr um die Unsicherheit fester Ausgangspunkte wußte, mochte sich auch als Soziologe nicht mit einem unreflektierten Instrumentarium zufriedengeben. Soziologische Aussagen sind immer theoretisch-begriffliche Aussagen. Selbst sozialempirische Statistik ist keine reine Objektivität, sondern resultiert auch aus begrifflich formulierten, subjektiven Auswahlvoraussetzungen. Sollen die soziologischen Arbeitsmethoden nicht über kurz oder lang zu einer Sammlung realitätsfremder Dogmenvorschriften erstarren, bedürfen sie der permanenten Selbstreflexion. Für Adorno hieß das, die Grenze zwischen Philosophie und Soziologie ständig zu überschreiten, was einer weiteren Verletzung eines Verbots vordergründiger Wissenschaftsgläubigkeit gleichkam.

Solche Kritik an der Adornoschen Arbeitsweise übersieht freilich, daß nur die kritische Selbstreflexion des Denkens, die zum Wesentlichen vorstoßende kritische Reflexion der Gesellschaft ermöglicht. Adornos Sorge galt nicht zuletzt jener empiristischen Scheinaufklärung, die immer noch von den Verdiensten zehrt, die sie sich im Kampf gegen den mittelalterlichen Dogmatismus und die idealistische Metaphysik erwarb. Emphatisch sich auf sich beziehende Erfahrung half gewiß die Götter stürzen mit deren Hilfe im Diesseits so leicht zu herrschen war. Doch wenn versucht wird, „den Abgrund, in dem die Wahrheit wohnt, einfach wegzureden“ (Niels Bohr), wenn nur das positiv Gegebene gelten soll, dann verkommt die aufklärerische Intention selbst zur Ideologie. Die Anerkennung des Existenten und die Verketzerung des Möglichen als utopistischer Spekulation, ist heute eine stärkere ideologische Stütze des Bestehenden als es irgendein dogmatisches System sein könnte. Dabei hat Adorno sehr wohl gewußt, welche latente Gefährdung dem in solcher Kritik sich dokumentierenden offenen Denken innewohnt. Sein gespanntes Verhältnis zur studentischen Revolte ist genau von diesem Punkt aus zu begreifen.

Diesen Mann in die Nähe idealistischer Systemspekulation zu rücken, beweist schon ein erhebliches Maß an Ignoranz. Wird seine Ontologiekritik denn nicht zur Kenntnis genommen? Dem dogmatischen Idealismus und Materialismus stand er genauso fern wie der positivistischen Selbstverstümmelung der Erkenntnis. Seine Freiheit beruhte im Verzicht auf unantastbare Fixierungen, sein Denken ist am schwindelerregenden Abgrund angesiedelt, in dem die Wahrheit zu suchen und nur in dialektischen Monaden zu finden ist. So deutet sich heute Aufklärung an: in der Bereitschaft, bis an den Rand des Denkbaren vorzustoßen, ohne von der Erkenntnis her Realität dogmatisch zu verformen, aber auch ohne sich von fixierter Wortgläubigkeit aufhalten zu lassen; im Bewußtsein des Abgrunds sich selbst zu bestimmen und dieser Bestimmung doch zu mißtrauen. Eine rezeptive Moral ist aus solchem Denken nicht ableitbar. „Alle Einzelnen sind in der vergesellschafteten Gesellschaft des Moralischen unfähig, das gesellschaftlich gefordert ist, wirklich jedoch nur in einer befreiten Gesellschaft wäre. Gesellschaftliche Moral wäre einzig noch, einmal der schlechten Unendlichkeit, dem verruchten Tausch der Vergeltung sein Ende zu bereiten. Dem Einzelnen indessen bleibt an Moralischem nicht mehr übrig, als wofür die Kantische Moraltheorie, welche den Tieren Neigung, keine Achtung konzediert, nur Verachtung hat: versuchen, so zu leben, daß man glauben darf, ein gutes Tier gewesen zu sein.“

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