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Sozia­lis­ti­sche Demokratie

vorgängevorgänge 8705/1987Seite 109-115

Eine menschenrechte Alternative

aus:Vorgang Nr. 87 (Heft 3/1987), S. 109-115

                     

Im Jahre 1944 schrieb Thomas Mann, wichtiger Repräsentant der Gegner des Faschismus: »Europa wird sozialistisch sein, sobald es frei ist. Der soziale Humanismus war an der Tagesordnung, er war die Vision der Besten in dem Augenblick, als der Faschismus seine schielende Fratze über die Welt erhob. Er … wird Europa seine äußere und innere Gestalt geben, ist nur der Lügenschlange das Haupt zertreten.« Das Ziel eines Sozialismus als voll entfalteter Demokratie bildete den – wie immer unterschiedlich akzentuierten – Bezugspunkt der vom Widerstand der Arbeiterbewegung und der linken Emigration formierten Opposition gegen das faschistische System, das die Verbindung von »Willkürherrschaft und kapitalistischer Wirtschaftsordnung« (Ernst Fraenkel) verkörperte. Das sozialistische Projekt, das die einzig angemessene Verarbeitung der militärischen Zerschlagung des Faschismus gewesen wäre, zerbrach schon bald nach Kriegsende an der restaurativen Realität. Der wiederhergestellte Kaptialismus und der Stalinismus beherrschten die weltpolitische Arena. Die Wirklichkeit drängte nicht zum Gedanken einer freien Gesellschaft.

In dieser Situation gibt Adorno die Utopie einer menschengerechten Ordnung nicht preis. In dem letzten Abschnitt seiner »Minima Moralia« stehen folgende Sätze: »Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alle andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik. Perspektiven müßten hergestellt werden, in denen die Welt sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Licht daliegen wird.« Selbst Marx, der als guter Schüler Hegels die Utopie in der objektiven Dynamik vorwärtstreibender Produktivkräfte aufgehen ließ, war die Einsicht nicht fremd, daß es politische Konstellationen gibt, in denen – dank der durch eine siegreiche Konterrevolution gesteigerten Macht der alten gesellschaftlichen Kräfte – die Idee der Befreiung aus sozialer und politischer Unmündigkeit nur in einer »authentischen Isolation« fortexistieren kann. So bleibt antizipatorisches Denken unverzichtbar, weil es der reproduktiven Mechanik des schlecht Bestehenden den Spiegel einer humanen Alternative vorhält.

Es gilt, die Perspektive eines Sozialismus der Freiheit dem kollektiven Gedächtnisverlust zu entreißen, der, vom politischen und wissenschaftlichen Neokonservatismus bewußt betrieben, auch einen Teil der Linken ergriffen hat, der sich von seinen früheren Zielen resigniert verabschiedet.

Im Unterschied zu gängigen Lesarten sind unsere obersten Rechtsordnungen, die meisten Länderverfassungen, vor allem aber das Grundgesetz, von der Gedankenwelt sozialistischer Demokratie mitgeprägt. Das Grundgesetz, das unter dem maß-geblichen Einfluß der (seinerzeit noch sozialistischen Zielen verpflichteten) Sozialdemokratie zustande kam, sieht normativ eine Verbindung der nach Artikel 15 möglichen Vergesellschaftung der großen Produktionsmittel und der Fortexistenz politischer Freiheitsrechte vor. Es geht davon aus, daß die politischen Freiheitsrechte nicht an die Mechanismen der an das Privateigentum geknüpften Marktvergesellschaftung gebunden sind. Wenn das Grundgesetz die Würde des Menschen und die Prinzipien des demokratischen und sozialen Rechtsstaats der Disposition des politischen Entscheidungsprozesses entzieht, so zeigt dies, daß auch eine sozialistische Gesellschaft an die Kernprinzipien des Verfassungsstaates, in dem die Menschen nicht zum fremdbestimmten Objekt staatlicher und gesellschaftlicher Machtträger degradiert werden dürfen, tatsächlich zu binden ist.

Von der konservativen Verfassungsauslegung ist die mit einfacher Mehrheit realisierbare sozialistische Utopie systematisch verdrängt worden: Eine Verbindung von Sozialismus und politischen Freiheitsrechten gilt als logischer und historischer Widerspruch, der nur in der Sackgasse des Totalitarismus enden könne.

Dieser Linie folgt auch der wohl reflektierteste Vertreter liberaler Staatsrechtslehre, Ernst Wolfgang Böckenförde, dessen verfassungsrichterliche Sondervoten – zuletzt das zur Sanktionierung der Finanzierung von Parteien durch kapitalkräftige Kreise – einer mustergültigen freiheitssichernden Einhegung der öffentlichen Gewalt und der privaten Wirtschaftsmächte folgen. Böckenförde, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, meint: »Eine Allzuständigkeit der demokratischen Entscheidungsgewalt« – wie sie ja bei einer Praktizierung des Artikel 15 im Blick auf den ökonomischen Bereich in der Form der Vergesellschaftung der großen Produktionsmittel in weitem Maße bestehen würde – »… bedeutet …, daß die Einbeziehung des einzelnen und der Gesellschaft in die staatliche Entscheidungsgewalt total wird… Das Ergebnis ist die totale Demokratie, in der der einzelne voll und ganz Glied des demokratischen Kollektivs ist, und die eben darum notwendigerweise totalitären Charakter annimmt.«

Der generell auf den Sozialismus projizierte Totalitarismusverdacht diskreditiert, in einer bemerkenswerten Pointe, auch die Ziele des Manifests der demokratischen Sozialisten des Konzentrationslagers Buchenwald vom April 1945. So bleibt festzuhalten, welche Möglichkeiten der Konstituierung menschlicher Freiheit gerade in einer gesellschaftlichen Demokratie bestehen.

                          II.

Die politischen Freiheitsrechte bilden in den beiden die gegenwärtige Weltgeschichte determinierenden Systemen nicht eigentlich die Grundlage für die ökonomische Richtungsbestimmung des Gemeinwesens.

In den kapitalistischen Ländern des Westens wird zwar der politische Entscheidungsprozeß demokratisch legitimiert, aber die ökonomischen und technologischen Prozesse unterliegen im Kern privater, den universellen politischen Freiheitsrechten unzugänglicher Definitionsmacht, die freilich den herrschenden Mächten nicht unmittelbar untersteht, sondern an die anonymen Gesetze der Tauschwertproduktion gekettet ist.

In den Systemen des Staatssozialismus, deren Entscheidungsträger nicht einmal formell aus allgemeinen demokratischen Auswahlprozessen hervorgehen, sind, kraft der Abwesenheit real geltender politischer Freiheitsrechte, die ökonomischen Entscheidungen über die Verwendung des gesellschaftlichen Mehrprodukts bürokratischen Gesetzlichkeiten unterworfen, die öffentliche Debatten und Auseinandersetzungen über die Zielrichtung der gesellschaftlichen Entwicklung ausschließen. Wenn der von Gorbatschow repräsentierte Reformflügel der KPdSU den Versuch unter-nimmt, das System autoritärer Verstaatlichung durch einen demokratisierenden Umbau der sowjetischen Gesellschaft zu verändern, so fällt damit ein umso kritischeres Licht auf die überkommenen quasi-absolutistischen Herrschaftsformen des »realen Sozialismus«, die in den übrigen Ländern Osteuropas nach wie vor praktiziert werden.

Die kapitalistischen und die staatssozialistischen Formen der Vergesellschaftung werden – bei aller Unterschiedlichkeit der politischen Ordnungen – von ökonomischen bzw. bürokratischen Zwangsgesetzen bestimmt, die es unmöglich machen, daß die individuellen Produktivkräfte der Subjekte bewußt als gesellschaftliche Produktivkräfte verausgabt werden.

                            III.

Auf dem Bann der gesellschaftlichen Bestimmungsmöglichkeiten entzogenen Mechanismen beruhen wesentlich die irrationalen Strukturen und die ungelösten Probleme der Welt – wie die Massenarbeitslosigkeit, der Hunger und die Zerstörung der Natur. Die Produktivkräfte stehen im Dienst eines höchst partikularen Fortschritts, der mit gesamtgesellschaftlichen Rückschritten aufs innerste verknüpft ist. Auf der einen Seite wachsen die Produktivkräfte – vor allem durch die dritte industrielle Revolution der Cömputertechnologie – ins Unermeßliche, ermöglichen eine fundamentale Reduzierung der gesellschaftlichen Gesamtarbeitszeit, eine Erleichterung der Befriedigung konsumtiver Bedürfnisse wie der Erfüllung investiver Aufgaben. Auf der anderen Seite wird eine riesige Armee von Ausgegrenzten an den Rand der Gesellschaft geschoben: die Masse der chronisch Arbeitslosen in den wohlhabenden westlichen Industrienationen – in den USA existieren über ein Fünftel, in Großbritannien ein Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze – und die von Hunger und Entbehrungen ausgezehrten Unterschichten der Dritten Welt.

Auf der einen Seite nimmt die Verfügungsgewalt über die Natur durch die galoppierenden Erkenntnisleistungen der modernen Naturwissenschaften Tag für Tag zu; im materiellen Produktionsprozeß, in der Medizin, in der Landwirtschaft, in den unmittelbaren Lebensverhältnissen tragen die Naturwissenschaften dazu bei, die »Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern« (Brecht). Auf der anderen Seite wird durch die bloß technische, an partikularen Profitinteressen und staatsbürokratischen Zwecken orientierten Formen der Naturbeherrschung der zerbrechliche Gesamtzusammenhang der Natur systematisch mißachtet. Eingriffe in die Natur entbinden gewaltige Destruktivkräfte, die die Lebensgrundlagen der Menschen zerstören. Das aus bürokratischen Systemzwängen resultierende Reaktorunglück von Tschernobyl ist hierfür das bedrückendste Exempel: Nicht nur die unmittelbar betroffene Bevölkerung in der Ukraine, sondern hunderttausende von Menschen in Ost-, Mittel- und Nordeuropa – sogar die Rentierzüchter in Norwegen mit ihrem riesigen Viehbestand – sind gesellschaftlich erzeugten Naturgewalten vollständig ausgeliefert.

Die Risiken der sogenannten friedlichen Nutzung der Kernenergie werden durch die modernen Rüstungstechnologien noch um ein Vielfaches überboten. Sie machen die Selbstvernichtung der Menschheit – durch einen technischen Wahrnehmungsfehler – zur realen Möglichkeit. In vollendeter Entfremdung wachsen den Menschen die von ihnen selbst produzierten Kräfte der Zerstörung so über den Kopf, daß ihre Ausmaße sich der Einbildungskraft der Individuen – und damit zum guten Teil auch ihrer moralischen Betroffenheit – entziehen.

Die Spannung zwischen dem Zustand der Welt, der die Geschichte zur »Schlachtbank« (Hegel) werden läßt, und ihrer menschengerechten Gestalt resultiert draus, daß die Subjekte die Ziele des gesellschaftlichen Gesamtprozesses nicht wirklich selbst bestimmen können. Die inhumane Welt ist das Abbild der Nicht-Existenz sozialistischer Demokratie.

Würde die gesellschaftliche Dynamik von den – wie immer differenzierten – Interessen der Menschen gelenkt, wäre es unvorstellbar, daß der gesellschaftliche Reichtum extrem ungleich verteilt bleibt, daß die Menschen sich dazu entschließen, den Hunger fortexistieren zu lassen, obgleich genügend Mittel existieren, ihn abzuschaffen, die Arbeitslosigkeit aufrechtzuerhalten, obgleich sie durch eine zeitliche Umverteilung des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens beseitigt werden kann, die eigenen Naturgrundlagen durch die Vergiftung der Flüsse, Seen und Wälder zu vernichten, obgleich Wege offen stehen, den Naturgarten zu erhalten, apokalyptische Zerstörungsmittel zu entwickeln, obgleich diese gigantischen Mordwerkzeuge weder den einzelnen noch der Menschheit den geringsten Nutzen bringen.

                           IV.

An der Funktionserweiterung der klassischen politischen Freiheitsrechte, die durch das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln ermöglicht wird, zeigt sich, wie die Menschen die Geschichte in die eigenen Hände nehmen können. Tat-sächlich werden, nach einer tiefdringenden Formel Blochs, die politischen Freiheitsrechte »als unbürgerliche erst zustellbar«. An der Aufgabenveränderung der Meinungsfreiheit, der Wissenschaftsfreiheit, der Kunstfreiheit und der Koalitionsfreiheit läßt sich dies beispielhaft, jedoch keineswegs erschöpfend antizipieren.

Wenn die Meinungsfreiheit nicht mehr durch die Besitzprivilegien der Privatunternehmer verzerrt, aber auch nicht durch das Machtmonopol einer staatlichen Führungselite blockiert wird, kann sie zum Medium der Selbstverständigung der Individuen über ihre allgemeinen Angelegenheiten werden. Gesellschaftliche Prioritätensetzungen und Ziele, die Verwendung des gesellschaftlichen Reichtums, die Bewertung moderner Technologien, das Verhältnis von Akkumulation und Konsumtion – alle diese Fragen werden aus den verselbständigten Mechanismen privater bzw. staatlicher Herrschaftsinteressen gelöst und damit erst rationaler Auseinandersetzung zugänglich. Auch für die Wissenschaftsfreiheit, deren überkommene Gestalt die bloß instrumentelle Vernunft juristisch sichert, nicht aber praktisches, auf gesellschaftliche Zwecksetzungen gerichtetes Handeln umgreift, ergibt sich ein analoger Funktionswandel. Nachdem die Verwendungsformen der Naturwissenschaften nicht mehr durch kapitalistische und staatsbürokratische Zwänge definiert werden, können die Fragen der sozialen Folgen der Wissenschaft umfassend zum Thema gemacht, in unverzerrter Kommunikation erörtert und der Bestimmungsmacht der Menschen überantwortet werden. Die Zwecke der gesamten modernen Technologien – von der Gen- über die Laser- bis zur Computertechnologie – werden, in einem erweiterten Begriff wissenschaftlicher Freiheit, zur Lebenspraxis der Individuen in Beziehung gesetzt: als ihr bewußter anorganischer Leib an humanen Bedürf-nissen gemessen und positiv oder negativ gewertet. In den Sozialwissenschaften können, parallel dazu, die auf die Funktionserfordernisse der gegenwärtigen Entfremdungsstrukturen reduzierten Problemstellungen überwunden werden: auch die systemtheoretische Verabschiedung der Frage der menschengerechten Einrichtung der Gesellschaft, wie sie in Luhmanns Bemerkung zum Ausdruck kommt, man müsse »gegenüber der Differenz von arm und reich kühles Blut bewahren«, verliert ihre Grundlage.

Eine egalitär strukturierte Gesellschaft verändert in gleicher Weise die ursprüngliche Rolle der Kunstfreiheit, die real nur der schmalen Schicht der Gebildeten die Aneignung der Sphäre der Musik, der Literatur, der Malerei sichert. Mit der Überwindung der Bildungsprivilegien vergesellschaftet sich die Kunstfreiheit. Die Kulturindustrie verliert ihr Substrat, das darauf beruht, die Menschen, die den größten Teil ihrer Zeit in entfremdeten Arbeits- und Lebensverhältnissen existieren müssen, in ein imaginäres Reich angedrehter Harmonie zu entführen, in dem sie die realen Abhängigkeiten vergessen können. Sind diese Abhängigkeiten nicht mehr zu einem äußeren Schicksal geronnen, kann die kompensatorische Funktion der standardisierten Unterhaltungsprodukte entfallen und die Ausbildung der produktiven Sinnesmöglichkeiten der Menschen, ihr Umgang mit heiteren und ironischen, mit naiven und sentimentalischen Elementen von Kunst erst umfassend beginnen. Dann garantiert die Kunstfreiheit die Entfaltung der ästhetischen Wesenskräfte tendenziell aller.

In entsprechender Weise erweitert die Koalitionsfreiheit ihren Aufgabenbereich, der unter kapitalistischen Bedingungen auf die Vertretung der Lohninteressen gegen-über der prinzipiell nicht antastbaren privater Kommando- und Aneignungsgewalt begrenzt ist. Die ökonomische Organisationsfreiheit bekommt auf der Basis des gesellschaftlichen Eigentums die Funktion, die Rücknahme der verselbständigten wirtschaftlichen Zwangsgesetze in die Bestimmungsmacht der unmittelbaren Produzenten zu sichern: in ihren Händen liegt die Festlegung der innerbetrieblichen Strukturen und die Beteiligung an den Entscheidungen über die gesamtgesellschaftliche Verwendung des gemeinsam erzeugten Mehrprodukts. Die Koalitionsfreiheit behält allerdings auch Elemente ihrer Funktion als Garant von Gegenmacht – im Unter-schied zur Vorstellungswelt der klassisch revolutionären Tradition, wie sie in Rußland nicht nur von den Bolschewiki, sondern auch von den Menschewiki vertreten worden ist. Für beide Richtungen der Sozialdemokratie war es selbstverständlich, daß die Koalitionsfreiheit im vollendeten Sozialismus überflüssig würde, da ihr Gegenüber in Gestalt der privaten Produktionsmittelbesitzer mit der Herstellung öffentlichen Eigentums wegfällt und die Produzenten sich nicht gegen sich selbst zusammenschließen könnten. Wenn man aber bedenkt, daß auch im Sozialismus die vielfach kurzfristigen Interessen der unmittelbaren Produzenten mit den langfristigen gesellschaftlichen Investitionsinteressen nicht unmittelbar identisch sein können, sondern daß zwischen beiden ein Ausgleich herbeigeführt werden muß, so bedarf es – in Gestalt der Koalitionsfreiheit – einer Garantie gegen die Gefahr, daß sich die zentralen ökonomischen Leitungsinstanzen verselbständigen und sich als unfehlbarer Garant des allgemeinen Wohls darstellen.

                         V.

Ein von politischen Freiheitsrechten konstituiertes sozialistisches Gemeinwesen ist kein harmonischer Garten Eden. Diese Vorstellung wurde vielfach dem Bild einer zukünftigen egalitären Gesellschaft unterlegt. Kurzschlüssig wurde aus der Beseitigung der privaten Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel gefolgert, daß die Glieder der Gesamtgesellschaft ein homogenes, von Interessenkonflikten prinzipiell unberührtes Gesamtsubjekt bildeten. Das aber hieße, daß konfliktregulierende Mechanismen – wie die klassischen politischen Freiheitsrechte – nicht mehr benötigt werden. An der Rechtstheorie des »realen Sozialismus« zeigt sich dann aber, daß die Interessenunterschiede nur fiktiv aus der Welt geschafft wurden, um hinterrücks desto stärker wirksam zu werden: Mittels staatsgerichteter Grundpflichten und einer den Bedürfnissen der Individuen entgegengesetzten heteronomen Moral sucht die marxistisch-leninistische Rechtstheorie die in der Gesellschaft nach wie vor divergierenden Anschauungen autoritär zu vereinheitlichen.

Nach einer treffenden konkret-spekulativen Bemerkung Adornos wird aber eine freie Gesellschaft erst eine pluralistische Gesellschaft sein, in der die unterschiedlichen Ansichten und Interessen, unverstellt durch Herrschaftszwänge, endlich zum Ausdruck kommen können. Das gesamte Spektrum der politischen Freiheitsrechte ist unverzichtbar, weil nur mit deren Hilfe strukturelle Kontroversen über die Richtungsbestimmung des sozialistischen Gemeinwesens ausgetragen werden können. Die politischen Kommunikationsrechte dienen – um einen Gedanken von Bahro aufzugreifen – als Garantien dafür, daß die in jeder technischen Zivilisation not-wendigen funktionellen Hierarchien planender, koordinierender und ausführender Tätigkeitsfunktionen nicht zu einem verselbständigten Herrschaftsverhältnis gerinnen: die Informations-, Erkenntnis- und Entscheidungsprozesse werden für die Einflußnahme der Subjekte offengehalten.

Demokratische Vergesellschaftung des sozialen Lebensprozesses ist kein fertiges, ein für alle Mal feststehendes Resultat, sondern ein je neu durch die praktische Tätigkeit der Individuen sich herstellendes Verhältnis, das niemals den Ruhepunkt eines absoluten Gelungenseins findet. Die Existenz politischer Freiheitsrechte verbürgt, daß der geschichtliche Prozeß in einer humanen Gesellschaft offenbleibt und damit auch den unvermeidlichen (in einer totalitären Zwangshomogenisierung nur scheinbar vermiedenen) Risiken von Fehlentscheidungen ausgesetzt ist.

Die Freiheitsrechte dienen nicht allein der demokratischen Konstitution des sozialistischen Gemeinwesens. In bestimmtem Maße behalten sie auch ihre einstige Funktion als Abwehrrechte. Realistischer Weise muß man – wenn die Menschen nicht zu überirdischen Engeln erhöht werden – voraussetzen, daß die notwendigerweise fortbestehenden zentralen Leitungsinstanzen mit den Interessen aller Individuen nie konvergieren können. Auch Entscheidungen, etwa über die zentrale Frage der Verwendung des gesellschaftlichen Mehrprodukts, die nach einem herrschaftsfreien Diskussionsprozeß erfolgen, werden nicht einstimmig ergehen. Daher ist es notwendig, Minderheitspositionen und die Spähre der persönlichen Freiheit durch rechtliche Sicherungen auch gegenüber sozialistischen Entscheidungsträgern, die durch die Mehrheit legitimiert sind, zu schützen. Rosa Luxemburg, von der Hoffnung auf die befreiende Kraft der sozialen Revolution getragen, erwartet von der politischen Form einer klassenlosen Gesellschaft dennoch keine Wunder: »Jede demokratische Institution (also auch die einer sozialistischen Gesellschaft, J.P.) hat ihre Schranken und Mängel, was sie wohl mit sämtlichen menschlichen Institutionen teilt.« Nur wenn sozialistische Demokratie sich nicht von der Vision paradiesischer Eintracht leiten läßt, wird sie geschichtlich wirksam und zu jenem politischen Rahmen, mit dessen Hilfe die den Menschen über den Kopf gewachsene Unheilsgeschichte aufgehoben und in eine rationalere, aber keineswegs konfliktlose und irrtumsfreie Gestalt der gesellschaftlichen Beziehungen umgewandelt werden kann.

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