Publikationen / vorgänge / vorgänge 6-1969

Im Kampf um des Menschen Rechte

vorgängevorgänge 6-196904/2019Seite 205-210

Aus: vorgänge Heft 6/1969, S. 205-210

Als meine Schulzeit zu Ende ging, lobte mein Rektor den Entschluß, Rechtswissenschaft zu studieren. Als guter Mathematiker hätte ich bestimmt die Veranlagung, logisch zu denken, und auch meine Schulaufsätze seien ganz gewandt. Das war recht schmeichelhaft, aber nichts von alledem war mir jemals durch den Kopf gegangen. Schon als Elfjähriger hatte ich die nicht ungewöhnliche Frage, was ich einmal werden möchte, mit der Zeichnung eines großen Firmenschilds beantwortet, auf dem unter meinem Namen als Beruf „Oberstaatsanwalt” stand. Einige kommentierende Sätzchen wurden beigefügt. Ich habe diesen Schulaufsatz nicht vergessen, weil ich eine ungewöhnlich schlechte Note für ihn bekam. Das Firmenschild war denen der Rechtsanwälte nachgeahmt; Oberstaatsanwalt war in meiner Vorstellung so etwas wie ein besserer Rechtsanwalt. So ganz schief war dies nicht, und wenn ich heute in der Lage wäre, die juristischen Berufsbezeichnungen selbstherrlich zu ändern, würde ich bestimmt die Staatsanwälte Rechtsanwälte nennen. Die aus autoritären Zeiten stammende Bezeichnung Staatsanwalt paßt nicht; der Staatsanwalt vertritt nicht den Staat, er ist nicht der Anwalt irgendwelcher Staatsräson oder irgendwelcher Staatsinteressen, sondern des Rechts der Menschen und ihrer sozialen Existenz gegen private und staatliche Willkür. Er ist an die Gesetze gebunden, deren wichtigste die Menschenrechte sind.

Das Berufsbild, das ich mir als Elfjähriger machte, hatte seine Geschichte. Der „staatliche Rechtsanwalt”, der mir damals vorschwebte, entsprach dem Polizisten mit Pickelhaube, Schleppsäbel und martialischem Schnurrbart, der mir noch einige Jahre zuvor als das Großartigste auf Erden erschienen war, aber meinen sozialen Ansprüchen nun nicht mehr genügte. Warum ich aber Polizist werden wollte, weiß ich heute noch ganz genau. Als ich einige Wochen in die „Elementarschule” ging, zeigte der Lehrer eine kleine Büchse und fragte, was wohl drinnen sei. Wir riefen „Schreibfedern”, „Schwamm” und alles mögliche andere. Alles war falsch. Endlich antwortete ich „Luft” und bekam die Büchse. Einige meiner Kameraden waren sehr böse und nach der Schule fielen sie über mich her. Sie wollten die Büchse. Dabei schrie einer (und andere folgten ihm nach) : Du und deine Eltern, Ihr habt Christus umgebracht! Nach einigen Minuten wurde es ihnen zu dumm und zu langweilig, sie hörten damit auf. Bei meiner Mutter suchte ich Trost. Sie bemühte sich redlich. Trotzdem war ich sehr unglücklich. Damals wollte ich Polizist werden, weil man ihm mit seinem Säbel nichts anhaben konnte. Aber es ging doch noch einiges mehr in meinem Kopfe herum. Die Polizisten sind dazu da, daß niemandem Unrecht geschieht, und ich hatte das Gefühl, es geschehe mir Unrecht. Daß Unrecht geschehen könne, war mir eine neue Erfahrung. Ich war auch über Christus, den Prozeß gegen ihn und die Kreuzigung, erschrocken. Das sei damals gewesen, sagte mir meine Mutter, heute würde dergleichen bestimmt nicht mehr vorkommen. Damals, so resümierte ich, hat es noch keine Polizisten gegeben; sie hätten sicher verhütet, daß etwas Verkehrtes geschehe.

Das Kindheitserlebnis steht mir noch heute deutlich vor Augen, als wäre es gestern geschehen. Was der junge ABC-Schütze an Leid und Enttäuschung damals erfuhr, sein unklares Aufbegehren gegen Unrecht, wo immer es geschehe, sein Widerstandswille und sein Tagtraum von einer besseren, einer guten Welt, hat sich, um mit Goethes Urworten zu sprechen, „lebend entwickelt”.

Das Leitbild vom Polizisten, auf dessen Schleppsäbel ich jedoch bald verzichtete und den ich auch in Gedanken nie mit dem fürchterlichen Richtschwert der Justitia vertauschte, hat mich nicht nur zum Juristen, sondern auch zum politisch interessierten und aktiven Menschen gemacht. „Politisch Lied, ein garstig Lied” galt auch in meiner väterlichen Familie, aber meine Mutter hatte mir schon früh von ihrem Vater erzählt, der „Politiker” sei. Was das sei, fragte ich, und meine Mutter erklärte, er sorge für Bänke im Walde und neue Wege, auf denen wir spazierengehen könnten. Dieser kommunale Verschönerungsverein, personifiziert in meinem Großvater, hat mir sehr imponiert, und da ich meinen Großvater und seine weitausholenden Erörterungen vieler Dinge zwischen Himmel und Erde bewunderte und sah, wie er Hinz und Kunz mit Rat und Tat beistand, war der Bann gebrochen, der sonst einen braven Bürgersohn von den Bereichen des Politischen abhält. Mit fünfzehn Jahren erlebte ich, wie unser Philosophieprofessor, der meinen geisteswissenschaftlichen Durst stillte, plötzlich Kultusminister der ersten republikanischen Regierung in Württemberg wurde. Die liberalen Ideale der schwäbischen 48er schlugen blitzartig ein. Wilhelm Meisters Wanderjahre, die ich damals las, wurden mir zu einem sozialen Vorbild; vor mir sah ich eine fruchtbare Kameradschaft tätiger Genossen im Dienste der Forderung des Tages. Wenige Jahre später habe ich Kurt Schumacher getroffen, der einarmig vom Kriege zurückkehrte. Als junger Assessor und Richter war ich viel mit ihm zusammen. In den Tagen der Weimar-Republik, später nach dem Zusammenbruch des NS-Staates, nicht zuletzt aber im Konzentrationslager habe ich seinen bergeversetzenden Glauben und seinen Mut bewundert. Ich erinnere mich noch, wie er 1933, als er von der spalierbildenden Wachmannschaft des Lagers mit Brennesseln blutig geschlagen war und der Lagerleiter höhnisch die Frage an ihn richtete: „Warum, Schumacher, sind Sie hier?”, ohne Zögern antwortete: „Weil ich zur besiegten Partei gehöre”. Die freimütige Antwort hat sogar dem Lagerleiter die sonst übliche ordinäre Schimpfrede verschlagen. Ich, der kleinmütig die Stunde der Freiheit ersehnte, habe ihn dann gefragt, wie lange dies alles wohl daure. Ohne mit der Wimper zu zucken, meinte er: „Ich bleibe hier 10 bis 12 Jahre, dann ist der Spuk vorbei.” Diese Gewißheit ließ ihn überleben.

Die Verbindung von juristischer, auch richterlicher Tätigkeit mit politischer Arbeit ist mir nie widersinnig erschienen. Sie ergänzen sich. Selbstverständlich ist jeder Jurist verpflichtet, ohne Ansehen der Person das Recht zu pflegen. Das wäre ein trauriger Jurist, der einen anderen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Herkunft, seines Glaubens oder seiner politischen Anschauung wegen benachteiligen oder bevorzugen wollte. Es geht um etwas ganz anderes. Es gibt keinen politikleeren Raum. Wenn einer seine Kinder prügelt, ein anderer die Prügel läßt, wenn einer Rembrandt liebt, ein anderer Picasso, so ist dies Politik; man kann keinen Nagel in die Wand schlagen, ohne Politik zu treiben. Der Jurist weiß, daß jedes Gesetz unvermeidbar Lücken hat, er muß sie schließen. Tausenderlei Zweifelsfragen melden sich, er muß sie beantworten. Hier tritt er an die Stelle des Gesetzgebers. Seine schöpferische Entscheidung ist notwendigerweise von seinem Rechtsgefühl diktiert, das einmalig wie alles Menschliche ist, sie ist undenkbar ohne sein Bild vom Staat und Einzelnen, von Freiheit und Gleichheit, Krieg und Frieden. Der Jurist, der dies leugnen wollte, etwa sich einbildete, seine Urteile seien frei von diesen Erdenresten unvermeidlicher Subjektivität, betrügt sich selbst und andere. Es fehlt ihm schon jene Selbstkritik, welche die notwendige Grundlage jeden Willens zur Objektivität ist. Hier wie überall tut Offenheit und Aufrichtigkeit not, alles andere ist Nebelbildung. Es gibt noch ein Weiteres und Wichtigeres. „Es erben sich Gesetz und Rechte wie eine ewige Krankheit fort, sie schleppen von Geschlecht sich zu Geschlechte und rücken sacht von Ort zu Ort.” Gesetz und Recht sind immer reformbedürftig, immer geht es um das Recht, das mit uns geboren ist. Die Forderungen des Tages melden sich; Hexenprozesse sind nicht ausgestorben; menschliche und soziale Not gibt es überall, bei uns, in Übersee. Nur eine Trägheit des Herzens kann dies leugnen. Wer ist mehr als der Jurist, der sich dem Kampf ums Recht verschrieben hat, berufen, hier seine Stimme zu erheben? In seiner akademischen Antrittsrede hat Schiller die Frage aufgeworfen, warum so leicht „dem Rechtsgelehrten seine Rechtswissenschaft entleide”. Seine Antwort lautet: „Er fühlt sich abgeschnitten, herausgerissen aus dem Zusammenhang der Dinge, weil er unterlassen hat, seine Tätigkeit an das große Ganze der Welt anzuschließen.” Das muß nicht sein. Statt seine Passivität, die bequeme Haltung eines politischen „ohne-mich”, als Objektivität, die sie in Wahrheit gar nicht ist, auszugeben, sollte er mit gutem Beispiel vorangehen und sich seiner staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten besinnen, die nicht nur darin bestehen, bisweilen geheim zu wählen. Demokratie ist kein Dampfer, dessen Kapitän man sich anvertraut, sondern ein Boot, in dem wir alle mitrudern müssen.

Bloße Gesetzeshörigkeit macht den Juristen leicht zum reinen Techniker, der durch logische Operationen, Auslegungen und Unterlegungen zum Kern der Dinge vorzustoßen sucht. Dann arbeiten die Gesetze und ihre Techniker wie eine Maschine; ihre Leistungen mögen standardisiert und berechenbar sein, aber dahinter steht das erbarmungslose Pathos des kalten Satzes: es lebe das Gesetz, mag auch die Welt untergehen. Gerade in unserer technisierten Zeit sollte aber kein Raum mehr für solch juristisches Technokratentum sein. Dem menschlichen Faktor eine Gasse zu bahnen, ist die Aufgabe aller Berufe, vor allem der Juristen, denn Gesetze sind nun einmal nicht auf Pergament, sondern auf empfindliche Menschenhaut geschrieben. Vom Gesetzesfetischismus führt ein schnurgerader Weg zu den Konzentrationslagern von Auschwitz und Buchenwald. Der knechtische Respekt vor allem, was formal als Gesetz auftritt, hat einem bedeutenden deutschen Juristen an der Jahrhundertwende den Satz in die Feder diktiert, der Staat sei rechtlich durch keine Schranke gebunden; selbst brutale Gewaltakte würden, wenn sie in der Form des Gesetzes aufträten, formell Recht sein und Gerichte, Verwaltungsbehörden und Untertanen binden. Eine Justiz, die zu einer solchen bloßen Gesetzestechnik entartete, war dann auch dem Ansturm des nazistischen Unrechtsstaates, der Unrecht in Gesetzesform schuf, nicht gewachsen.

Mit 18 Jahren kam ich nach Heidelberg, um zu studieren. Ich kaufte mir das Corpus juris und Gustav Radbruchs wunderbare „Einführung in die Rechtswissenschaft”. Das Corpus juris war zu dick, um in die Frühjahrslandschaft Heidelbergs mitgenommen zu werden, aber Radbruchs Einführung las ich bewegt, begeistert in den Wäldern rings um das Schloß. Hier unterscheidet Radbruch zwischen zwei Juristentypen, dem Juristen aus Ordnungssinn und dem aus Freiheitssinn. Der „Neigung zur Reglementierung und Rationalisierung ein Gegengewicht zu bieten, ist die historische Aufgabe des Juristen aus Freiheitssinn, vom Amtsrichter, der Übergriffe der polizeilichen Verordnungsgewalt als solche kennzeichnet, bis zum Verteidiger, der die Kunst gegen unzüchtige Betrachter schützt. Diese Juristen sind die Vorposten des Rechtsstaats gegen unseren angeborenen Hang zum Polizeistaat. Rechtsstaat ist aber für uns nicht nur ein politischer, sondern ein kultureller Begriff. Er bedeutet die Wahrung der Freiheit gegen die Ordnung, des Lebens gegen den Verstand, des Zufalls gegen die Regel, der Fülle gegen das Schema.” Die Worte sind von mir dick unterstrichen worden; ich habe gewußt, wohin ich gehören möchte.

In Mitteleuropa, vor allem in Deutschland, war das Recht des Einzelnen zum Widerstand gegen staatliches Unrecht seit den Tagen des absoluten Staates in Vergessenheit geraten. Das war um so überraschender, als dieses Recht auf germanischem Boden erwachsen ist. Manegold von Lautenbach und der Sachsenspiegel haben ihm im Mittelalter beredten Ausdruck verliehen. Schiller hat ihm im Wilhelm Teil ein unsterbliches Denkmal gesetzt. Dort spricht Stauffacher von den ew’gen Rechten, die droben hangen unveräußerlich und unzerbrechlich wie die Sterne selbst, und die, wenn kein anderes Mittel mehr verfangen will, selbst mit dem Schwert verteidigt werden dürfen. Im nazistischen Unrechtsstaat war die Brüchigkeit eines juristischen Formalismus, für den Gesetz Gesetz und Befehl Befehl ist, deutlich geworden, aber auch die Begrenztheit bloß nationaler Normen. Es gibt ein Recht, das allen nationalen Gesetzgebungen vorgelagert und übergeordnet ist und durch keine Beschlüsse eines Parlaments oder den Befehl eines „Führers” außer Kraft gesetzt werden kann. Es ist durch eine Art Plebiszit des modernen Menschen geschaffen; es hat durch den griechischen Humanismus, die biblische Ethik, durch die Kämpfe erst der Bürger, später der Arbeiter um Freiheit und Gleichheit Gestalt gewonnen. Vieles mag hier noch strittig sein, vieles mag kommenden Geschlechtern noch zu tun übrig bleiben, aber es steht fest, daß menschliche Gemeinschaft, Friede und Gerechtigkeit auf der Welt nicht denkbar sind ohne den Respekt vor der Würde eines jeden Menschen. Daraus folgt auch der verbrecherische Charakter eines jeden Angriffskriegs, auch der Verzicht auf die Heiligerklärung der Vaterländer.

Im deutschen Widerstandskampf 1933—1945 war diese Rechtsauffassung Wirklichkeit geworden. Als ausgerechnet Remer, der mitgewirkt hat, am 20. Juli 1944 den Kampf um Ritterlichkeit, Recht und Menschlichkeit niederzuschlagen, durch die deutschen Lande zog und die Widerstandskämpfer Hoch- und Landesverräter schalt, galt es zuzugreifen, nicht nur um des Andenkens der Männer und Frauen willen, die für die Erhaltung der Menschenrechte in den Tod gegangen waren, sondern vor allem auch, um das Widerstandsrecht, das in der deutschen Rechtslehre und Praxis völlig verkümmert und in das Raritätenkabinett der Rechtsgeschichte verbannt war, erneut zu sanktionieren. Dies ist denn auch geschehen. Remer wurde nach einer langen Verhandlung, in der evangelische und katholische Theologen sich aus ihrer religiösen Sicht zum Widerstandsrecht, ja zur Widerstandspflicht gegen Unrecht bekannten, zu einer Gefängnisstrafe von einigen Monaten verurteilt, deren Verbüßung er sich übrigens durch Flucht entzog. Ob die Strafe hoch oder niedrig war, war dem Staatsanwalt ganz gleichgültig; es ging allein um das Prinzip, um die Feststellung dessen, was Recht und was Unrecht war. Auch in vielen anderen Prozessen ist diese Feststellung allein wichtig.

Der Widerstand der — nicht zuletzt auch germanischen — Völker gegen die Tyrannei ihrer treulosen Herrscher, der Widerstand der Kirchen und Stände gegen Eingriffe in ihre wohlerworbenen Rechte, der unerschrockene Kampf einzelner Unentwegter wie Voltaire, der sich zeitlebens für religiös und politisch Verfolgte eingesetzt hat, nachdem er selber die Prügel eines hochadligen Herrn des alten Frankreich einstecken mußte, hat geschaffen, was wir heute Europa und die abendländische Kultur nennen. Ihre Bejahung bleibt .ein leeres Lippenbekenntnis, wenn die Bedeutung des jahrhundertalten Protests gegen alle Gleichmacherei und gegen alle angeblich alleinseligmachenden Heilslehren verschwiegen und wenn nicht in der Resistance aller Zeiten ein die Gegenwart und Zukunft verpflichtendes Erbe gesehen wird.

Die Industrialisierung unserer Zeit schafft ein Netz von Abhängigkeiten, in dem wir oft vergeblich nach Luft schnappen. Im modernen Massenstaat werden die zwischenmenschlichen Beziehungen organisiert; dies ist oft unvermeidlich. Aber die Organisationen haben ein Eigenleben, sie wachsen und wuchern. Wir sind oft kaum mehr Herr der Werkzeuge, die wir selber schufen. Die eigene Verantwortung schwindet, es wird uns schwer gemacht, unseren Lebensinhalt selbst zu bestimmen. Oft sind auch die Menschen allzu gerne bereit, innere und äußere Unfreiheit auf sich zu nehmen und sich den Sachverständigen und Managern aller Art zu verschreiben. Sie suchen Rückhalt in der Gleichförmigkeit und Disziplin und unterwerfen sich willig und kritiklos den Mächten und Parolen der Stunde. Menschliche und mitbürgerliche Tugenden leiden Not; es erlahmt das Gefühl für Treue, Vertrauen und Toleranz. Das Leben regelt sich von oben nach unten, vertikal. Das Wir, die horizontalen Bindungen lösen sich auf. Wenn wir die Demokratie wirklich ernst nehmen, bedarf es eines günstigen Klimas für jede Behauptung und Verteidigung staatsbürgerlicher Rechte; jedem ist der Rücken zu stärken und Mut zu machen, der häufig nichts anderes ist als ein kleines Atom in irgendeinem Großbetrieb irgendeines Großstaates, aber in der Tretmühle des Alltags sich gegen Übergriffe staatlicher oder privater Machtkonzentrationen zur Wehr setzt und, da nicht die Völker, wohl aber die Individuen ohne Raum sind, um jeden Quadratmeter seines privaten Eigenlebens streitet. Die privaten Existenzen geben in der Demokratie dem Staat Gesicht und Gepräge, nicht umgekehrt. Da wir das Ruhebedürfnis der Besitzenden und Satten und den Herdentrieb, den geheimen und offenen Hang der Menschen zur Ein- und Unterordnung, zur Uniformität und Konformität kennen, brauchen wir nicht zu fürchten, daß diese Aufforderung zur Resistance in Wissenschaft, Politik, Kunst und Gesellschaft zur Anarchie und permanenten Revolution führt.

Die Pflege nonkonformistischer Gesinnung und Tätigkeit nicht nur im Kampf gegen Unrechtsstaaten, sondern auch gegen alle gefährliche Gleichschaltungsbestrebungen von oben und unten ist ein Teilaspekt staatlicher Sozialhygiene unserer Zeit. Andere Aufgaben kommen hinzu. Die Menschen fühlen sich nicht wohl. Kriege und Arbeitslosigkeit liegen hinter ihnen. Wasserstoff- und Kobaltbomben drohen, deren radioaktive Stoffe Kontinente verseuchen. Ein Selbstmord unseres ganzen Globus ist technisch möglich. Die Arbeitsstätten, die Gemeinden und Staaten wachsen, alles wird großräumig; die sozialen Beziehungen erstarren, und menschliche Bindungen kühlen ab. Die Räderwerke funktionieren, die Menschen stehen an laufendem Band. Aber ein Räderwerk und ein Fließband ist keine menschliche Gemeinschaft. Die Menschen haben Angst, sie fürchten auch die anonyme Gewalt der Staaten und ihrer Bürokratien, auch wenn es demokratische Staaten sind. Sie lieben die Staaten nicht, obwohl sie doch einiges für sie tun. Kein Jurist kann überhören, daß es der tägliche Wunsch sehr vieler anständiger Bürger ist, nur nichts mit den Gerichten zu tun zu haben. Der ganze Betrieb unserer Zivil- und Strafjustiz jagt ihnen Furcht und Schrecken ein. Der Ausweg aus der verängstigten Gejagtheit ist die Flucht in die kollektivierte Freizeit, aber kein Sport, Film oder Radio, keine Massenpresse ersetzt das Wir, nach dem sich die Menschen sehnen.

Politiker und Beamte können nie genug von dem wissen, was außerhalb ihrer Mauern gefühlt und gedacht wird. Akten sind ein dürftiges Informationsmittel. Dem hohen Politiker mag vielleicht ein Verfassungsschutzamt oder eine Gallupuntersuchung zur Verfügung stehen; in den Korridoren der Politiker mögen die Vertreter der verschiedenartigsten Interessengruppen jammern und klagen. Der Beamte hat in aller Regel nicht einmal sie, seine Mitarbeiter sind in der Regel Schleusen, die mehr zurückhalten als weiterleiten. Hier bleibt nur der alte Weg des Harun al Raschid, der seine Kalifenwürde zu Hause ließ und anonym auf den Märkten und in den Kneipen Bagdads nach der Wahrheit forschte. Der Weg des Kalifen ist auch heute möglich. Wer sich etwa auf den Autobahnen unserer „Anhalter” annimmt, wird bald Bescheid bekommen, was deutsche und europäische Jugend meint. An Erlebnissen fehlt es mir nicht. Ich treffe einen jungen Menschen, der auf dem Weg nach Arbeit im Ruhrgebiet ist. Bald weiß ich, daß er neulich aus einem Gefängnis entlassen wurde. Ich erfahre viel von dem, was dort vor sich ging. Im Laufe des Gesprächs erzähle ich ihm, wer den letzten Fußballkampf beim Sportfest des Gefängnisses gewann. Dies und manche andere Andeutung machen ihn stutzig und zuletzt ahnt er, wer ich bin. Wir bleiben aber trotzdem Kameraden und finden auch eine Arbeit an seinem Heimatort. Oder ein Fürsorgezögling ist auf dem Weg nach Hamburg; er will als blinder Passagier nach Amerika. Er hat soeben seinen freien Sonntag dazu benutzt, „abzuhauen”. Es ist nicht ganz einfach, ihn zur Umkehr zu bewegen; es kostet auch nicht wenig Mühe, einigermaßen rechtzeitig wieder in seinem Heim zu sein und eine glaubwürdige Entschuldigung vorzubringen. Ich glaube aber, wir haben es vereint geschafft!

Ein anderes Erlebnis hat mir manches zu denken gegeben, und ich glaube, es paßt hierher. Es war auf einem der kleinen Dampfer des Canal Grande. Neben mir stehen drei deutsche Studenten und eine Studentin. Sie waren soeben auf verschiedenen Wegen „per Anhalter” nach Venedig gekommen, das sie nicht kennen. Sie unterhalten sich und sind glücklich, sich getroffen zu haben. Venedig imponiert ihnen nicht, sie ignorieren es. Als die ersten Gondeln auftauchen, meint einer beiläufig: „Die machen in Lyrik”. Keine Ca’d’Oro, kein Palazzo wird beachtet; nur an der Rialtobrücke murmelt einer: „Das sollte ich doch kennen.” Sie erzählen von dem Autofahren und den; Autofahrern, die sie mitgenommen haben; es waren viele. Ich ahnte nicht, wie interessant Autofahrer sein können. Aber ich höre, daß sie gute Erfahrungen machten, der eine oder andere Autobesitzer war sogar großartig gewesen. Die Wahrheit gebietet zu schreiben, daß sie einige Minuten lang sich auch der Frage widmeten, ob es nicht hygienischer wäre, die Kanäle Venedigs trockenzulegen. Bald aber sprachen sie wieder von ihren Autofahrern, und als sie am Markusplatz angekommen waren, war das Thema noch immer nicht erschöpft. Einige Monate später erzählte ich mein etwas schockierendes venezianisches Erlebnis einem anderen Studenten, der ebenfalls mit ein paar Mark in der Tasche auf dem Weg ins Ausland war. Er schüttelte den Kopf und gab mir unrecht. Bildungserlebnisse hin, Bildungserlebnisse her, meinte er. Entscheidend sei nicht die Ca’d’Oro, sondern das Menschliche. Eine gute Reisebekanntschaft sei auch ihm wichtiger als Architektur. Er sagte noch viel, aber dies war das Wichtigste. Hiernach habe ich meinen Vier von Venedig verziehen.

Nach so viel Härte, so vielen Unmenschlichkeiten aller Spielarten, die wir in diesem Jahrhundert erlebt haben, sehnen wir uns nach gegenseitiger Hilfe und etwas Bruderschaft im Herzen. Glaube an den Menschen und jene bescheidene Menschlichkeit, die wir im Getriebe des Alltags zu beweisen imstande sind, kann Berge versetzen. Damit soll nicht gesagt sein, daß ein Händedruck genügt. So billig kommen wir nicht davon. Auch ein Händedruck kann die Wirklichkeit nicht überspringen; es müssen auch die realen Lebensmöglichkeiten verbessert werden. Das gerade ist die Wirksamkeit des Marxschen Ethos und der sozialistischen Bewegung, das bleibend Bedeutende an ihnen, daß ihr Humanismus nicht nur eine große und schöne Geste im Allgemeinen und Privaten war und ist, sondern daß es ihnen immer zugleich um die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung geht, die allen einen angemessenen Teil an den materiellen und geistigen Leistungen sichern muß, welche in der Gemeinschaft hervorgebracht werden. Humanismus ohne Wirtschafts-, Sozial-und Erziehungspolitik ist bloße Don-Quichotterie. Aber auch der äußerste Perfektionismus eines Wohlfahrtsstaates, den wir noch lange nicht haben, bliebe unzulänglich. Es geht ohne jene Liebe nicht, von der geschrieben steht, daß einer mit Menschen- und Engelszungen reden könnte, und ohne sie doch nur ein tönendes Erz und eine klingende Schelle wäre. Sozialismus ist nicht nur eine wirtschaftliche und politische Bewegung, sondern, was gerade auch dem jungen Karl Marx deutlich vor Augen stand, eine Bewegung von Menschen, denen es um den Menschen geht, um die Vermenschlichung der Menschen in der Gesellschaft. Von hier bekommen auch Strafrecht und Strafrechtspflege neue Impulse. Sie sind der Reform bedürftig; freilich gilt auch hier der Satz „men, not measures”, und nicht nur manche Juristen, sondern auch die breite Öffentlichkeit sollte versuchen, die Dinge neu zu überdenken.

Unser Strafrecht entstand, bevor die modernen Natur-und Sozialwissenschaften begannen, unser ganzes Denken und Handeln zu prägen. Von moderner Kriminalstatistik, von der Psychiatrie unserer Zeit, von der Psychologie des Bewußten und Unbewußten weiß es wenig. Sicher ist auch unser heutiges Wissen vom menschlichen Handeln dürftig genug, über Bruchstücke kommen wir nicht hinaus. Dies zwingt zu Bescheidenheit und Vorsicht, zu unermüdlichen Bemühungen, mehr und mehr zu erfahren. „Wir müssen mit dem Verbrecher bekannt werden, ehe er handelt”, lesen wir schon bei Schiller. „Wir müssen ihn sein Handeln nicht bloß vollbringen, sondern auch wollen sehen. An seinen Gedanken liegt uns unendlich mehr als an seinen Taten und noch weit mehr an den Quellen dieser Gedanken als an den Folgen der Tat. Man hat das Erdreich des Vesuvs untersucht, sich die Entstehung seines Brandes zu erklären. Warum achtet man nicht in eben dem Grade auf die Beschaffenheit und Stellung der Dinge, welche einen Menschen umgaben?” Schiller fragt nach dem Charakter und dem Milieu des Täters. Die Schwierigkeiten der Fragestellung und die Begrenztheit menschlichen Wissens haben nicht nur die vergangenen Jahrtausende verleitet, sondern verführen auch gerne die Gegenwart dazu, statt den Menschen aus Fleisch und Blut und die Gesellschaft, der er entstammt und die ihn umgibt, zu erforschen, in eine Welt konstruierter Begriffe zu flüchten, die logisch denkbar, aber nicht psychologisch und soziologisch fundiert sind. Plato hat gemeint, wer nach oben gaffend oder nach unten blinzelnd versuche, etwas sinnlich Wahrnehmbares zu erfassen, treibe wissenschaftlichen Unfug, auch seine Seele blicke nicht hinauf zur Höhe, sondern in die Tiefe hinab. Wir lächeln heute über seine Forderung, der Physiker solle auf Beobachtungen verzichten und der Astronom seine Augen von den Sternen abwenden. Die Welt, die sich Plato und alle seine philosophischen Nachfolger mit der reinen Vernunft als Quelle ausdachten, war zwar eines logischen und mathematischen Gottes würdig, sie hat nur der Erfahrung nicht standgehalten. Beobachtungen führen zu keiner Gewißheit (diese ist uns Menschen versagt), nur zu Wahrscheinlichkeiten, aber sie sind keine bequeme und feige Flucht aus der unangenehmen Wirklichkeit, sie sind nachprüfbar und dem Wandel unserer Erkenntnis unterworfen.

Im Strafrecht scheut man viel zu oft die Realität, obwohl es seinem Wesen nach Menschenbehandlung wie die Medizin und Pädagogik ist. Man operiert mit der Tat, nicht dem Täter, seinen Vorzügen und Schwächen. Manchmal hat man den Eindruck, als seien A und B, die in unseren mathematischen Schulaufgaben um die Wette graben, noch mehr aus Fleisch und Blut als die Angeklagten in der Strafrechtspflege; dort gräbt A wenigstens doppelt so viel wie B. Mit Worten wie Schuld und Sühne, an die sich trefflich glauben läßt, wird ein System bereitet. Dabei hat schon Kant, wenn er die jenseitigen Bereiche reiner und praktischer Vernunft mit dem Diesseits vertauschte, gewußt, daß „Verdienst und Schuld uns gänzlich verborgen bleiben”, weil wir nicht wissen, was mit freiem Willen, was kraft Natur, etwa infolge unverschuldeter Fehler des Temperaments, geschieht. Öffentlichkeit und Justiz moralisieren gerne, das ist billig und selbstgerecht. Das Gesetz verbietet, wie Anatole France so schön von dieser blinden Gerechtigkeit meinte, in seiner majestätischen Gleichheit dem Reichen wie dem Armen, unter Brücken zu schlafen, auf der Straße zu betteln und Brot zu stehlen. Es ist einfach, dem Jähzornigen zu sagen, er möge die Gesetze halten; die schwere Aufgabe, die uns gestellt ist, heißt, aus den Jähzornigen Sanftmütige zu machen. Das fordert mehr als den bloßen Klingklang großer Worte. Die Öffentlichkeit reagiert heftig, wenn furchtbare Verbrechen geschehen; der primitive Schrei nach der Todesstrafe ertönt, obwohl ihre Überflüssigkeit nicht nur durch die Kriminalstatistik, sondern auch die Erkenntnis gelehrt wird, daß der Täter an eine Strafe, gleichgültig ob Todes- oder Freiheitsstrafe, in aller Regel überhaupt nicht denkt, sei es, daß er in einem Affekt handelt oder überzeugt ist, seine Tat werde nie entdeckt werden. Stammt die Reaktion der Öffentlichkeit, auch der Ruf nach dem blutigen Henker nicht teilweise daher, daß wir unklar ein Versagen von uns selbst fühlen und bewußt oder unbewußt ein Problem simplifizieren, dem wir nicht gewachsen sind? Noch Xerxes ließ wütend das Meer peitschen, weil es für seine Schiffe zu unruhig war. Wir sollten an die Stelle blinder Leidenschaft ein Bemühen um Verständnis für die Wirksamkeit menschlicher Triebe und für soziale Mechanismen setzen.

Einige reden von Humanitätsduselei und andere jammern, alles verstehen heiße alles verzeihen. Lassen wir uns nicht bange machen. Weder Humanität noch Verzeihen sind teuflische Laster. Aber darauf kommt es gar nicht an. Niemand ist berechtigt, auf ein Verstehen, das ihm möglich ist, zu verzichten, mögen die Folgen sein, wie sie wollen. Das Wissen um die Ursachen der Krankheiten führt zur Vorbeugung und Heilung. Dasselbe gilt für die Kriminalität. Die Maßnahmen, die erforderlich sind, werden noch hart genug sein müssen. Entscheidend muß aber sein, sie dürfen nicht über das Notwendige hinausgehen, sie müssen den Ursachen angepaßt werden. „Die Einstellung der Öffentlichkeit zu Verbrechen und Verbrechern ist einer der unfehlbarsten Tests für die Zivilisation eines Landes. Unermüdliche Anstrengungen, heilende und pädagogische Maßnahmen zu entdecken, und ein nie versagender Glaube, daß, wenn wir nur suchen, im Herzen eines jeden Menschen ein Schatz begraben liegt, sind Zeichen und Beweise für die lebenden Tugenden eines Volkes.” Das Wort stammt von Winston Churchill.

Es ist den Ärzten nicht gelungen, alle Erkrankungen zu heilen, auch Psychopathen sind nicht eben leicht zu normalen Menschen zu machen. Vieles, was an Schrecklichem geschieht, ist aber die Folge von Lieblosigkeiten, die ein Mensch in der Jugend oder auch später erfährt. Manches kann hier gut gemacht werden. Soziale Not kann gebannt, Erziehung und Lehrzeit können nachgeholt werden. Unmenschliche Maßnahmen schaden nur; geprügelte Kinder prügeln wieder; Mord und Todesstrafe sind Zwillinge, sie heben sich nicht auf, sondern pflanzen sich fort.

Es gehört zu den schönsten Erlebnissen meiner Arbeit, daß es gelungen ist, einen Kreis uneigennütziger Männer und Frauen aller Altersklassen und Berufe zu finden, die bereit sind, Menschen, die strauchelten, dabei behilflich zu sein, in der Gemeinschaft wieder Wurzeln zu schlagen. Das erfordert kein Studium großer Wissenschaften, nur das Herz muß auf dem rechten Fleck sein. Gibt es etwas Schöneres, als zu wissen, daß ein junger heimatloser Gefangener am Gefängnistor von einem Menschen erwartet wird, der Vertrauen schenkt und Vertrauen empfangen will, der Kamerad und Freund sein möchte. Er wird für den entlassenen Gefangenen antworten, wenn der Arbeitgeber fragt: Wo sind Sie zuletzt gewesen? Er wird da sein, wenn jene Schwierigkeiten mit der Familie, den Arbeitskameraden und den Ämtern auftauchen, die oft auch einen Menschen, der besten Willens ist, mutlos machen und wieder in die alte Welt zurücktreiben, die er für immer aufgeben wollte. Vor mir liegt der Brief eines jungen Strafgefangenen, der kaum je die Nestwärme einer Familie gespürt, in den Wirren der Kriegs- und Nachkriegszeit Schlimmes gesehen und gehört und zuletzt eine furchtbare Tat begangen hat. Der Brief lautet: „Lieber Herr Generalstaatsanwalt! Sie wissen, wir haben viel Zeit, auch ich habe viel Zeit. In den letzten Tage habe ich mir überlegt, wie ich Sie anreden soll. Sie sind mir sicher nicht böse, wenn ich die obige Überschrift gewählt habe. So ist’s mir ums Herz. Sie haben mir Mut zu machen versucht, und wie Sie von der Welt und den Menschen gesprochen haben, war sehr schön. Aber Sie müssen mir weiterhelfen. Es gibt so viele Dinge, die ich nicht klarbekomme. Warum hat Gott mich auf die Welt kommen lassen? Warum hat er die Tat, meine Tat geschehen lassen? Warum hat er zugelassen, daß Kinder ihren Vater verloren haben? Ich frage und frage . . .” Der Fragen des jungen Hiob sind viele. Ich kann sie nicht beantworten. Ich habe sie dunkel kommen sehen, als ich Jurist wurde. Vielleicht habe ich damals geglaubt, ihrer Herr zu werden. Ich bin es nicht geworden. Wir können aus der Erde keinen Himmel machen, aber jeder von uns kann etwas tun, daß sie nicht zur Hölle wird.

nach oben