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Die Kunst kein Querulant zu sein

vorgängevorgänge 7403/1985Seite 36-39

Aus: vorgänge Nr. 74, Heft 2/1985, S. 36-39

I.

Das Wort »Querulant« ist ein Kampfbegriff. Man kann dies schnell daran erkennen, dass sich kein Querulant selbst als Querulant bezeichnet. Einige spielen zwar mit dieser Vokabel. Dies ist jedoch ein sicheres Anzeichen dafür, dass sie es nicht sind, denn sie vermögen noch, sich über sich selbst und den Streit, in den sie verwickelt sind, mit ihren Gedanken zu erheben. Das Wort »Querulant« wird verwandt, um den Gegner zu treffen, selten im unmittelbaren Angriff, sondern eher mittelbar, um die Zuschauer des Konflikts davon zu überzeugen, dass der Gegner nicht ernst zu nehmen sei, dass man nicht auf ihn zu hören brauche. Gelingt es, die Zuschauer davon zu überzeugen, dass der Gegner ein Querulant ist, wird er wehrlos. Jedes von ihm gebrachte Argument bekräftigt nur noch den Vorwurf der Querulanz.

Wenn man versucht, den Begriff des Querulanten seines diskriminierenden Beiwerks zu entkleiden, so wird man den Querulanten als einen Menschen kennzeichnen können, der ein wirkliches oder vermeintliches Recht mit dem Anspruch auf eine höhere Moral und einem dem Anlass nicht angemessenen Einsatz durchzusetzen sucht.

Am Anfang der Querulanz steht eine misslungene Konfliktlösung. Früher, in der guten alten Zeit wurden Konflikte durch die Übermacht des einen Kontrahenten über den anderen und letztlich durch Gewalt entschieden und sei es auch nur der im Duell sublimierten Gewalt. Da der Gewalt keine Moral innewohnt, konnte diese Streitentscheidung auch keine moralischen Grundsätze verletzen.

Heute ist die Gewalt domestiziert. Der Staat hat für sich ein Gewaltmonopol errichtet und verwaltet es nach allein von ihm aufgestellten Regeln mit dem Anspruch auf Gerechtigkeit durch seine Abgeordneten, Beamten und Richter.

Dieser Anspruch auf Gerechtigkeit aber kann nur selten eingelöst werden. Die Regeln, in ein oft schwer überschaubares System von Gesetzen und Verwaltungsanordnungen eingebaut, sind nicht gerecht und können es nicht sein. Der Satz, dass derjenige, der das Kreuz in der Hand hält, sich zu allererst selbst segnet, gilt noch heute. So denken die Architekten der Gesetze und Verordnungen zu allererst an sich selbst. In der parlamentarischen Demokratie grapschen zwar viele Hände nach dem ihre Interessen segnenden Kreuz, der Segen verteilt sich deshalb auch auf mehr Köpfe, aber eine gleichmäßige Gerechtigkeit ist in niemandes Sinn.

Das Alles wäre leichter zu ertragen, wenn unsere Gesetzgebungsmaschinerie nicht von einer Weihrauchwolke der Selbstgerechtigkeit umgeben wäre. Die Propagandisten unseres Staates glauben ihm zu dienen, wenn sie den Deutschen Bundestag mit der Gloriole von Weisheit und Gerechtigkeit umgeben, obwohl jedermann weiß, dass er sie nicht verdient hat und vielleicht nicht einmal erstreben sollte, wenn er seiner politischen Aufgabe gerecht werden will. Das Pathos des Oberkonsistorialrats a.D. Gerstenmeier und die Ölspur des Gerichtsreferendars a.D. Barzel mögen als ungute Beispiele genügen.

Die Mehrzahl unserer Bürger hält es wie die deshalb auch von ihnen gewählten Abgeordneten. Sie weiß, dass Klappern zum Handwerk gehört und durchschaut mit wissendem Lächeln zufrieden das System. Sie weiß ihre Vorteile zu nutzen. Eine ganze Industrie von Rechtsanwälten, Steuerberatern und Experten aller Art hilft ihr dabei; die Großfirmen haben eigene Abteilungen zu diesem Zweck eingerichtet.

II.

Doch bei nicht wenigen fällt der öffentliche Anspruch auf Gerechtigkeit auf fruchtbaren Boden und lässt ihr Gefühl für Gerechtigkeit sprießen; ob ins Kraut oder ins Unkraut ist oft nur eine Frage des Standpunkts. Allemal verlassen diese Menschen den Kreis der Masse, der sich, in dem aus Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit gemischten System stets den eigenen Vorteil suchend, behaglich eingerichtet hat, — sie werden zu Außenseitern. Von diesen Außenseitern lebt die Gesellschaft. Sie sind es, die immer wieder den Anspruch der Gesellschaft auf Gerechtigkeit einklagen, so verhindern, dass die allgemeine Selbstsucht überhand nimmt und so — oft ohne es zu wissen — das von ihnen kritisierte System stabilisieren. Viele große politische und künstlerische Leistungen haben hier, in dem Kampf für Gerechtigkeit und eine bessere Welt ihren Ursprung.

Die Geschichte der Arbeiterbewegung ist ohne die Idee der sozialen Gerechtigkeit nicht zu denken. Die Tatsache, dass eine Idee die Triebfeder war, erklärt, dass es nicht als Widerspruch empfunden wurde, wenn viele hervorragende Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung — Marx, Engels, Lassale — selbst keine Arbeiter waren. Dieser Ursprung der Arbeiterbewegung erklärt auch die Schwierigkeiten, die sich mit ihrem zunehmendem Erfolg einstellten und die sonst paradox erscheinen müssten. Der Abbau der sozialen Ungerechtigkeiten und die Integration der Arbeiterbewegung in das System des Staates müssen zwangsläufig ihre Schubkraft mindern.

Die Kunst des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts ist bis in die Gegenwart hinein ein Kampf für eine bessere Welt. Sicherlich gab es auch eine von den Mächtigen gekaufte Kunst; doch sie will uns heute fade erscheinen und ist weitgehend vergessen. Geblieben ist eine Kunst, die nach neuen Ufern ausschaut und ein Lebensgefühl ausdrückt, das nicht das ihrer Zeit war. Heute müssen wir schon daran erinnert werden, dass die Maler der »Brücke« oder die Maler in Worpswede — um wahllos Beispiele zu nennen — in ihrer Zeit Außenseiter waren. Die »verbrannten Dichter« erscheinen uns heute schon als Klassiker der Moderne.

Diese zwei Beispiele mögen genügen, um die Unentbehrlichkeit der Außenseiter für die gesellschaftliche Entwicklung aufzuzeigen. Ich brauche kaum zu belegen, dass vergleichbare Auseinandersetzungen auch heute stattfinden und dass die Inhaber staatlicher Macht zwar in Sonntagsreden sich in die Tradition der Außenseiter von gestern stellen, gleichzeitig aber auf Kritik der Außenseiter von heute dünnhäutig reagieren. Noch harmlos hat dies Bundeskanzler Kohl ausgedrückt, wenn er sagt, er lasse sich seine Lebensfreude nicht durch Kritik vergällen. Das Abreißen von Plakaten des Graphikers Klaus Staeck in der Parlamentarischen Gesellschaft in Bonn durch den jetzigen Bundestagspräsidenten Jenniger erinnert dagegen schon peinlich an die jüngste Vergangenheit.

Uns interessiert an dieser Stelle aber kaum die Befindlichkeit der kritisierten Mächtigen, sondern die Frage, wie sich die Außenseiter der Gesellschaft in ihrer Rolle zurechtfinden. Wie vermögen sie als Außenseiter zu leben, ohne Querulanten zu werden, sie, die allemal den Keim der Querulanz in sich tragen. Es sind zwei Dinge, die Schutz gewähren, der Glaube, für eine höhere Idee zu stehen und die Einbettung in Partnerschaft und Freundschaft.

Der Einsatz für eine höhere Idee ist ein entscheidendes Kriterium und der Punkt, an dem sich der Außenseiter deutlich vom Querulanten unterscheidet. Die Idee lebt nur aus der Kraft derer, die sie in die Welt hinaustragen. Gleichzeitig hilft sie ihnen, den Blick zu den Sternen zu erheben. Die Schar der Gegner schrumpft schnell in den dann sichtbaren Weiten. Gleichzeitig immunisiert die Idee gegen die Schmerzen der Wunden, die die Gegner zu schlagen wissen. Die religiösen Märtyrer aus längst vergessenen Jahrhunderten bis zu den von der Nazijustiz ermordeten Zeugen Jehovas mögen als Beleg dienen.

Ein zweiter Schutzwall um den Außenseiter, der ihn vor dem Abgleiten in die Querulanz schützt, wird von Partnerschaft und Freundschaft gezogen. Oft erkennt man diese Einbindung in Partner- und Freundschaft erst auf den zweiten Blick. In Krisensituationen wird sie jedoch allemal sichtbar. Viele Abschiedsbriefe der von den Nazis Hingerichteten mögen hier als erschütternder Beleg dienen.

Freundschaft und Partnerschaft haben eine doppelte Funktion:

Kaum ein Außenseiter ist so stark, dass er allein bestehen könnte. Gerade seine oft übergroße Sensibilität braucht die Bestätigung, auf dem richtigen Weg zu sein. Es gibt nur wenige, die ihren Weg allein zu gehen vermögen. Die Betonung der Solidarität in der Arbeiterbewegung und das genossenschaftliche »Du« — von Außenstehenden oft verlacht — sind sicherlich ebenso wenig ein Zufall, wie die früher zahlreichen Arbeitervereine, vom Arbeiterbildungsverein bis zum Arbeitersportverein. Die Lebensläufe von Malern sind gekennzeichnet von dem Zusammenschluss in zahlreichen Bünden. Bei den Grünen unserer Tage können wir wiederum das anrührende Suchen nach menschlicher Nähe unter dem Druck äußerer Ablehnung beobachten und als Gegenstück ihre Angst vor den Regularien einer systemimmanenten Partei. Das regelmäßige Treffen »linker« Richter im »Richterratschlag« habe ich zu beobachten und in diesem Sinne zu werten immer wieder Gelegenheit gehabt. Ich selbst verdanke ihm viel.

Partnerschaft und Freundschaft haben indessen noch eine zweite Funktion. Sie sind die Brücke zur Welt der Mehrheit. Jeder Außenseiter ist in der Gefahr der Selbstisolierung und der Isolierung von außen. Vorbedingung des Erfolges ist die Konzentration des Außenseiters auf seine notwendig begrenzte Gedankenwelt. Deshalb wird die Isolierung von Außenseitern bewusst oder unbewusst gesucht. Die Isolierung ist aber auch eine Strategie der Außenwelt, um ihr gefährliche Gedanken in Quarantäne zu halten. Selbst- und Außenisolierung verstärken sich gegenseitig und können schnell zu einer ernsten Gefahr werden. Entfernt sich der Außenseiter zu weit von der Gedankenwelt seiner Mitmenschen, schwindet seine Wirkung auf die Gegenwart; vielleicht wird er zum Propheten einer künftigen Zeit — oder er wird vergessen. Hier haben Partner und Freunde eine lebensrettende Aufgabe. Der Gedankenwelt draußen und des Außenseiters gleichermaßen verbunden und von seinem Vertrauen getragen können allein sie die Brücke schlagen. Auch hier wiederum ein Beleg: Der Terrorismus der RAF ist ohne diese Isolierung nicht erklärbar. Darum ist ihre Isolierung auch noch in der Haft gerade der verkehrte Weg, wenn man dem Terrorismus begegnen will.

III.

Ich habe bisher fast nur von Außenseitern gesprochen und hätte doch von Querulanten sprechen sollen. Doch mir schien die zugegeben lange Vorrede notwendig, weil Querulanten aus dem Gleichgewicht geratene Außenseiter sind. Mit den Außenseitern gemeinsam haben sie die (Selbst)isolierung und die Konzentration auf ihre Gedankenwelt. Mit vielen von ihnen gemeinsam haben sie die fehlende Bereitschaft, oft auch die Unfähigkeit, aus der Isolierung, aus dem Kreis ihrer Gedanken auszubrechen.

Von den Außenseitern, von denen ich sprach, trennt sie die Konzentration auf einen Punkt meist sehr persönlichen Interesses und ihre Unfähigkeit, ihn in allgemeinen Zusammenhängen zu sehen. Sie lassen sich hereinziehen in den Apparat, den der Staat zur Konfliktregelung bereithält, ohne seine Mechanismen zu überblicken und betreiben ihren Kampf mit einer Flut von Eingaben und Beschwerden. Die Angegriffenen und die Angreifer machen Fehler, meist eher auf der formellen Ebene. Es werden falsche Begründungen gegeben, ein unglückliches Wort zuviel geschrieben, Fristen und Formalien nicht eingehalten und bald ist in dem Wust von Beschuldigungen und Gegenbeschuldigungen der Kern der Sache kaum noch zu erkennen; der Schauplatz des Kampfes bildet Metastasen. Der Außenstehende sieht nur noch ein wüstes Knäuel, wie bei einer Hundebeißerei. In der Endphase eilen in unserer wissenschaftlich orientierten Welt Psychiater in weißen Kitteln herbei und stellen Diagnosen.

Der Querulant vermag nicht zu erkennen, dass er auf einen Trick der Gesellschaft hereingefallen ist; sie hat ihm eine Apparatur für seinen Kampf angeboten, in dem er, zu guter letzt selbst zermahlen dem Spott und den Gerichtskosten zum Opfer fällt. Darum aber ist Spott gegen Querulanten völlig fehl am Platz, Hilfe juristischer Art, der den Armen nur noch tiefer in dem Mahlwerk verschwinden lässt, keine wahre Hilfe.

Ist die Diagnose richtig, liegt die Therapie auf der Hand. An erster Stelle muss das Eingeständnis von der Ungerechtigkeit der Welt stehen, die man mildern, aber nicht aus der Welt zu verbannen vermag, — weder mit einem großen Schlag noch mit vielen Nadelstichen. Auf die Zaren folgte Stalin, auf den sozialdemokratischen der christdemokratische Filz. Ich will diese resignative Feststellung keineswegs als Aufruf verstanden wissen, auch die süßen Früchte des Unrechts zu genießen, wenn die Sonne schon über Gerechten und Ungerechten scheint. Nur darf man bei dem Kampf gegen Unrecht weder im Himmel noch auf Erden ein übermächtiges Prinzip der Gerechtigkeit vermuten, das den Erfolg garantiert. Sonst zerstört der nicht eben unwahrscheinliche Misserfolg die Seele des Kämpfers für die Gerechtigkeit. Die schlauen Priester aller Religionen versprechen deshalb die Belohnung auch erst im unkontrollierbaren Jenseits. Trost kann allein die Erkenntnis spenden, dass diese Welt unbewohnbar würde, wenn nicht immer wieder Frauen und Männer gegen das Unrecht aufstehen würden. Der Einsatz für eine gerechte Sache trägt den Wert in sich, auch wenn er vergeblich ist. Wer den Erfolg entscheiden lässt, gibt die Entscheidung über den Wert des eigenen Einsatzes aus der Hand.

Zum zweiten gilt es, den Teufelskreis von Isolierung und Selbstisolierung zu durchbrechen. Wer in die Isolierung geraten ist, ist verloren! Hier bietet gegenwärtig der politische Kampf der Konservativen in diesem unseren Lande gegen die Grünen reiches Anschauungsmaterial mit dem wenig logischen Versuch, sie gleichzeitig durch den Vergleich mit den Feindbildern der Nazis und Kommunisten in die Ecke zu stellen (Geisler). Damit korrespondieren Bestrebungen in einem Teil dieser Partei (Bahro), sich freiwillig in das Abseits zu begeben. Wenn auch die Isolierung so großer Gruppen, wie der Grünen, kaum gelingen kann und nur zu ihrer Solidarisierung beiträgt, so wird doch deutlich, dass sie für kleine Gruppen und Einzelne schnell zum Verhängnis werden kann

Die dritte Gegenstrategie liegt in der sinnvollen Auswahl der Ziele und dem rationellen Einsatz der Ressourcen. Nur große Ziele lohnen einen großen Einsatz. Ein verbissener Kampf um die Stellen hinter dem Komma kann nicht sinnvoll sein. Hier muss man ohne Bedauern auch Gelände opfern können.

Und die schwierigste Frage: wie gehen wir mit Menschen um, bei denen Vorsorge zu spät kommt, die schon zu »Querulanten« geworden sind? Das menschlich Nächstliegendste, sie von den querulantenhaften Zügen ihres Tuns zu überzeugen und so zu heilen, ist aussichtslos. Es gilt, einerseits die Tatsache anzuerkennen, dass Gedanken sich festfressen können und andererseits, sich nicht anstecken zu lassen. Als Erste Hilfe ist sicherlich die solidarische Begleitung geboten, die darauf bedacht ist; eine Selbstschädigung abzuwenden. Langfristig kann nur der Versuch helfen, die eingetretene Isolierung langsam, aber zielstrebig aufzubrechen und das verfolgte Ziel in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Niemals aber darf Hochmut aufkommen. Die rechte Balance zwischen Teilnahme und Nüchternheit scheint mir das Problem des Helfers.

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