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Verfas­sungs­be­schwerde gegen die öffentliche "christliche Schule"

Aus: vorgänge Nr. 8-9/1968, S. 307-310

(vg) Auf Veranlassung des Vorstands der „Humanistischen Union“ und im Auftrag von im ersten Fall 7, im zweiten Fall 49 Eltern, Müttern oder Vätern schulpflichtiger Kinder hat Rechtsanwalt Erwin Fischer, Vorstandsmitglied der HU, Verfasser des Buches „Trennung von Staat und Kirche“ und Mitarbeiter der Vorgänge in allen verfassungsrechtlichen Fragen, beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Verfassungsbeschwerden 1. gegen „Artikel I, Ziffer 2 Absatz 1 des Gesetzes zur Änderung der Verfassung des Landes Baden-Württemberg und zur Ausführung von Artikel 15 Abs. 2 der Verfassung vom 8. 2. 1967“, 2. gegen „Artikel 7, 8, 9 und 10 des Bayerischen Volksschulgesetzes vom 17.11. 1966“ erhoben. In beiden Beschwerden geht es um die Feststellung der Nichtigkeit dieser Bestimmungen, weil sie, verfassungswidrig, einen „christlichen“ Charakter der öffentlichen Schulen in Baden-Württemberg und in Bayern bestimmen.
Wir veröffentlichen hier die Begründung der Verfassungsbeschwerde gegen die Baden-Württembergische Verfassungsänderung und ihr Ausführungsgesetz. (Die Beschwerde gegen das bayerische Gesetz wird in der Formulierung neu, in der Sache allerdings unverändert, erneut eingereicht werden, weil das Volksschulgesetz vom 17.11.1966 überholt ist durch den Volksentscheid vom 7.7.1968, mit dem die Bayerische Verfassung geändert wurde und der eine entsprechende Änderung auch des Volksschulgesetzes notwendig macht – die allerdings am Problem der Verfassungsbeschwerde, der „christlichen“ Bestimmung des Schulcharakters nichts ändern wird. Die Neufassung dieser Verfassungsbeschwerde werden wir später dokumentieren.)

(…)
Die Beschwerdeführer sind als Inhaber der elterlichen Gewalt auch Träger des elterlichen Erziehungsrechtes und daher befugt, auch die religiöse und weltanschauliche Erziehung ihrer Kinder zu bestimmen. Meist wird das Recht der Eltern, ihre Kinder entsprechend ihren Vorstellungen in religiöser oder weltanschaulicher Hinsicht zu erziehen, aus der Religionsfreiheit abgeleitet (Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reichs 10. A. 1929, S. 538; Mirbt: Grundrechte und Grundpflichten der RV, hrsg. von Nipperdey, II. S. 340; von Mangoldt-Klein: Das Bonner GG Art. 4 Anm. III 2). Es ist aber auch möglich, auf das Erziehungsrecht zu verweisen. Insoweit wird auf BVerfGE 10, 60 ff (85) Bezug genommen, wonach Art. 6 den „Bürgern die Freiheit läßt, bei der Gestaltung ihres Ehe- und Familienlebens ihren religiösen und weltanschaulichen Verpflichtungen mit allen Konsequenzen nachzuleben“. Diese unterschiedliche Begründung ist aber nicht erheblich, da in jedem Fall die erziehungsberechtigten Eltern die Möglichkeit haben, ihre Kinder in einem religiösen Bekenntnis oder in einer religionsfreien Weltanschauung zu erziehen (BVerfGE 12, 3 f.). Aus der negativen Religionsfreiheit ergibt sich, daß sie eine Erziehung im Geiste einer Religion durch die öffentliche Schule ablehnen können.
Durch die neue Fassung des Artikels 15 I der Landesverfassung von Baden-Württemberg haben die öffentlichen Volksschulen (Grund- und Hauptschulen) die Schulform der christlichen Gemeinschaftsschule nach den Grundsätzen und Bestimmungen erhalten, die am 9.12.1951 für die Simultanschule mit christlichem Charakter gegolten haben. Daraus ergibt sich, daß es sich bei den Volksschulen um eine andere Schule handelt als sie im Artikel 16 der Landesverfassung vorgeschrieben ist. Beide Schularten werden zwar als christliche Gemeinschaftsschulen bezeichnet. Die in Art. 16 I enthaltene Regelung für die weiterbildenden Schulen bestimmt indes, daß „auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte erzogen“ wird, während gemäß Art. 15 I n. F. andere Grundsätze und Bestimmungen gelten.
Zunächst ist daher zu untersuchen, was unter der christlichen Gemeinschaftsschule zu verstehen ist, die der badischen Simultanschule mit christlichem Charakter entspricht. Die badische Simultanschule geht auf das Gesetz vom 18.9.1876 (Gesetz- und Verordnungsblatt S. 305) zurück. Dieses ordnete an, daß der Unterricht in der Volksschule sämtlichen schulpflichtigen Kindern gemeinsam erteilt werde, mit Ausnahme des Religionsunterrichts, sofern die Kinder verschiedenen religiösen Bekenntnissen angehörten. In das badische Schulgesetz vom 7.7.1910 (GVBl. S. 386) wurden wesentliche Bestimmungen des Gesetzes vom 18.9.1876 übernommen. Durch das Bad. Grund- und Hauptschulgesetz vom 29.1.1934 (GVBI. S. 25) wurde das Gesetz vom 7.7.1910 zwar aufgehoben. Art. 28 I der Verfassung des Landes Baden 22.5.1947 (RegBl. S. 1) bestimmte aber, daß die öffentlichen Schulen „Simultanschulen mit christlichem Charakter im überlieferten badischen Sinn“ sind. Der Badische Staatsgerichtshof hat in dem Urteil vom 23.1.1950 (Kirche 1, 75 ff) dazu ausgeführt, die Rechtsgrundsätze des Bad. Simultanschulgesetzes von 1910 hätten dadurch „eine neue selbständige Rechtsgrundlage“ erhalten. Welche Folgerungen sich daraus ergeben, ist unklar, besonders im Hinblick auf die weiteren Ausführungen in dem Urteil: „Der StGH verkennt nicht, daß der vielumstrittene Art. 28 Bad. Verfassung in seinen Einzelbestimmungen einen Kompromiß darstellt, der schwer vereinbare Anschauungen zu überbrücken versucht, aber keine klaren Entscheidungen bringt“.
Offenbar gingen Regierung und Landtag in Baden-Württemberg davon aus, daß das Schulgesetz vom 7.7.1910 durch Art. 28 I Verfassung des Landes Baden wieder in Kraft getreten ist. Sonst wäre § 86 des Gesetzes zur Vereinheitlichung und Ordnung des Schulwesens vom 5.5.1964 (Bl. S. 235 ff) unverständlich, dessen Abs. 3 Z. 2 zufolge das Bad. Schulgesetz vom 7.7.1910 außer Kraft tritt mit der Maßgabe, daß in den badischen Landesteilen weiterhin die in den § § 34, 40, 41 und 44 des Gesetzes enthaltenen Rechtsgrundsätze, die die Simultanschule mit christlichem Charakter im überlieferten badischen Sinne tragen, weiter gelten, und zwar unter Bezugnahme auf Artikel 15 I der Verfassung des Landes Baden-Württemberg. Diese Verfassungsbestimmung besagte, daß die Formen der Volksschule in den einzelnen Landesteilen nach den Grundsätzen und Bestimmungen erhalten bleiben, die am 9.12.1951 gegolten haben. Ob sich daraus ergibt, daß die zitierten Paragraphen des badischen Schulgesetzes vom 7.7.1910 jetzt wieder geltendes Recht in dem Sinne geworden sind, daß sie wortwörtlich wie im Jahre 1910 gelten, ist mehr als zweifelhaft. Artikel 15 I Verfassung von Baden-Württemberg in neuer Fassung hat nun zur Schulform der öffentlichen Volksschule die christliche Gemeinschaftsschule nach den Grundsätzen und Bestimmungen erklärt, die am 9.12.1951 in Baden für die Simultanschule mit christlichem Charakter gegolten haben. Da an [308] diesem Tage das badische Schulgesetz vom 7.7.1910 nicht geltendes Recht war, besagt die neue Fassung nicht mehr, als daß die öffentliche Volksschule eine Simultanschule mit christlichem Charakter im überlieferten badischen Sinn ist.
Für die Auslegung des Art. 15 I n. F. könnten sich somit die gleichen Probleme ergeben, die im Urteil des Bad. Staatsgerichtshofs vom 23.1.1950 zu Art. 28 Verfassung des Landes Baden erwähnt worden sind. Der Staatsgerichtshof versucht, der Problematik dadurch Herr zu werden, daß er sich bemüht hat, die einander widersprechenden Verfassungsbestimmungen in gleicher Weise zu beachten und nach Möglichkeit in Einklang zu bringen. Dieses Verfahren ist heute nicht möglich. Während der Bad. Staatsgerichtshof nur die Bestimmungen der Landesverfassung berücksichtigt und dem damals noch jungen Grundgesetz keine Beachtung geschenkt hat, ist es jetzt erforderlich, die landesgesetzlichen Bestimmungen in erster Linie am Grundgesetz zu messen. Dem Grundgesetz widersprechendes Landesrecht – auch Landesverfassungsrecht – ist nichtig.
Außerdem ist aus einem Vergleich der neuen Verfassungsvorschrift für die öffentliche Volksschule mit den Vorschriften für die weiterführenden Schulen eindeutig zu entnehmen, in welcher Weise Artikel 15 I auszulegen ist. Wie es seit 1919 auf dem Gebiet des Schulwesens üblich ist, handelt es sich bei der Neufassung des Art. 15 I wieder um einen Kompromiß. Während die Verfassung vom 11.11.1953 für die weiterführenden Schulen nur eine Schulart vorsieht, nämlich die christliche Gemeinschaftsschule mit einer Erziehung „auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte“, verblieb es hinsichtlich der Volksschule bei den bisherigen Schulbestimmungen in den einzelnen Landesteilen: im Gebiet des früheren Landes Württemberg-Baden bei der christlichen Gemeinschaftsschule besonderer Prägung (siehe Art. 37 III Verfassung vom 24.11.1946 – Reg.Bl. S. 277 -), im Gebiet des früheren Landes Baden (Südbaden) bei der Simultanschule mit christlichem Charakter im überlieferten badischen Sinn, im Gebiet des früheren Landes Württemberg-Hohenzollern bei christlichen Schulen entsprechend dem Elternwillen (Art. 114 Verfassung vom 20.5.1947 – RegBl. S. 1). Die jetzt vorgenommene Vereinheitlichung führte nicht zur Einführung der christlichen Gemeinschaftsschule des Art. 16 I, sondern zu einer Schule besonderer Prägung, nämlich zur Einführung der Simultanschule mit christlichem Charakter in überliefertem badischen Sinn. Daraus geht hervor, daß es in Zukunft zwei Arten der christlichen Gemeinschaftsschule geben soll, die allgemeine für die weiterführenden Schulen und die besondere für die Volksschulen. Diese soll jedenfalls christlicher sein als die allgemeine.
Wenn auch Ministerialerlasse nicht zu einer bestimmten Auslegung zwingen, ist es immerhin von einer gewissen Bedeutung, wie nach dem Willen des Kultusministeriums der christliche Charakter der öffentlichen Volksschulen im Sinne des Art. 15 I n. F. sicherzustellen ist. In dem Erlaß vom 9.11.1967 – U II 1186/80 – heißt es, daß infolge der Übernahme der Regelungen und Sicherungen, die im badischen Simultanschulrecht für die christliche Gemeinschaftsschule entwickelt und nach 1945 im Gebiet des früheren Landes Baden auf eine neue verfassungsrechtliche Grundlage gestellt worden seien, der christliche Charakter dieser Schule verstärkt werde (S. 2 oben). Anschließend heißt es: „Es ist nunmehr Aufgabe der Schulverwaltung, alles zu tun, damit diese Schulform entsprechend dem erklärten Willen des Landtags und der Landesregierung den Namen „christliche Gemeinschaftsschule“ zu Recht trägt. Daß es dazu nur kommen kann, wenn Lehrer, Eltern und Kirchen vertrauensvoll zusammenarbeiten, liegt auf der Hand. Denn wer die Schulwirklichkeit kennt, weiß, daß der christliche Charakter einer Schule nicht nur von der Bekenntniszugehörigkeit der Schüler und Lehrer, sondern weit mehr noch von der geistigen Haltung der Lehrer und Eltern bestimmt und getragen wird. Ich wende mich deshalb mit Vertrauen an Lehrer und Eltern, daß sie verantwortungsbewußt mithelfen mögen, das christlich bestimmte Erziehungsziel der Landesverfassung zu verwirklichen.“
In dem Ministerialerlaß wird weiter behauptet, daß die § § 34, 40, 41 und 44 des Badischen Schulgesetzes in der Fassung des Gesetzes vom 30.3.1926 nunmehr im ganzen Land gelten und zu beachten seien. Im einzelnen wird vorgeschrieben, daß die Schulräume mit christlichen Symbolen auszustatten sind (Z. 7), daß die bestehenden Einrichtungen und Maßnahmen der religiösen Bildung und Schulseelsorge garantiert werden, insbesondere der Schulgottesdienst und der Schülergottesdienst (Z. 8), daß im Unterricht und im Schulleben die christlichen Güter auf der beiden Bekenntnissen gemeinsamen Grundlage zu pflegen sind und dies bei der Gestaltung der Bildungspläne zu beachten ist (Z. 11), endlich, daß im Musikunterricht das gemeinsame Kirchenliedergut beider Bekenntnisse mindestens während einer halben Wochenstunde zu pflegen ist (Z. 12).
Dieser Erlaß, der dem erklärten Willen des Landtags und der Landesregierung entspricht, läßt erkennen, daß die öffentliche Volksschule im Gegensatz zu den weiterführenden Schulen eine christliche Schule ist. Nach § 16 I Landesverfassung wird lediglich auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte unterrichtet. So viel dürfte jedenfalls feststehen, daß die Bildungs- und Kulturwerte des Christentums nicht mit den Glaubenswerten (Dogmen) der christlichen Religionen übereinstimmen. Dies ergibt sich schon aus der Verwendung der Begriffe Bildung und Kultur, ferner aus der Synthese christlicher und abendländischer Werte. Darin liegt die Anerkennung der Tatsache, daß die abendländische Kultur nicht nur christliche, sondern auch andere Komponenten aufweist. In der ersten Landesverfassung, die nach 1945 erlassen wurde, nämlich in der Verfassung von Württemberg-Baden vom 23.11.1946, war bestimmt worden, daß in den öffentlichen Volksschulen „auch die geistigen und sittlichen Werte der Humanität und des Sozialismus zur Geltung kommen“ sollen. Die weiterführenden Schulen waren keine christlichen Gemeinschaftsschulen, da Art. 37 III sich seinem klaren Wortlaut zufolge nur auf die öffentliche Volksschule bezieht (so auch Nebinger, Kommentar zur Verfassung von Württemberg-Baden, S. 134). Eine ähnliche, jedoch differenziertere Bestimmung hat in das Schulgesetz für Berlin Eingang gefunden, wonach die Antike, das Christentum und die für die Entwicklung zum Humanismus, zur Freiheit und zur Demokratie wesentlichen gesellschaftlichen Bewegungen, d. h. das ganze kulturelle Erbgut der Menschheit, einschließlich des deutschen Erbgutes, ihren Platz finden sollen ( § 1). In den nordrhein-westfälischen Gemeinschaftsschulen werden Kinder verschiedener Religionszugehörigkeit auf der Grundlage christlicher Bildungs- und Kulturwerte erzogen und unterrichtet, ohne daß diese Schulen als christliche Schulen bezeichnet werden, obwohl im Gegensatz zur Verfassung von Baden-Württemberg die abendländischen Werte nicht erwähnt werden und daher das Adjektiv „christlich“ mehr am Platze gewesen wäre als in der Verfassung von Baden-Württemberg. Aus dieser [309] Übersicht geht hervor, daß die Gemeinschaftsschulen in den deutschen Ländern seit 1945 ebensowenig christliche Schulen sind wie die Gemeinschaftsschule der Weimarer Reichsverfassung. Es handelt sich um eine Schule, bei der Anstellung der Lehrer und Aufnahme der Schüler ohne Ansehen des Religionsbekenntnisses erfolgt und eine Trennung der Schüler nach Bekenntnissen nur da eintritt, wo sie sachlich geboten und selbstverständlich ist, nämlich bei dem seiner Art nach konfessionellen Religionsunterricht (s. Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11.8.1919, 10. A. 1929, S. 587). Unter der Herrschaft der Weimarer Reichsverfassung ist niemand auf den Gedanken gekommen, diese Schule als christliche Gemeinschaftsschule zu bezeichnen. Wenn nach 1945 diese Bezeichnung teilweise Verwendung gefunden hat, so hat sich in sachlicher Hinsicht nichts geändert.
Insbesondere ist es nicht möglich, die Gemeinschaftsschule des Art. 16 I Verfassung von Baden-Württemberg als eine christliche Schule im materiellen Sinn zu bezeichnen, weil gemäß Art. 7 III GG die Erteilung von Religionsunterricht zur Pflicht gemacht ist. Diese Ansicht ist u. a. von Dürig vertreten worden (Maunz-Dürig, GG-Komm. Art. 7 Rdnr. 51/52; Die Rechtsstellung der kath. Privatschulen im Lande Bremen S. 54 und 56). Er spricht von einer christlichen Gemeinschaftsschule im „üblich-deutschen Sinne“. Er meint: „Die christlichen Gemeinschaftsschulen sind an die Forderung des Art. 7 III S. 1 GG gebunden. Diese Deutung entspricht im wesentlichen der für Art. 149 I S. 1 WeimVerf. maßgebenden … Der Bestimmung (Art. 7 III S. 1) liegt offensichtlich die Vorstellung zugrunde, daß die Bekenntnisschule bzw. die christliche Gemeinschaftsschule die Regel, die bekenntnisfreie Schule die Ausnahme bildet“.
Hier wird aus der Tatsache, daß Religionsunterricht in Art. 7 III zum ordentlichen Lehrfach erklärt worden ist, eine falsche Folgerung gezogen. Der von der Kirche grundsätzlich getrennte Staat, der zur weltanschaulich-religiösen Neutralität verpflichtet ist (BVerfGE 19, 216), ist zwangsläufig gehalten, auch seine Schulen in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht neutral zu gestalten. Da in Rücksicht auf die Tradition der Religionsunterricht beibehalten werden sollte, bedurfte es einer Ausnahmebestimmung zur Rechtfertigung dieses Unterrichts. Nach allgemeiner Regel ist aber jede Ausnahmebestimmung restriktiv auszulegen. Es ist daher nicht erlaubt, aus der Tatsache, daß als Ausnahme Religionsunterricht gestattet ist, auf den christlichen Charakter der Gemeinschaftsschule zu schließen, ganz abgesehen davon, daß Religionsunterricht ganz allgemein ohne jede Bezugnahme auf eine bestimmte Konfession stattzufinden hat. Es gibt daher auch Religionsunterricht in anderen Bekenntnissen und Weltanschauungen (nähere Nachweise in Schmoeckel, Der Religionsunterricht S. 199, 218, 234, 248, 280, 290, 296 und 318). Es wäre also verfehlt, aus Art. 7 III S. 1 GG und der entsprechenden Bestimmung in Art. 18 Verfassung von Baden-Württemberg zu schließen, die Gemeinschaftsschule sei eine christliche Schule und als solche vom Grundgesetz erlaubt. Die Gemeinschaftsschule ist, auch soweit sie als christlich bezeichnet wird, keine christliche Schule, wenn nicht ausdrücklich bestimmt ist, daß für sie die christlichen Glaubenswerte verbindlich sind wie z. B. in Art. 29 Verfassung für Rheinland-Pfalz. Dies ist jedoch in Art. 16 I Landesverfassung von Baden-Württemberg nicht der Fall.
Der Nachweis, daß die christliche Gemeinschaftsschule des Art. 16 keine christliche Schule ist, verfolgte vor allem den Zweck darzulegen, daß im Gegensatz zu dieser Schulart die christliche Gemeinschaftsschule des Art. 15 I eine christliche Schule ist, die in gleicher Weise wie die Bekenntnisschule gegen die Religionsfreiheit verstößt und überdies dem in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht neutralen Charakter des Staates nicht entspricht. Hierfür sprechen der in der Verfassung erwähnte christliche Charakter dieser Schule und die einhellige Auffassung, daß die Volksschule eine christliche Schule sein soll und zwar nicht nur dem Namen nach, sondern auch ihrem Geiste nach.
Der Kampf um die religiöse Gestaltung der Schule war schon immer ein Kampf, der so gut wie ausschließlich darum ging, wie die Volksschule in religiöser Hinsicht gestaltet werden sollte. Bereits die erste Freisinger Bischofskonferenz ließ 1850 in einer Denkschrift verlautbaren, daß näher noch als die gelehrte Schule die Volksschule dem Herzen des Bischofs nahestehe. Die Volksschule sei stets der eine Arm der christlichen Kirche gewesen und sie gehöre als wesentliches Glied zum kirchlichen Organismus, jede Trennung zwischen ihnen würde für beide Teile gleich verderblich sein. Die Denkschrift enthält sodann die emphatischen Worte: „Und der Kirche zumuten, ihrem Einflusse bezüglich der Volksschule zu entsagen oder sich aus derselben zurückzuziehen, hieße nicht mehr und nicht weniger, als ihr einen Akt des Hochverrats gegen ihren Herrn und Meister, eine Handlung des Selbstmords ansinnen“.
Thomas Ellwein, der diese Denkschrift in seinem Buch „Klerikalismus in der deutschen Politik“ (S. 153) zitiert, bemerkt dazu, daß sich an dieser Einstellung nichts geändert habe, nur heute nicht mehr das Recht der Kirche auf die Bekenntnisschule betont, sondern im Namen des Elternrechts diese Schulart gefordert werde. Die Kompromißlösung des Art. 15 I konnte daher nur erreicht werden, wenn anstelle der staatlichen Bekenntnisschule eine Volksschule mit eindeutig christlichem Charakter trat. Da nach zutreffender Ansicht des Verfassunggebers die christliche Gemeinschaftsschule des Art. 16 als tauglicher Ersatz für die Bekenntnisschule nicht in Betracht kam, griff man auf die badische Simultanschule zurück, indem man in Verkennung der geschichtlichen Entwicklung sie als Schule mit christlichem Charakter im überlieferten badischen Sinn bezeichnete.
Die badische Simultanschule vom 7.7.1910 hat in Übereinstimmung mit dem Gesetz vom 18.9.1876 bestimmt, daß der Unterricht in der Volksschule sämtlichen schulpflichtigen Kindern gemeinschaftlich zu erteilen ist, mit Ausnahme des Religionsunterrichts, sofern die Kinder verschiedenen religiösen Bekenntnissen angehören. Erst in der Landesverfassung von 1947 ist der christliche Charakter im überlieferten badischen Sinn betont worden, und zwar nicht nur für die öffentliche Volksschule, sondern für alle öffentlichen Schulen. Nun kann dahin gestellt bleiben, in welchem Umfange vor 1919 die badische Simultanschule christlich war, weil bis dahin Kirche und Staat noch nicht getrennt waren. Aus dem Schulgesetz kann jedenfalls auf einen besonderen christlichen Charakter dieser Schulart nicht geschlossen werden. Nach 1919 entsprach aber die badische Simultanschule in vollem Umfange den Bestimmungen der Artikel 146 I und 149 Weimarer Reichsverfassung. Der christliche Charakter ist erst 1947 der badischen Simultanschule verliehen worden.
Ob dies zu Recht oder zu Unrecht geschah, kann dahingestellt bleiben, weil bei Änderung des Artikels 15 I Verfassung von Baden-Württemberg der Verfassunggeber jedenfalls davon ausging, daß in Zukunft die Öffentliche Volksschule eine christliche Schule zu sein hat. Nicht nur der Religionsunter- [310] richt – infolge Art. 7 III S. 1 GG eine Selbstverständlichkeit – ist ein religiös bestimmtes Lehrfach. Auch der übrige Unterricht und das Schulleben haben dem christlichen Charakter zu entsprechen: insbesondere durch die Ausstattung der Schulräume mit christlichen Symbolen, durch das christliche Schulgebet und den Schulgottesdienst, die Pflege des konfessionellen Liedgutes im Musikunterricht und nicht zuletzt dadurch, daß im gesamten Unterricht sowie im Schulleben die christlichen Güter zu pflegen sind. Bei der Gestaltung der Bildungspläne muß dies beachtet werden.
Eine so gestaltete öffentliche Schule widerspricht dem Wesen der Religionsfreiheit. Vom Religionsunterricht ist auf Grund von Art. 7 II GG eine Abmeldung möglich. Wie verhält es sich nun mit diesem Recht der Erziehungsberechtigten hinsichtlich des christlich gestimmten übrigen Unterrichts und Schullebens? In der Theorie müßte eine Abmeldung in entsprechender Anwendung von Art. 7 II GG möglich sein. Hierauf hat bereits Landé hingewiesen (Bildung und Schule in Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung III, S. 55). Demgegenüber ist auf § 41 des Gesetzes zur Vereinheitlichung und Ordnung des Schulwesens vom 5.5.1967 (GBl. 1967, S. 253 ff.) zu verweisen, wonach allgemeine Schulpflicht für alle landesangehörigen Kinder besteht und diese Schulpflicht zum Besuch der Grundschale zwingt. Der Erziehungsberechtigte, der eine christliche Erziehung ablehnt, kann nun nicht auf eine Privatschule verwiesen werden, weil er von dem zu religiöser und weltanschaulicher Neutralität verpflichteten Staat verlangen kann, daß die der Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht dienende öffentliche Schule dem Wesen des Staates entspricht und nicht einen christlichen Charakter trägt.
Daraus ergibt sich in jedem Fall die Forderung, daß die Regelschule eine Gemeinschaftsschule ist, die am ethischen Standard des Grundgesetzes orientiert ist (siehe dazu Obermayer: Gemeinschaftsschule – Auftrag des Grundgesetzes, S. 23). Obermayer bezeichnet diese Schule als bekenntnisneutral und meint, der Gesetzgeber könne sie insoweit als christliche Gemeinschaftsschule ausformen, als er den Religionsunterricht gemäß Art. 7 II GG zum ordentlichen Lehrfach erklärt. Hierzu ist bereits ausgeführt worden, daß eine Gemeinschaftsschule mit Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach noch keine christliche Gemeinschaftsschule ist. Aus den weiteren Ausführungen Obermayers geht aber hervor, daß er in Übereinstimmung mit der hier vertretenen Auffassung die christliche Gemeinschaftsschule des Art. 16 I Verfassung von Baden-Württemberg als bekenntnisneutral betrachtet. Er hält es für erlaubt, auch in einer bekenntnisneutralen Gemeinschaftsschule die geistige und staatspolitische Bedeutung der christlichen Kirchen zu würdigen; nur dürfe aus der christlichen Gemeinschaftsschule keine christliche Bekenntnisschule werden (aaO. S. 24), die den ethischen Standard des Grundgesetzes überschreite und den gesamten Unterricht an allgemein christlichen Grundsätzen orientiere (aaO. S. 24). Art 16 I ist ein Beispiel für eine Schule, die sich innerhalb der erlaubten Grenze hält. Die Volksschule des Art. 15 I ist eine Schule, die an allgemein christlichen Grundsätzen orientiert und daher als öffentliche Schule nicht erlaubt ist.
Im übrigen enthält Art. 15 I Verfassung von Baden-Württemberg eine inkonsequente Regelung. Zwischen den Ländern der Bundesrepublik ist zur Vereinheitlichung auf dem Gebiete des Schulwesens am 28.10.64 ein neues Abkommen getroffen worden, wonach die auf der Grundschule aufbauenden Schulen – die sogenannten weiterführenden Schulen – die Bezeichnungen „Hauptschule“, „Realschule“ oder „Gymnasium“ tragen.
Der Landtag von Baden-Württemberg hat durch Gesetz vom 24.5.1967 diesem Abkommen zugestimmt (GBl. 1967, 74). Die Hauptschule gehört somit zu den aufbauenden bzw. weiterführenden Schulen neben der Realschule und dem Gymnasium. Für die weiterführenden Schulen gilt jedoch nicht § 15 I, sondern 16 I der Landesverfassung, wonach die Kinder in christlichen Gemeinschaftsschulen auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte erzogen werden. Als aufbauende und weiterführende Schule würde die Hauptschule automatisch unter Art. 16 I fallen und müßte daher auch als christliche Gemeinschaftsschule geführt werden. In Nordrhein-Westfalen ist man bereit, diese Konsequenz zu ziehen. Dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 20.6.1967 zufolge, den die Fraktionen der SPD, CDU und FDP eingebracht haben, sind Hauptschulen von Amts wegen als Gemeinschaftsschulen zu errichten, in denen Kinder verschiedener Religionszugehörigkeit auf der Grundlage christlicher Bildungs- und Kulturwerte unterrichtet und erzogen werden sollen (6. Wahlperiode – Band 2 – Drucksache Nr. 320).
In Baden-Württemberg hat man für einen der drei weiterführenden Schultypen Sonderrecht geschaffen, indem man die Hauptschule weiterhin der Grundschule gleichstellt, so daß sie als christliche Schule geführt werden kann. Es trifft zu, daß dem erwähnten Abkommen zufolge die Grund- und Hauptschule die Bezeichnung Volksschule tragen können. Für diese Bezeichnung haben sich aber nicht nur Baden-Württemberg, sondern auch Nordrhein-Westfalen entschlossen. Jedenfalls ist aus dieser Abweichung ersichtlich, daß auf dem Gebiet des Schulwesens nicht sinnvolle Bestimmungen geschaffen werden. Es handelt sich einzig und allein darum, den aus früherer Zeit überkommenen Einfluß der Kirche auf die öffentliche Schule möglichst lange zu konservieren, obwohl es dem kirchenpolitischen System des Grundgesetzes widerspricht.
(…)
Aus diesen Ausführungen ergibt sich, daß die Beschwerdeführer durch das angefochtene Gesetz in ihrer Religionsfreiheit verletzt worden sind. Die Grundschule, die von ihren Kindern besucht wird bzw. zu besuchen ist, ist eine christliche Schule. Sie widerspricht daher dem Grundgesetz. Durch ihren Besuch werden die erwähnten Grundrechte verletzt.

Hinweise

Der Hauptartikerl von Jean Amery „Das Jahrhundert ohne Gott“ geht zurück auf einen Rundfunkvortrag, der in einem Sammelband unter dem Titel „Die Zukunft der Philosophie“ vom Walter-Verlag Olten und Freiburg neben Beiträgen anderer Autoren veröffentlicht wurde.
Unsere Fassung des Aufsatzes ist etwas gekürzt. Wir danken dem Verlag für die freundlich erteilte Abdruckerlaubnis.
Der Aufsatz von Götz Eggers „Verfassungsfremdes Strafrecht“ erschien in einer frühreren Fassung bereits in der Vierteljahresschrift für Literatur und Kritik „kürbiskern“, Heft 1/68 (München 22, Maximilianstraße 10).

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