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Inhalt und Folgen des sog. Sitzblo­cka­de-­Ur­teils

vorgängevorgänge 8603/1987Seite 126-130

des Bundesverfassungsgerichts vom 11.11.1986

Dokumentation

aus: vorgänge Nr. 86 (Heft 2/1987), S. 126-130

1. Inhalt und Wirkung des Urteils sind in der Öffentlichkeit und in Äußerungen von verurteilenden Richtern gegenüber Angeklagten, während Hauptverhandlungen und in Verurteilungsbegründungen falsch verstanden, teilweise sogar grob verfälscht worden.

2. Das BVerfGU enthält einen für alle Gerichte und Behörden verbindlichen Einstimmigkeitsbereich und einen nicht verbindlichen Patt-Bereich. In diesem Patt-Bereich gegensätzlicher Rechtsauffassungen von 2 Richtergruppen von je 4 Richtern ist wegen Stimmengleichheit überhaupt keine Entscheidung des BVerfG zustande gekommen. § 15 III 3 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) schreibt als Regelung der Beschlußfähigkeit auch vor, daß bei Stimmengleichheit ein Verstoß gegen das Grundgesetz oder anderes Bundesrecht nicht festgestellt werden kann. An diese gesetzliche Festlegung knüpft das Urteil unter B vor I der Gründe am Beginn der Begründetheitsprüfung die Rechtsfolge, daß die Verfassungsbeschwerden, die diesen Patt-Bereich betreffen, zurückzuweisen sind.

3. Dies bedeutet Dreierlei:

  • Wenn bei Stimmengleichheit kein Verstoß gegen das GG festgestellt werden kann, so kann ebensowenig umgekehrt eine Übereinstimmung mit dem GG festgestellt werden.
  • Wenn nichts „festgestellt“ werden kann, so kann auch keine Entscheidung vorliegen.
  • Stimmengleichheit ist ein Fall fehlender Beschlußfähigkeit, welche das Thema der Absätze II und III des § 15 BVerfGG bildet und auch in den (nicht authentischen) Überschriften der Textausgaben verwendet wird.

Man kann auch nicht etwa sagen, daß die Regelung des § 15 III 3 besagen solle, daß bei jeder Stimmengleichheit diejenige Rechtsauffassung zufolge einer kraft § 15 III 3 vorgeschriebenen Fiktion als Auffassung des BVerfG mit Verbindlich- [127] keit nach § 31 I BVerfGG für alle Gerichte und Behörden zu gelten habe, deren Feststellung als verfassungswidrig mit dem betreffenden Antrag gefordert worden war, gegen die sich z.B. eine Verfassungsbeschwerde gerichtet hatte. Eine solche Wirkung des § 15 III 3 per fictionem hätte einer ausdrücklichen Regelung bedurft, wie sie Voraussetzung jeder wirklichen Rechtsfiktion ist und in der Gesetzestechnik auch allgemein praktiziert wird. (vgl. etwa die Formulierung für das Erbrecht des Nasciturus in § 1923 II BGB: „… gilt als vor dem Erbfall geboren…“; vergl. auch § 1963 Satz 2 BGB: „… ist anzunehmen, daß nur ein Kind geboren wird…“)

4. Zum nach § 31 I BVerfGG für alle Gerichte und Behörden verbindlichen Einstimmigkeitsbereich gehören die folgenden einstimmig beschlossenen Feststellungen:

a) § 240 StGB ist als Rechtsnorm verfassungsmäßig, die Anfechtung wegen Verletzung des Bestimmtheitsgebotes ist unbegründet (vgl. aber den Streit um die Verletzung des Analogieverbots durch Ausdehnung des Gewaltbegriffs im Patt-Bereich unter 5)

b) Die Fachgerichte haben alle Umstände des Einzelfalles sorgfältig zu prüfen, insbesondere eine gesonderte Prüfung des strafbegründenden Verwerflichkeits-Vorwurf (der Verwerflichkeitsklausel, der Mittel-Zweck-Relation: Gewalt-Verwerflichkeit) anzustellen und insbesondere die für die meisten der bisherigen Verurteilungen maßgebenden Gleichung: Gewaltanwendung = Verwerflichkeit zu unterlassen.

c) Dabei ist auch „das unmittelbare Nötigungsziel (Erzwingung erhöhter Aufmerksamkeit für Meinungsäußerungen)“ rechtserheblich.

d) Keine absolute Rechtsmäßigkeit von Sitzblockaden – vielmehr Befugnis des Gesetzgebers zur Auferlegung von Sanktionen des Ordnungswidrigkeitenrechts oder des Strafrechts.

e) Absolute Rechtmäßigkeit auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Zivilen Ungehorsams.

5. Zum mangels Vorliegens einer BVerfG-Entscheidung unverbindlichen Patt-Bereich gehören die in den Gründen des BVerfGU nur wiedergegebenen, nur systematisch nach den einzelnen Problemen gegliedert angeführten Rechtsauffassungen der beiden Richtergruppen zu den folgenden Problemen:

a) Verletzung des Analogieverbots gem. Art, 103 11 GG durch die weite Interpretation („Vergeistigung“) des Gewaltbegriffs in § 240 I und II StGB, z.B.:
„Die weite Interpretation des Gewaltbegriffs in der Rechtsprechung überschreitet nach Meinung von vier Richtern nicht die Grenzen, die das GG für die Auslegung strafrechtlicher Vorschriften zieht;
nach Meinung der vier anderen Richter ist es hingegen mit dem aus Art 103 Abs. 2 GG herleitbaren Analogieverbot unvereinbar, wenn Gerichte die Gewaltalternative des § 240 StGB auf Handlungen der vorliegenden Art erstrecken“. (B II Satz 3)
„Verfassungsrechtlich zweifelhaft kann nach alledem nicht schon die normative Regelung durch den Gesetzgeber, sondern allenfalls deren Auslegung durch die Gerichte sein, welche 28 Professoren des Strafrechts veranlaßt hat, in Eingaben an das BVerfG grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 240 StGB anzumelden“. (B II 3, O-Seite 35)
Nach Meinung von vier Richtern ist die Ausweitung der Gewaltalternative durch die Gerichte mit Art 103 Abs. 2 GG zu vereinbaren, da sie die Grenzen zulässiger Auslegung nicht überschreitet. Diese Richter folgen im Ergebnis der bisherigen Rechtsprechung, die namentlich in der Kommentarliteratur unbeschadet gewisser Bedenken Zustimmung gefunden hat“. (B II 3 b aa Abs. 1 und 2, O-Seite 38, dort und Seite 39 weitere Begründung)
Die vier anderen Richter stimmen demgegenüber im Ergebnis denjenigen Kritikern zu, welche die Ausweitung des Gewaltbegriffs für unvereinbar mit dem Analogieverbot halten … nötigende Gewalt im Sinne des § 240 StGB kann den Teilnehmern … nicht zur Last gelegt werden; diese haben sich vielmehr – abgesehen von strafrechtlich irrelevanten Vorbereitungshandlungen (Betreten und Niederlassen auf der Fahrbahn) – völlig passiv, also gerade nicht gewaltsam verhalten. Tatsächlich ist in den Ausgangsverfahren nicht festgestellt worden, daß sich die behinderten Fahrer durch Gewalt genötigt gefühlt hätten. Diese haben auf Anordnung der Polizei und ihrer Vorgesetzten angehalten oder aber aus Respekt vor der geltenden Wertordnung, der sie an einer Gefährdung der Demonstranten durch Erzwingung der Weiterfahrt hinderte und der ihnen von den Demonstranten gerade durch das Mittel der Wehr- und Gewaltlosigkeit abgenötigt wurde“. (B II 3 b bb, O-Seiten 40 Abs. 1 und 41 Abs. 2)

b) Verwerflichkeit oder Nichtverwerflichkeit einer auf Grundlage des ausgedehnten Gewaltbegriffs angenommenen „Anwendung von Gewalt“ gem. der Verwerflichkeitsklausel in § 240 II
„Müßte nach Meinung von vier Richtern eine [128] verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des § 240 StGB zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidungen führen, da Handlungen der vorliegenden Art bei Berücksichtigung aller Umstände einschließlich der von den Demonstranten verfolgten Protestziele in der Regel nicht als verwerflich zu qualifizieren sind, sofern nicht besondere Umstände hinzutreten. Nach der … Meinung der vier anderen Richter ist die Beurteilung der für die Verwerflichkeit maßgebenden Umstände Sache der Strafgerichte, deren Entscheidungen in den Ausgangsverfahren keine Fehler erkennen lassen, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts beruhen“. (B III Sätze 4 und 5, O-Seite 41)
„Ob die … strengen Voraussetzungen für Aktionen des Zivilen Ungehorsams eingehalten worden sind, ist nach Meinung von vier Richtern für die Prüfung bedeutsam, welche Sanktion angemessen ist und ob eine Nötigungshandlung als verwerflich zu beurteilen ist…“ (B III 1 b Abs. 3 Satz 2, O-Seite 47/48)
„Wird bei der Anwendung der Verwerflichkeitsklausel in der gebotenen Weise auf die näheren Umstände abgestellt, dann dürfen dabei nach Ansicht von vier Richtern die von den Demonstranten verfolgten Ziele nicht außer Acht bleiben: Nötigungsfolgen, nämlich durch die Sitzblockaden verursachten Behinderungen … lassen sich … nicht isoliert betrachten, da sie für sich allein überhaupt nicht stattgefunden hätten, sondern nur als unselbständige Zwischenschritte zur Erreichung der eigentlichen Demonstrationsziele dienen, nämlich des unmittelbaren Nötigungsziels (Erzwingung erhöhter Aufmerksamkeit für Meinungsäußerungen) und des Fernziels (Protest gegen die als gefährlich beurteilte atomare Aufrüstung).“

 

6. Diese hier nur beispielgebend angeführten und weitere gegensätzliche Rechtsauffassungen der beiden Richtergruppen sind in den Entscheidungsgründen – wie schon oben gesagt – nur systematisch nach dem jeweiligen Rechtsproblem geordnet hintereinander mitgeteilt. Keine der beiden Rechtsauffassungen ist „ausschlaggebend“ oder steht gar zur anderen im Verhältnis von Mehrheitsvotum und Minderheitsvotum, wie dies etwa der Chefredakteur der Stuttgarter Nachrichten Jürgen Offenbach in einem Kommentar seiner Zeitung in deren Wochenendausgabe vom 17./18.l.1987 ausdrücklich formulierte, indem er die ersten Freisprüche am Amtsgericht Schwäbisch Gmünd vom 15.1.1987 scharf kritisierte. Im Unterschied zu Mehrheitsentscheidungen mit veröffentlichten abweichenden Meinungen (dissenting votes), bei denen nur die Mehrheitsentscheidung von allen Richtern und die dissenting votes nur von den Dissenters unterschrieben sind, gibt es beim BVerfGU vom 11.11.1986 keine äußerliche Trennung, sondern alle gegensätzlichen Rechtsauffassungen sind in der einheitlichen, von allen acht Richtern unterschriebenen Entscheidung, einander gegenüber gestellt.

7. Für die einstimmig und daher verbindlich auferlegte Einzelfallprüfung „der vom Gesetzgeber als Korrektiv vorgesehenen Verwerflichkeitsklausel“ verwendet das Urteil mehrere präzise Umschreibungen, welche je für sich der bisherigen Rechtsprechungspraxis der verurteilenden Gerichte, insbesondere im Instanzenzug AG SG, LG Ellwangen und OLG Stuttgart die Grundlage entziehen, die bei der Verwerflichkeitsprüfung nur nach dem Hinsetzen und Aufhalten von Fahrzeugen fragte. Das BVerfG verlangt einstimmig eine „erforderliche wirklichkeitsnahe Würdigung einer konkreten Tat“ (B III 2 a Abs. 4), der die „in Erfassung aller für die Mittel-Zweck-Relation wesentlichen Umstände und Beziehungen eine Abwägung der auf dem Spiele stehenden Rechte, Güter und Interessen nach ihrem Gewicht in der sie betreffenden Situation … erforderlich macht. (B III 2 a Abs. 5 unter ausdrücklicher Zustimmung zu dieser Auffassung des BGH in seinem Beschluß vom 24.4.86, mit dem der BGH die Auffassung des Läpple-Urteils vom 8.8.69 von der grundsätzlichen Verwerflichkeit und damit Strafbarkeit aller „Sitzblockaden“ aufgehoben hatte), müssen gemäß dem BGH-Beschluß vom 24.4.86 sowohl „Umfang und Intensität der Zwangswirkung … sowie alle anderen Gerichtspunkte (Tatumstände, Rechte und Interessen)“ geprüft werden, „die im Einzelfall für die Mittel-Zweck-Relation und ihre Bewertung wesentlich sind, … die Beweggründe …, die verfolgten Zwecke, ihr Verhalten und das Ausmaß ihres Eingriffs in die Rechte anderer“ (BGHB Original-S. 10 Abs. 1 und 2). Der Generalbundesanwalt stellt in seinem zu diesem BGH-Verfahren erstellten Schriftsatz vom 9.1.86 noch schärfer „die Durchsetzung eigener … ausschließlich materieller Interessen (gegen eine Fahrpreiserhöhung) im Falle des Läpple-Urteils und die Sorge wegen der fortbestehenden Bedrohung der Menschheit“ in den Fällen der Sitzdemonstrationen mit Behinderung des Militärfahrzeugverkehrs von und zu Atomwaffenlagern gegenüber.

8. Eine solche Abwägung gehört schon unabhängig von ihrer Auferlegung durch das BVerfGU „zu den typischen Aufgaben, die den Fachgerichten bei der Entscheidung des jeweiligen Falles oblie- [129]gen“. Dies haben gerade die 4 Richter ausdrücklich in das BVerfGU hineinschreiben lassen, nach deren Meinung die mit den „infolge Stimmengleichheit“ abgewiesenen Verfassungsbeschwerden angefochtenen Verurteilungen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden waren.

9. Die oben unter 4 d wiedergegebene einstimmige Festlegung einer grundsätzlichen Rechtswidrigkeit von Sitzdemonstrationen mit Militärfahrzeugbehinderung läßt eine grundsätzliche Güterabwägung zwischen diesen Behinderungen und dem außerordentlichen Gewicht des vorliegenden Demonstrationszieles vermissen, das doch bei allen in Rede stehenden auf den aufklärenden und aufrüttelnden Protest (Albin Eser) gegen die in rechtserheblicher Nähe gesehene tägliche, stündliche und sekündliche Bedrohung mit dem atomaren Holocaust gerichtet sind. Für eine solche Güterabwägung bedarf es keiner Bevorzugung „besonders hehrer Ziele“ und schon gar nicht der Annahme eines „edlen Endzwecks“ (vgl. den „Kurzen Beitrag“ von Jürgen Baumann über „Demonstrationsziel als Bewertungsposten bei der Entscheidung nach § 240 II StGB?“ in NJW 1987 Heft 1/2, S. 36-38).

Vielmehr ist schon die „Gewichtigkeit“ des Problems ein hinreichendes Abwägungsmoment – eine positive Berücksichtigung jeden Demonstrationsziels gegenüber jeder Art von Behinderung erscheint dagegen problematisch.

Nach meiner eigenen Auffassung liegt aber in den Fällen des Protestes gegen die Pershing-II-Stationierung über die „Gewichtigkeit“ auch die „Richtigkeit“ der Zielsetzung vor. Denn die Bedrohung mit dem täglichen, stündlichen und sekündlichen Ausbruch eines Atomkrieges ist die denkbar größte Gefahr mit dem denkbar größten Schaden und dem denkbar größten Unrecht gegen Menschen, Natur und Schöpfung. Ihr Ausmaß ist nicht Meinungsabhängig, sondern dem Tatsachenbeweis zugänglich. Wer als Richter darüber entscheidet, übt damit nicht Meinungszensur aus, sondern bewertet rechtlich auf der Grundlage von Tatsachenfeststellungen. Der im Instanzenzug AG Schwäbisch Gmünd – LD Ellwangen – OLG Stuttgart, auch in den ersten Entscheidungen des LG Ellwangen nach dem BVerfGU, die am Montag dieser Woche, am 26.1. ergangen sind, übersieht auch, daß das Grundgesetzverbot einer Zensur nur die sogenannte Vorzensur trifft, welche die vorherige Vorlegung einer beabsichtigten Veröffentlichung an eben einen Zensor meint, nicht aber nachträgliche Bewertungen, kraft deren z.B. auch Journalisten wegen übler Nachrede oder Verleumdung verurteilt werden können.

Demgegenüber ist daran festzuhalten, daß die Annahme von Demonstranten, daß sie mit ihren „Aktionen“ auf eine täglich, stündlich und sekündlich drohende Vernichtung der Menschheit durch den Ausbruch eines Atomkrieges und auf eine diesbezügliche planmäßige Desinformationspolitik hinweisen, die Öffentlichkeit darüber aufklären und dagegen aufrütteln müßten, entsprechend verhältnismäßige Sitzdemonstrationen nicht nur vom Verwerflichkeitsvorwurf, sondern von jedem Rechtswidrigkeitsvorwurf freistellt. Dieser Rechtsfrage ist das BVerfG durch eine doppelte Unterlassung ausgewichen: Es hat weder die Anwendbarkeit des einschl. § 34 StrGB über den rechtfertigenden Notstand noch die entscheidende „Tatfrage“ nach jener Bedrohungslage untersucht. Dabei hat es auch die Zielsetzungen und Motive der Demonstranten unzureichend dargestellt: Im Einstimmigkeitsbereich heißt es unter B III 1 a der Gründe des Urteils einleitend wörtlich: „Die Beschwerdeführer verstehen ihre Aktionen als kollektive Kundbarmachung von Meinungen durch symbolische Handlungen, nämlich als zwar ohnmächtigen, aber Aufsehen erregenden Protest gegen den lebensgefährlichen atomaren Rüstungswettlauf und damit als Ausübung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit“. (vgl. dazu BVerfGE 69, 315 = Brockdorf-Beschluß)

Später ist im Patt-Bereich bei der Wiedergabe der Auffassung der Richtergruppe, welche die Verurteilungen für verfassungswidrig hält, von dem „Fernziel“: Protest gegen die als gefährlich beurteilte atomare Aufrüstung“ und von „einem Beitrag zum Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage“ die Rede und wird in diesem Zusammenhang auf den „wesentlichen Unterschied zwischen eigennützigem und gemeinwohlorientiertem Handeln“ hingewiesen. (B III 2 b aa Abs. 1 und 2)

Doch erschöpft sich der Protest speziell gegen die Pershing II-Stationierung weder in bloßen Meinungsäußerungen im Meinungskampf noch ist seine Grundlage die mehr formale Annahme eines „lebensgefährlichen atomaren Rüstungswettlaufs“. Vielmehr geht es um die täglich, stündlich und sekündlich drohende Vernichtung der Menschheit im atomaren Holocaust.

10. Wären diese Motive und die ihnen zugrundeliegende Bedrohungslage berücksichtigt worden, hätte auch der „Zivile Ungehorsam“ nicht in der geschehenen Weise als jedenfalls rechtswidrig bewertet werden können. Da nämlich der Zivile Ungehorsam stets als Protest gegen schwerwiegendes [130] Unrecht definiert wird, hätte die Güterabwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Sinne des rechtfertigenden Notstandes vorgenommen werden müssen, wie sie von der Planke des Karneades über die Nikomachische Ethik bis zu § 34 StGB Grundlage jeder Ethik und damit auch des Rechts als des ethischen Minimums ist. Der Ausdruck „Ziviler Ungehorsam“ gibt dies freilich nur unzureichend wieder, weil Theoretiker wie Praktiker keine wissenschaftliche oder gar rechtsdogmatische Begründung ausgearbeitet haben. Der lebende Praktiker Phil Berrigan aber hat in seinem Grußwort an das II. Forum der Richter und Staatsanwälte für den Frieden in Kassel im Oktober 1985 auch gesagt: Seit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen wissen wir, daß unser civilian disobedience eigentlich als civilian obedience zu bezeichnen ist, nämlich als Gehorsam gegenüber höherwertigeren Rechtsgütern zu Lasten geringerwertiger.

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