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Gewissen oder Staats­ge­walt - wer dient wem?

vorgängevorgänge 7011/1984Seite 46-55

Ansprache bei der Verleihung des Fritz-Bauer-Preises der Humanistischen Union in Bremen am 23. Juni 1984. Aus: vorgänge Nr. 70 (Heft 4/1984), S. 46-55.

Sie haben ausgerechnet mich und damit – etwas personalisierend – die Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen e.V. ausgezeichnet, meinen aber eigentlich diejenigen, die ihrem Gewissen mehr folgen als staatlichem Zwang. Ich möchte deshalb mit der gebotenen Behutsamkeit antworten und versuchen, die Probleme in den Rahmen unserer Arbeit zu stellen, obwohl ich weiß, dass die Opfer andere bringen, die z. T. auch hier sind. Wenn es nötig ist, einen einzelnen auszuzeichnen, weil er in besonderer Weise für Bürger-, Freiheits- oder Menschenrechte eintritt, dann steht es mit diesen Rechten offensichtlich nicht so, wie es sein sollte. Lassen Sie mich bitte den Dank für diese Auszeichnung abstatten, indem ich mit Ihnen nachdenke über einen Teil der Arbeit der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissengsgründen e.V., um derentwillen Sie mich so freundlich auszeichnen und für deren Mitarbeiter ich hier stellvertretend stehe: Ich meine die Gewissensfreiheit und die staatliche Toleranz gegenüber denen, die der staatlichen Mehrheit gewaltfrei aber radikal den Gehorsam aufkündigen – die so genannten totalen KDV. Ich könnte freilich genauso nach dem Asylrecht fragen – gerade im Blick auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts hier in Bremen – oder nach manchem anderen garantierten Recht unserer Verfassung. Wenn ich das als Christ und Pastor scheinbar politisch und juristisch tue, dann setze ich voraus, dass ein Christ vom Recht des Mitmenschen her denkt – d.h. von diesem und seinem Menschenrecht, nicht ideologisch von überholten Obrigkeitsvorstellungen oder gar egoistisch von eigenen Gruppen- oder Institutionsinteressen her. Gerade Jesus von Nazareth hat das deutlich gemacht, indem er die Frage nach dem Nächsten beantwortet mit dem Gleichnis von dem, der unter die Räuber gefallen war. Wer sich in dessen Lage versetzt, weiß, was zu tun ist. Deshalb fragt Jesus von ihm her, wer ihm der Nächste war.

Gewis­sens­frei­heit und Remili­ta­ri­sie­rung

Wie Sie wissen, garantiert das Grundgesetz in den Artikeln 3 und 4 die Gewissensfreiheit und in Artikel 4 Absatz 3 speziell die Freiheit, den Kriegsdienst mit der Waffe aus Gewissensgründen zu verweigern. Diese Freiheiten sind als grundlegende Menschenrechte definiert und stehen dem staatlichen Zugriff nicht zur Disposition.
Was ist aus dem Menschenrecht der Gewissensfreiheit geworden? Weil sie der Remilitarisierung im Wege stand, wurde sie möglichst eingeschränkt. Nur wer »jeden Kriegsdienst mit der Waffe« ablehnt, kann als KDV anerkannt werden. Nur wer sein Gewissen in einem Prüfungsverfahren beweist, neuerdings außerdem durch verlängerten Zivildienst erkauft, kann die staatliche Anerkennung als KDV bekommen. Im Grunde ist es kein Menschenrecht mehr, sondern ein Privileg, das durch staatliche Instanzen verliehen werden kann, wobei sie aber für den Militärdienst einen zusätzlich belastenden Ersatzdienst fordern. Um das zu ermöglichen, wurde insbesondere der Artikel 12 a in das Grundgesetz eingefügt.
Natürlich führt das zu Gewissenskonflikten verschiedener Art. Was soll denn der tun

— der jede Gewalt, sei es aus religiösen, sei es aus anarchistischen Gründen, für Unrecht hält und Ersatz für Unrecht ablehnt?
— der nicht anerkannt wird, obwohl er in seinem Gewissen an Gewaltfreiheit gebunden ist?
— der das unwürdige Prüfungsverfahren ablehnt, weil es seine Persönlichkeitsrechte verletzt und oft sogar die seiner ganzen Umgebung, also von Eltern, Freunden, Lehrern oder Pfarrer?
— der den Preis des verlängerten Zivildienstes nicht zahlen will, weil er Unrecht ist und unter dem Vorwand möglichen Missbrauchs durch andere ausgerechnet die im Grundgesetz geschützte Minderheit selbst belastet und dabei gegen viele Schutzrechte des Grundgesetzes verstößt (Artikel 3; 4; 12; 12a)?
— der die Art des Zivildienstes ablehnt, weil dieser in die Zivilverteidigung einbezogen ist, und weil Verteidigung heute von vornherein vom totalen Krieg ausgeht, den wir mit gutem Grund Ludendorff und Hitler jeweils für die letzte Zeit der Weltkriege als Verbrechen vorwerfen?
— der gar dem Staat des Recht abspricht, eine Wehrpflicht nach dem Muster Bismarcks oder Hitlers zu regeln, oder überhaupt im Atomzeitalter militärische Verteidigung vorzubereiten?
— der die Aufstellung von Ersteinsatzwaffen für unvereinbar mit Artikel 26 Grundgesetz und deshalb für Unrecht hält?

Es ist unbestreitbar, dass die skizzierten Gründe zur Ablehnung von Wehr- oder Zivildienst Menschen im Gewissen so binden, dass kein Gesetz, kein Zwang, keine Strafe das ändert. Eine große Rolle spielt dabei, dass viele soziale Dienste heute auch militärisch im Krieg eingeplant sind, weil Atomkrieg etc. notwendig als »totaler Krieg« vorbereitet wird. Eine große Rolle spielt auch, dass der totale Kriegsdienstverweigerer schon im Frieden gegen jede kriegerische Einplanung demonstrieren will. Natürlich ist das ethischer Rigorismus – aber ist das nicht zugleich angesichts einer immer verrückteren und verbrecherischen Kriegsplanung berechtigt und etwas Großartiges? Ist es nicht oft die Folge einer Erziehung, die aus NS-Zeit und Zweitem Weltkrieg etwas lernen wollte? Viele mehr oder weniger gute Gründe führen jedenfalls zur Gewissensentscheidung gegen die staatliche Rüstung und Kriegsvorbereitung und damit zur radikalen, zur »totalen« Verweigerung staatlichen Kriegszwangsdienstes, manchmal mit, manchmal ohne KDV-Anerkennung. Natürlich denkt nur eine Minderheit so. Wäre das nämlich die Mehrheit, würde der Militärdienst abgeschafft – man würde mit anderen Mitteln Politik machen und Frieden und Menschenrechte zu sichern suchen.
Hier kann es zum Konflikt kommen. Die Mehrheit ist – aus welchen Gründen auch immer, das kann ich jetzt nicht untersuchen, es sind teilweise sehr problematische – für Militär und fühlt sich befugt zur Verpflichtung aller Bürger und Bürgerinnen zur Mitarbeit (notfalls auch zur erzwungenen). Die Minderheit weiß sich im Gewissen gebunden, anders zu handeln – übrigens die typische Formel für Freiheit wie bei Luther: »Ich kann nicht anders« sagt der, der sich in Wahrheit von der Fremdbestimmung durch Mehrheit und Tradition freimacht! — Die Minderheit also denkt und handelt frei von Überliefertem, sie versucht das zu erklären mit diesen Worten »Ich kann nicht anders«. Sie beruft sich auf ihr Gewissen, auf die Garantie der Gewissensfreiheit im Grundgesetz und in vielen Menschenrechtsvereinbarungen und fordert Toleranz und Beachtung ihrer Menschenrechte von der Mehrheit. Sie hält der Mehrheit die Verfassung vor, an die die Mehrheit sich gebunden hat, und verlangt deren Beachtung. Doch was tut die Mehrheit? Erinnert sie sich an die Bedeutung dieser Menschenrechte als Antwort auf die Verbrechen der NS-Zeit und des Zweiten Weltkrieges? Oder diffamiert und verfolgt sie Pazifisten, besonders radikale und angeblich »unechte«? Ich will nicht wieder an die ungeheuerlichen Aussagen von Minister Dr. Geißler erinnern, sondern lieber ein repräsentatives Zitat für unsere große Mehrheit nennen. Bundespräsident Prof. Carstens sagt in der »Zeit« in dieser Woche: »dass ich Respekt habe vor denen, die der Friedensbewegung angehören, insbesondere auch Respekt vor den Wehrpflichtigen, die aus Gewissensgründen den Wehrdienst verweigern und dafür den Ersatzdienst leisten. Der Nachsatz gehört unbedingt dazu.« Hier ist mit Händen zu greifen, dass die Bejahung des staatlichen Zwangsdienstes zum Kriterium des »Respektes« gemacht wird.

Konflikt­fälle sind die notwendige Folge:

Vielleicht darf ich kurz einige typische Fälle berichten:
Thomas Hansen ist der bekannte Präzedenzfall für die neueste Entwicklung: – als KVD in 3 Instanzen nicht anerkannt, einberufen zur Bundeswehr, verweigert, bestraft, erneut einberufen, weiter verweigert, erneut bestraft – inzwischen nach 2/3 Strafverbüssung entlassen (Strafe insgesamt 10 Monate), Verfassungsbeschwerde gegen die Doppelbestrafung nicht angenommen. Wer wundert sich, dass er inzwischen ein »totaler« Kriegsdienstverweigerer ist?
Hubert Kappelhoff im KDV-Verfahren über dieses und über die militärische Einplanung des Zivildienstes so empört, dass er nach der Ablehnung durch die Prüfungskammer das weitere Verfahren ablehnte, einberufen, verweigert, bestraft, erneut einberufen, weiter verweigert, erneut bestraft – wartet auf die Aufforderung zum Strafantritt (Strafe insgesamt nach Bildung einer Gesamtstrafe 12 Monate, wobei 42 Tage Arrest nicht angerechnet wurden, weil die damit bestraften Einzeltaten nicht in die Anklage einbezogen waren.)
Christian Herz: Anerkannter Kriegsdienstverweigerer, Zivildienstverweigerer, arbeitet statt dessen freiwillig ohne Bezahlung bei der Deutschen Friedensgesellschaft/ Vereinigte Kriegsdienstgegner Baden-Württemberg, wegen Dienstflucht verurteilt zu 6 Monaten Freiheitsentzug, ausgesetzt auf 3 Jahre Bewährung mit der Auflage, 60 Tage in einer orthopädischen Klinik zu arbeiten. Aus dem Zivildienst nicht entlassen, d.h. er kann erneut zum Dienst aufgefordert und bei weiterer Weigerung erneut verurteilt werden.
Thomas Schindowski: im Zivildienst zu der Überzeugung gekommen, dass Zivildienst als Kriegsdienst ohne Waffen nicht zu verantworten ist, Zivildienst abgebrochen, bestraft (6 Monate, ausgesetzt auf Bewährung), erneut zum Zivildienst aufgefordert, verweigert weiter, nach erheblichem Hin und Her mit zweimaligem Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichtes erneut bestraft (8 Monate ohne Bewährung), Verfassungsbeschwerde gegen Doppelbestrafung nicht angenommen.
Juri Hertel – radikaler Anarchist, der jeglichen staatlichen Zwangsdienst und alles, was damit zusammenhängt, zumindest in den Industriestaaten von vornherein ablehnt – inzwischen zu 18 Monaten Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt, zeitweise nach Holland geflohen, dort verhaftet, für die Reststrafe ausgeliefert, z. Zt. in Haft.
Jorge Robles Acunja de Ponseti – gewaltfreier Anarchist, KDV-Verfahren nicht mitgemacht, Antrag aus Protest vor der Prüfungskammer zurückgenommen, befolgt die Einberufung zur Bundeswehr nicht, macht statt dessen eine Kabarett Tournee über KDV und eine Hochzeitsreise nach Italien, teilt der Polizei mit, wann er Info-Stand in Hannover hat. Dort Verhaftung, U-Haft in Stade, Verurteilung zu 6 Monaten (mit Bewährung), von der Bundeswehr nicht entlassen, z. Zt. im Arrest in der Kaserne in Stade, 2. Strafverfahren angekündigt.

Alle Genannten verweigerten und verweigern nunmehr jeglichen Wehr- oder Ersatzdienst, obwohl sie mit Strafe bedroht wurden oder werden. Auch das Gefängnis hat ihre Gewissensentscheidung nicht verändert. Sie berufen sich auf ihr Gewissen und sind überzeugt, damit dem Friedensauftrag des Grundgesetzes besser zu entsprechen als die Mehrheit. Müssten wir das nicht anerkennen oder mindestens akzeptieren? Wir tun es nicht und müssen gleich weiter darüber nachdenken.
Zuvor ein kurzer Zwischengedanke: Was wir zur Zeit im angeblichen Interesse des Staates mit der Alternative Zwangsdienst oder Strafe praktizieren, läuft auf eine andere Form des Abbaus staatlicher Autorität hinaus: Wer um seines Gewissens willen damit bedroht wird, mindestens ein Jahr hinter Gitter zu müssen, hat nur einen Ausweg: Die Flucht, die Emigration. Auf diese Weise hat Deutschland seit Jahrhunderten seine aktivsten demokratischen, kritischen, selbst verantwortlichen, gewissensgebundenen und pazifistischen Bürger verloren und ist beim Untertanenstaat Bismarcks und dem Verbrecherstaat Hitlers gelandet. Das darf sich nicht wiederholen. Die Wirklichkeit aber ist, dass Tausende nach Berlin oder ins Ausland geflohen sind, viele nach der ersten Bestrafung, noch viel mehr, um ihr und der Einberufung zu entgehen.

Gewis­sens­frei­heit und Militär­tra­di­tion

Was soll die Mehrheit mit denen tun, die sich ihrem militärischen Handeln radikal verweigern?
Idealtypisch und von den Anfängen der Demokratie her dürfte die Mehrheit gar nichts gegen diese Minderheit tun, sondern müsste ihr gegenüber ihre Toleranz bewähren. Am Anfang der demokratischen Bewegung und der Aufklärung standen nämlich die Forderung nach der Abschaffung der stehenden Heere der Regierenden – damals der Fürsten – , die Volkserhebung (levée en masse) und die allgemeine Volksbewaffnung. Wer da nicht mit Waffen mitmachen wollte, machte eben unbewaffnet mit; die Abschaffung der fürstlichen Söldnerbanden und die Absetzung der Fürsten, bzw. die Proklamation der eigenen demokratischen Unabhängigkeit in Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit konnte er gleichwohl mit verantworten und mitgestalten, vor allem in den USA. Erst die Verfälschung dieser Freiheitsbewegung zum Eroberungskrieg führte in Frankreich zur Wehrpflicht.
Wie weit wir in Deutschland von diesem Anfang der Demokratie – im Osten wie im Westen – entfernt sind, weiß man, wenn man sich ansieht, wie das Militär heute noch die Formen der fürstlichen Söldnerbanden bewahrt hat, von der Vereidigung bzw. dem
feierlichen Gelöbnis mit magischer Berührung der Fahne über das harte Militärstrafrecht bis hin zum pseudoreligiösen großen Zapfenstreich bei uns und drüben bis hin zum Paradeschritt der Nationalen Volksarmee, dem uralten Sinnbild der sinnlosen militaristischen Ausschaltung jeder eigenen Verantwortung, die man an die Führer abtrat. Ich weiß nicht, ob Sie in der Humanistischen Union nachvollziehen können, wenn ich sage, dass das alles für mich als Christenmensch im strengen Sinne gotteslästerlich ist. Einig sind wir uns sicher, dass das undemokratisch und ganz bestimmt nicht freiheitlich ist. Aber nicht nur der Missbrauch, sondern auch die scheinbar demokratische Mehrheitsentscheidung, die über die Gewissen, über Menschenrechte hinweg geht, ist Unrecht. Die alten Mahnungen von Adolf Arndt sollten nicht in Vergessenheit geraten. Grundrechte stehen nicht zur Disposition, Artikel 12a Grundgesetz ist geringeres Recht als Artikel 1 und 4.

Recht und Gesetz des Staates

Doch wir wollen einmal die demokratische Utopie von einem gewaltfrei-demokratischen, selbst verantwortlichen und deshalb – um an Ulrich Klugs Aufsatz in der Ziegenrücker-Festschrift anzuknüpfen – idealtypisch anarchistischen Zusammenleben außer acht lassen. Ebenso mögen die Klage über die immer noch wirksame deutsche militaristische Obrigkeitstradition oder die ständigen Ängste vor Chaos und Unruhe bei den Konservativen auf sich beruhen. Gehen wir also rechts positivistisch davon aus, dass der Verweigerer des Wehr- und Ersatzdienstes wegen des Remilitarisierungsartikels 12 a (früher 12) Grundgesetz von Staats wegen zum Ersatzdienst verpflichtet und mit seiner totalen gewissensgebundenen Kriegsdienstverweigerung demnach nicht mehr geschützt ist. Das bedeutet, dass er sich also strafbar macht, dass er sich aber ansonsten wie jeder Bürger auf das Grundgesetz berufen kann. Wie dürfte er dann bestraft werden?

1. Da es um eine gewissen bedingte Straftat geht, ist die Bindung des Gewissenstäters an sein Gewissen wohlwollend zu berücksichtigen. Er muss also besser gestellt werden als der vergleichbare Täter, der aus unehrenhaften Motiven handelt. Wenn die Gewissensbindung dagegen straf verschärfend als Hartnäckigkeit oder Bosheit gewertet wird, ist das Unrecht.

2. Da die Gewissensbindung eine durchgehende einheitliche Handlungsweise zur Folge hat, darf der Gewissenstäter höchstens einmalig für seine Tat bestraft werden. Er kann Artikel 103 Grundgesetz für sein Tun in Anspruch nehmen (Doppelbestrafung derselben Tat ist verboten). Das gilt auch für politische Gewissen, auch wenn selbst Verfassungsrichter das Gegenteil sagen. Auch Papst und Konzilien können bekanntlich irren, und die Verfassungsrichter sind an die frühere bessere Einsicht des hohen Gerichts zu erinnern.

3. Soweit der Verweigerer nicht vorbestraft ist, hat er wie jeder andere (wegen des Wohlwollensgebotes sogar noch eher als jeder andere) nicht vorbestrafte Gesetzesübertreter mit vergleichbarem Strafmaß Anspruch auf die Aussetzung der Strafe zur Bewährung. Dabei darf seine Gewissensentscheidung nicht negativ für die Sozialprognose gewertet werden.

4. Auch wer im KDV Verfahren, in dem er selbst die Beweislast hat, nicht als Verweigerer anerkannt worden ist, hat im Strafverfahren darauf Anspruch, dass seine Gewissensentscheidung im Zweifel akzeptiert und also für ihn gewertet wird – unabhängig vom vor gängigen KDV-Verfahren.

5. Ebenso gilt das natürlich für die Gewissensentscheidung des Zivildienstverweigerers im Falle eines Strafverfahrens, falls das Bundesamt für den Zivildienst ihm nicht den Dienst nach § 15a Zivildienstgesetz zubilligt.

6. Auch die politischen Verweigerer haben wie die Zeugen Jehovas, die nicht von § 15a ZDG Gebrauch machen, spätestens nach der ersten Strafe Anspruch auf Entlassung aus der Bundeswehr oder dem Zivildienst.

Schon eine einmalige Bestrafung mit einer Geldstrafe oder mehreren Monaten Freiheitsstrafe ist – auch bei Aussetzung der Strafverbüssung zur Bewährung – außerordentlich belastend. Was bedeuten allein die Anwalts- und Gerichtskosten mehrerer Verfahren durch viele Instanzen für junge Menschen in oder unmittelbar nach der Ausbildung – oft über 10.000 DM? Die Vorstrafe gar mindert die Berufschancen radikal – zumal angesichts der heutigen Arbeitslosigkeit. Viele Berufe sind dann ganz verschlossen. Oft kommt es zusätzlich zu dramatischen Konflikten mit der eigenen Familie oder bisherigen Freunden oder der Freundin.
Das alles aber reicht dem Verteidigungs- und dem Jugendminister nicht als Strafe. Sie fordern mindestens 12 Monate hinter Gittern, als ob sie wie die Gerichte über die Höhe der Strafen oder wie der Gesetzgeber über eine Amnestie oder wie die Ministerpräsidenten über Gnadenerweise zu entscheiden hätten. Häufig gelingt es ihnen, und sie erreichen dieses Strafmaß durch die verweigerte Entlassung und die Willfährigkeit der Gerichte, die trotz Artikel 3, Artikel 4 und Artikel 103 Grundgesetz erneut bestrafen. Ich kann das nicht anders sehen, als dass dadurch Menschen in ihrem Gewissen und damit in ihrer Menschenwürde zerbrochen werden. Sie werden einer falschen, militaristischen Staatsräson geopfert. Weil wir von 1933 bis 1945 herkommen – die Älteren erinnern sich: »Du bist nichts – dein Volk ist alles!« – gerade deshalb gilt es, hier für die Würde des Menschen einzutreten. Artikel 1 Grundgesetz sagt: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Darum geht es. Deshalb habe ich geschildert, was denen angetan wird, die sich so radikal verweigern.
Man könnte viele derartige Beispiele benennen, auch zusätzliche Schikanen. Nur ein kleines, aber besonders krasses Beispiel: Jorge Robles de Acunja Ponseti durfte in der U-Haft in Stade mit seiner spanischen Frau weder spanisch reden noch ihr einen Kuss geben. Die Gerichtsverhandlung wurde – wissend – so angesetzt, dass sein Anwalt den Termin nicht wahrnehmen konnte. Überhaupt wurde U-Haft angeordnet, obwohl er sich selbst gestellt hatte. Unrecht über Unrecht in dem »freiheitlichsten Staat, den wir je hatten« – oder wie die Sonntagsredner der Regierung das sonst sagen. Inzwischen hat Herr Ponseti übrigens auch schon seine erste Verurteilung zu 6 Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung; die Bundeswehr hat ihn nicht entlassen, versucht ihn also in eine neue Strafe zu treiben. Er sitzt bereits wieder im Arrest.

Die Überhöhung des Staates

Aber lassen wir die Beispiele besonders problematischer Gerichte in Garnisonstädten beiseite. Schon die schweren Strafen überhaupt, die häufig verweigerten Strafaussetzungen zur Bewährung, die verweigerten Entlassungen aus der Bundeswehr oder dem Zivildienst, die Doppelbestrafungen, die erfolglosen Verfassungsbeschwerden zeigen mehr als genug: Hier hat unser Rechtsstaat sein eigenes Recht mit Füßen getreten, seine Verfassung gebrochen, seine Toleranz, seine Verpflichtung auf die Grundrechte, seine eigentliche freiheitliche Staatsräson verlassen. Die Instanz, die vor allem zur Hilfe verpflichtet ist, das Bundesverfassungsgericht, also der Zweite Senat, entzieht sich ihrer Aufgabe unter offener Missachtung der eigenen bisherigen Rechtsprechung des Gerichts (vgl. BVerfGE 23, 191 ff.), über die der Dreierausschuss in mehreren Fällen einfach hinweg gegangen ist.
Wie ist das möglich? Offensichtlich handeln die Mehrheit und ihre Staatsorgane nicht mehr im Rahmen der Bindung an Recht und Gesetz, sondern verfolgen Anders denkende im Namen des von ihnen in den metaphysischen, den Glaubensbereich erhobenen Staates. So haben die fürstlichen Hoheiten bei ihren Untertanen Majestätsbeleidigung und Insubordination verfolgt, weil sie sich mit dem Staat gleichsetzten. Nur ist an die Stelle der nach dem Ersten Weltkrieg mit Schimpf und Schande verjagten Hoheiten eine abstrakte hypostasierte Staatshoheit getreten. Nicht ohne Grund haben die ersten Christen die Kaiseropfer abgelehnt. Sollen wir heute den Staat erneut »heilig«, »ewig«, »über alles« nennen? Wer so handelt, macht den Staat zum Götzen und durch die Umkehrung des Artikel 1 Grundgesetz das Recht zur Hure. Ein reaktionärer Zyniker würde sagen: Viel schlimmer, das alles ist sogar falsch und dumm, denn so macht man Märtyrer, und die sind ansteckend. Deshalb waren die Fürsten hinterher in der Praxis oft großzügig mit Amnestie oder Gnadenerweisen. Aber das kann nicht freiheitliche, kann nicht unsere Argumentation sein. Wir fordern das, was das Grundgesetz verspricht: Achtung vor dem Gewissen und der Würde des Menschen, Einhaltung der freiheitlichen rechtsstaatlichen Normen unserer Verfassung. Dabei sind wir überzeugt, dass die Achtung der
Menschenrechte und Toleranz die notwendige Entsprechung zur Friedenspolitik nach außen ist. Ohne Frieden und Toleranz wäre äußerer Friede unglaubwürdig.
Man ist versucht zu fragen, ob die staatliche Überreaktion aus dem schlechten Gewissen der Regierenden kommt. Können sie nicht mehr menschlich reagieren? Fühlen sie sich im Unrecht gegenüber der menschlichen Sensibilität, der Offenheit, der Mitmenschlichkeit der Verweigerer? Zweifeln sie an sich selbst? Haben sie Ängste ohne Waffen oder bekämpfen sie die Zweifel an dem eigenen Mitmachen im verbrecherischen Zweiten Weltkrieg?
In der Regel heißt es zur Erklärung, der parlamentarisch-demokratische Staat schütze die Menschenrechte und müsse dafür stark sein. Ist das richtig oder wenigstens eine sachlich vertretbare Position?
Zunächst einmal werden die Menschenrechte durch solche Überreaktion bereits missachtet, also nicht geschützt. Dazu ist staatliche Härte in Deutschland im 20. Jahrhundert eine fragwürdige Sache schon deshalb, weil von den kaiserlichen Kolonial- und Ausrottungskriegen gegen die Hereros und Hottentotten über den mutwillig angezettelten Ersten Weltkrieg, die Unterstützung der antidemokratischen militärischen Putschisten im spanischen Bürgerkrieg bis zum Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust eine unheimliche Reihe staatlicher Verbrechen die deutsche Politik bestimmt. Wäre man nicht gerade in Deutschland auf einen »militärisch starken« Staat aus gewesen, sondern jeweils den Pazifisten gefolgt, so hätten viele Millionen von Soldaten und Zivilisten aus aller Welt ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre Heimat, ihre Angehörigen behalten. Staat und Staatsgebiet und Recht und zahllose eigene Bürger hat bei uns »der Staat«, der militärisch starke Staat, mörderisch selbst zerstört.

Die Grenzen der Staat­lich­keit – oder die Pflicht zum Frieden

Aber nicht nur das. Die weltweite Waffenentwicklung hat es unmöglich gemacht, heute noch »Verteidigung« zu praktizieren. Es gibt zwischen Atomkraftwerken und Mammut-Chemiewerken keinen »konventionellen« Krieg mehr. Es gibt mit Flächenbrand und Splitterbomben, A-, B- oder C -Waffen keinen Krieg mehr, der nicht in absolut unvertretbarer Weise Unbeteiligte, Alte, Kranke, Frauen und Kinder, Neutrale und selbst kommende Generationen verbrennen, verseuchen oder vergiften würde. Krieg darf nicht mehr sein. Krieg ist nach allen Regeln der christlichen und humanitären Tradition des Abendlandes unter keinen Umständen mehr vertretbar. Wer anderes sagt, kennt entweder die alten einschränkenden Lehren vom denkbaren »gerechten« Krieg oder die modernen Vernichtungspotentiale nicht oder lügt wissentlich. Überhaupt ist zu fragen, ob Staaten – auch Bündnisse von Staaten – nicht längst soviel von ihrer Souveränität und ihren Möglichkeiten verloren haben, dass ihr Kriegsführungsrecht absolet, also längst überholt und die Berufung darauf heute nur noch atavistisches pseudomännliches Primitivverhalten ist.
Lassen Sie mich deshalb an die, die den »Staat« oder irgendeine Ideologie und das dahinter stehende Bündel von Staaten so abgöttisch verehren, dass sie dafür weiterhin Hekatomben von Menschen – heute sagt man »Megatote« und meint Millionen – opfern wollen, die Frage richten: Ist Abschreckung durch militärische Friedenssicherung ohne Bereitschaft zum Krieg möglich? Sicher nicht – sonst wäre es keine Abschreckung. Welcher noch so bedeutende Staat oder welche Staatengruppe kann aber einen großen Krieg überleben, falls die Abschreckung einmal versagt?
Wer heute nach den souveränen Einzelstaaten und ihrem Recht zur kriegerischen Verteidigung fragt, fragt nach einer gescheiterten Organisationsform der Menschheit. Dabei braucht man noch nicht einmal weiterzufragen nach der Unfähigkeit der Staaten, die Ausbeutung der Ressourcen, die Umweltvergiftung, die sozialen Ungerechtigkeiten oder die multinationalen Konzerne weltweit in den Griff und in eine gerechte Ordnung zu bekommen. Die Frage nach Rüstung und Krieg reicht zum Urteil über das Scheitern der souveränen Staaten.
Deshalb müssen wir neu beim einzelnen Menschen einsetzen, bei seiner Würde, seinem Recht, seinem Gewissen und beim Miteinander der Menschen. Im Konflikt zwischen der radikalen Verweigerung und der mörderisch und selbstmörderisch gewordenen militärischen staatlichen Gewalt müssen wir deshalb auch neu einsetzen und nach neuen gewaltfreien Formen menschlicher Organisation in einer »Weltinnenpolitik«, wie es C. F.v. Weizsäcker einmal formulierte, suchen – radikaler noch als selbst beim deutschen Neuanfang nach 1945, für den der Name des großartigen hessischen Generalstaatsanwaltes Fritz Bauer steht.
Freiheit für die Gewissen ist dazu ein notwendiger Schritt. Achtung vor abweichenden Gewissensentscheidungen und radikales Bemühen um Frieden sind die allerersten Voraussetzungen. Am Umgang mit denen, die heute schon diesen Neuanfang radikal suchen und den Staat entsprechend radikal in Frage stellen, muss sich erweisen, ob wir zum Frieden bereit sind und die große pädagogische Bedeutung des Artikels 4 Grundgesetz verstanden haben. Die Frage ist, wie wir dieses Engagement positiv aufnehmen als Friedensdienst – nicht wie wir es bestrafen.

Kleine Schritte

Will man das allerdings über die vorher angesprochenen rechtsstaatlichen Grundforderungen hinaus in weitere konkrete gesetzliche Bestimmungen umsetzen, so merkt man, wie schwierig das ist. Immerhin lässt sich einiges sagen: Nötig und möglich sind schon jetzt

— die Anerkennung von Gewissensentscheidungen ohne inquisitorische Prüfung oder »lästige Alternative«;

— die Herausnahme des Zivildienstes aus allen Verteidigungsplanungen und aus dem Wehrrecht mit Befehl und Gehorsam etc.

— die Umgestaltung des Zivildienstes zu einem wirklichen Friedensdienst;

— die Ermöglichung freier und staatsunabhängiger Friedensdienste im Stil des freien Arbeitsverhältnisses (§ 15a ZDG) oder der Entwicklungshilfe (§ 14a ZDG) ohne zusätzliche Erschwernisse zeitlicher oder sonstiger Art, wie es etwa die »Kooperative für Friedensarbeit in Selbstverwaltung« fordert, und wie es schon oft diskutiert worden ist im Rahmen eines eventuellen Freiwilligengesetzes;

— eine Amnestie, die bisheriges staatliches Unrecht beendet und den Rechtsfrieden wieder herstellt:

— Bis das erfolgt ist, ist Hilfe durch Gnadenerweise im Einzelfall nötig, um wenigstens die schlimmsten menschlichen Folgen bisherigen Unrechts zu verhindern.

Solche kleinen innerstaatlichen Schritte können das Problem freilich nicht lösen, sondern allenfalls gewisse Erleichterungen schaffen. Das Ziel – zugegeben das ferne Ziel – ist, dass alle Menschen Brüder und Schwestern sind, wie es die großen Religionen ebenso sagen wie die Aufklärung des vorigen Jahrhunderts. Es gibt viele gute Ansätze im Völkerrecht und in weltweiten Organisationen zur Relativierung der staatlichen unbeschränkten Souveränität. Wir leben in einer Welt und können uns Staaten, die Krieg führen, nicht mehr leisten. Erst wenn die Menschen jede Regierung, die von Krieg oder Verteidigung oder Rüstung redet, ebenso auslachen wie die Bremer oder Hamburger ihren Senat auslachen würden, wenn er etwa zum Krieg gegen Hannover aufrufen würde (was vor 100 Jahren noch durchaus denkbar war), erst dann leben wir in einer friedlichen Welt.

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