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Richter werden aktiv

vorgängevorgänge 8909/1987Seite 15-19

Voraussetzungen und Folgen der Blockade vom 12.1.1987;

aus: vorgänge Nr. 89, Heft 5/1987, S. 15-19

Was bringt an die Ruhe und Beschaulichkeit der Schreibtischarbeit gewohnte Richter(innen) dazu, aus der bürgerlichen Reputation herauszutreten, sich bei klirrender Kälte auf einen abgelegenen Feldweg zu setzen und damit auf Grund der Praxis der örtlichen Strafverfolgungsbehörden die Gefahr einer strafgerichtlichen Verurteilung sowie das Missfallen von Kollegen und der Dienstvorgesetzten auf sich zu nehmen?

Ausgangspunkt aller Überlegungen der zwanzig »Blockade-Richter« waren die ins Unermessliche angewachsenen Gefahren, die durch die sich ständig weiterdrehende Hochrüstungsspirale – vor allem durch die Anhäufung der Massenvernichtungsmittel und die zugehörige globale Infrastruktur – der beiden großen Militärblöcke entstanden sind. Allgemein bekannt sind auch die Gründe, die in den letzten Jahren Tausende von Bürgern dazu gebracht haben, sich nicht mehr mit den früher üblichen Protestmitteln zu begnügen, sondern durch Formen des gewaltfreien Protestes die Öffentlichkeit aufzurütteln.

Eigentlich hätte diese Situation als Anlass für die Richterblockade am 12.1.1987 vollauf genügt. Und insoweit sind wir wie die vielen anderen Bürger vor uns nach Mutlangen gefahren. Wenn wir uns dabei ausdrücklich als Richter zu erkennen gegeben haben – wir hatten der Presse eine vorbereitete gemeinsame Erklärung übergeben —, dann hat dies durchaus etwas mit unserer Berufseigenschaft zu tun. Nicht, dass wir uns hier als besonders berufen angesehen hätten, klüger zu sein als andere Bürger. Was den Entschluss in uns hat reifen lassen — in einer fast 1 1/2-jährigen Diskussion – war eher das schlechte Gewissen: das schlechte Gewissen derer, die erkannt haben, dass der von den Militärs geplante oder in Kauf genommene Völkermord gegen unsere Rechtsordnung verstößt; das schlechte Gewissen der Angehörigen einer Institution, deren geheimer Zweck auf Herrschaftssicherung, auf die Anpassung abweichenden Verhaltens an bestehende Machtverhältnisse ausgerichtet zu sein scheint; das schlechte Gewissen eines Berufsstandes, der neutral und unpolitisch zu sein vorgibt und dabei tatsächlich bis über die Ohren unreflektiert politisch und rechtslastig ist. Mit diesem richterlichen Selbstverständnis, das sich – vermeintlich – aus aller politischen Gestaltung heraushält, haben wir gebrochen.

Allerdings haben wir in den Vorerörterungen gerade die Frage, ob wir als Richter auftreten sollten, immer wieder intensiv diskutiert. Auch das sogenannte Mäßigungsgebot des § 39 DRiG wurde angesprochen. Seine Einhaltung soll ja angeblich das Vertrauen des Volkes in die Unabhängigkeit der Richterschaft wahren. Fragen wurden gestellt: kann ausgerechnet in einer Demokratie Vertrauen durch politische Zurückhaltung, sei es bestimmter Berufsgruppen, geschaffen werden?

Im übrigen will das Argument, mangelnde richterliche Zurückhaltung in der Öffentlichkeit zerstöre das Vertrauen in die Justiz, nicht recht zu der ebenso unsinnigen These vom »Missbrauch des Amtsbonus« passen, wonach also Richter hier einen ihnen von der Bevölkerung gegebenen Vertrauensvorschuss ausbeuten. Am besten vertraut man erst einmal in die Urteilsfähigkeit der Bürger. Nach einer Meinungsumfrage des Emnid-Instituts vom Februar 1987 billigen 64% der Bevölkerung auch Richtern das Recht zu, in der Art der Blockade vom 12.1.1987 zu demonstrieren. Dagegen glauben 63%, Richter seien politischen Einflüssen ausgesetzt, 44% sehen sogar eine Anpassungsbereitschaft der Richter an die jeweilige Regierung.

Richtig allerdings ist, dass die Massendemokratie, will sie nicht in Erstarrung verfallen, immer wieder kräftiger Schübe von unten bedarf. Diese gehen heute erfahrungsgemäß von aktiven Minderheiten aus, vor allem auch von engagierten Mitgliedern von Berufsgruppen, die in dem angesprochenen Zusammenhang etwas zu sagen haben, etwa Ärzte zur Gefahr der atomaren Verseuchung und der (Un)-möglichkeit von Rettungsmaßnahmen; Lehrer zur Friedenserziehung; Juristen zur Rechtlichkeit des ins Kalkül gezogenen Massenmords. Auch insoweit wollten wir unser fachliches Wissen und unsere Berufsrolle nicht zu Hause lassen.

Einbringen wollten wir aber nicht nur unsere verfassungsrechtliche Einschätzung der atomaren Hochrüstung und der damit verbundenen Verteidigungskonzepte, sondern auch unsere juristische Beurteilung der sogenannten Blockade-Prozesse.

Ich werfe den Kollegen der verurteilenden Blockade-Rechtsprechung nicht so sehr vor, dass sie zu undemokratischen, rechtsstaatlichen bedenklichen Ergebnissen kommen. Die Autoritätshörigkeit ist ihnen nun einmal anerzogen. Was man indes auch von einem konservativen Richter verlangen kann, ist Redlichkeit bei der Begründung, mit der er Rechenschaft über die Geradlinigkeit seines Gedankenweges zu einer gerechten Urteilsfindung ablegt.

In der konservativen Blockade-Rechtsprechung lassen sich akrobatische Begriffsverrenkungen und schlimme Unredlichkeiten von Beginn an nachweisen. Es begann mit der »Vergeistigung der Gewalt« im Laepple-Urteil des BGH von 1969 und dem damit verbundenen Kunstgriff, dass jede Art von Gewalt die Rechtswidrigkeit (Verwerflichkeit) nach § 240 II StGB indiziere. Damit wurde — so die spätere Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts — zwar »die erforderliche wirklichkeitsnahe Würdigung einer konkreten Tat durch semantische Abstraktionen ersetzt« und der gesetzgeberische Wille »unterlaufen«. Jede Widerlegung ihrer Argumentation haben die obrigkeitshörigen Richter indessen nicht etwa mit einer Änderung der Entscheidungspraxis, sondern einzig mit einer Auswechslung der Begründung, mit neuen Begriffsmanipulationen, beantwortet.

Auf dem Begründungsweg fanden oder erfanden sie immer wieder neue Weggabelungen, von denen sie stets die nach rechts weisende Abzweigung bevorzugten. So reagierte man auf das verfassungsrechtliche Gebot, alle Umstände des Einzelfalles zu prüfen, darauf, dass man die eigentlichen Protestziele der Demonstranten flugs zu »Fernzielen« erklärte, die der Richter nicht zensieren dürfe. Infolge dieser Manipulation des Sachverhalts — die Motivation der Blockierer wird schlicht ignoriert — sind Fälle, in denen Sitzblockaden nicht verwerflich sind, überhaupt nicht mehr denkbar. Und an dem »psychisch determinierten Prozess« des Laepple-Urteils wird emsig weitergestrickt, bis eine »Gewaltanwendung« selbst dort bejaht wird, wo die militärischen Fahrzeugführer nicht aufgrund eigenen Willensentschlusses, sondern auf Befehl ihrer Vorgesetzten oder hinter verschlossenem Standorttor gehalten haben.

Auch ignorieren konservative Richter von heute auf morgen Maßstäbe, die sie zur Ausfüllung des unbestimmten Maßstabes der »Verwerflichkeit« selbst entwickelt hatten. Danach genügt es nicht, dass der Richter die Gewaltanwendung persönlich als »verwerflich« ansieht, vielmehr muss »das Verhalten nach allgemeinem Urteil sittlich in so hohem Maße mißbilligenswert erscheinen, dass es sich als strafwürdiges Unrecht darstellt« (u.a. BGHST 17, 328; BayObLG 1986, 404). Der Maßstab der »allgemeinen Anschauung« wiederum verweist — insoweit überein-stimmend mit dem »Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden« (BGHST 4, 32) — neben einer normativen Kontrolle an Hand der der Rechtsordnung immanenten Prinzipien — auf die Geltung im Rechtsbewusstsein der Bevölkerung. Mit dieser Frage nach der Konsensfähigkeit oder Wertung des Richters soll der Gefahr begegnet werden, dass der Richter bei der Ausfüllung der Blankettnorm sein — vom jeweiligen politischen Standort abhängiges — subjektives Werturteil zugrundelegt.

Das alles war kein Problem, solange die konservativen Gerichte sich im Einklang mit der Anschauung breiter Bevölkerungskreise wussten, solange also Sitzdemonstrationen überwiegend eine Sache von Studenten waren, für deren Bestrebungen die Bevölkerung sich selten erwärmen konnte. Ärgerlich wurde es nun, als das Mittel der Sitzdemonstration in den Dienst eines Anliegens — Vorgehen gegen die atomare Friedensbedrohung — gestellt wurde, das alle anging. Seitdem mogeln sich auch die eloquentesten konservativen Juristen wortkarg um eine Erwähnung oder nähere Beschreibung des Begriffs der »allgemeinen Anschauung« möglichst herum und gehen erst recht der Frage nach der Einstellung der Bevölkerung aus dem Wege. Meist wird der Begriff bewusst unterschlagen. Lapidar heißt es in den Serienurteilen des Amtsgerichts Itzehoe: »Entscheidungsprozesse werden in unserer demokratischen Ordnung nicht durch Meinungsumfragen entschieden.« Das Bayerische Oberste Landesgericht drechselte die denkwürdigen Sätze: »Ebenso wenig kommt es darauf an, ob „in der Bevölkerung“ die Teilnahme an Blockaden der verfahrensgegenständlichen Art als verwerflich angesehen wird. Auch die Frage, ob dieses einschränkende Merkmal gegeben ist, unterliegt nämlich im Rahmen der freien Beweiswürdigung allein der Entscheidung des an Recht und Gesetz gebundenen Richters. Die mehr oder weniger fundierte Einstellung eines Teils der Bevölkerung zu einer Rechtsfrage wäre keine geeignete Grundlage, auf die der Richter seine … Entscheidung stützen könnte.« (Urteil vom 4.8.1987-RReG. 3 St 122/87). Und in summarischer Schludrigkeit führt das Landgericht Ellwangen aus: »Die rechtliche Ausgestaltung wertungsabhängiger Begriffe … kann nicht der Disposition einzelner, auch wenn es sich um wenige tausend Menschen — im Verhältnis zu den über 60 Millionen Bundesbürgern — handelt, überlassen bleiben. Dies wäre das Ende einer geordneten unvorhersehbaren Rechtsprechung.« (Beschluss vom 25.6.1987-Qs 152/87-10).

Der Maßstab der gesellschaftlichen Akzeptanz als strafbarkeitsbegrenzendes Merkmal hat eine nicht immer vollständig gesehene Vorgeschichte. Im NS-Strafrecht musste die Gewalt dem »gesunden Volksempfinden« widersprechen. Über dem Unbehagen, dass der Gesetzgeber bzw. die Gerichte nach 1945 lediglich das Etikett für ein und denselben Maßstab ausgewechselt hatten, vergisst man leicht, dass die Richter des »Dritten Reiches« sich in ihren schlimmsten Unrechtsentscheidungen zwar auf das »Volksempfinden« beriefen, tatsächlich aber ohne Rücksicht auf die Anschauungen der — oftmals menschlicher als die Richter denkenden — Bevölkerung ihre eigenen Ansichten und die der NS-Spitzen an deren Stelle setzten.

Dass Sitzblockaden in der »allgemeinen Anschauung« — und zwar nicht nur der »Unverständigen« in der Bevölkerung — längst als legale Demonstrationsformen gebilligt werden, äußert sich auch darin, dass neben dem 4:4-Stimmenverhältnis der Blockadeentscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Strafverfolgungsbehörden in Anwendung einer Doppelmoral selbst bei weitaus effektiveren Verkehrsbehinderungen — Blockaden der Fernlastfahrer; Treckerblockaden von Landwirten — grundsätzlich nichts unternehmen. Dies alles und dass selbst viele Richter in der Verwerflichkeitsfrage anders denken oder bereits die Gewaltfrage verneinen und deshalb zu Freisprüchen gelangen, wird mit Fleiß verschwiegen.

Gewiss ist das Zustandekommen einer über-zeugenden, in sich stimmigen Urteilsbegründung auch eine Sache des Fleißes und der Intelligenz. Oftmals lässt sich im richterlichen Alltagsbetrieb Flüchtigkeit nicht vermeiden; auch die Blockade-Richter halten sich nicht für unfehlbar. Anders, wenn ein Richter in einem Grundsatzurteil, an dessen Gründen er immer und immer wieder gefeilt hat, aus-gerechnet einen zentralen Punkt ausspart. Dann kann dies ein Indiz dafür sein, dass er zu seinem Ergebnis um jeden Preis, unabhängig von den anerkannten Auslegungsregeln kommen wollte. Wüsste man nicht genug über die Möglichkeiten einer tiefenpsychologischen Selbstimmunisierung (das »in die eigene Tasche lügen«), käme man um die Feststellung der Böswilligkeit nicht herum. Kann sich ein Richter aber noch auf Gutgläubigkeit berufen und zieht er sich dann nicht selbst den Verdacht der Rechtsbeugung zu, wenn er einen in Rechtsprechung, Wissenschaft und von der Verteidigung besonders hervorgehobenen Streitpunkt in den Urteilsgründen bewusst übergeht?

Mit unserer Aktion wollten wir neben dem Protest gegen die Raketen deutlich machen, dass man — gerade als Richter — die Sitzblockaden straf- und verfassungsrechtlich ganz anders beurteilen kann. Ein Blockadeteilnehmer vom 12.1.1987 zu der ersten Hauptverhandlung, die am 9.7.1987 in Schwäbisch Gmünd gegen drei meiner Freunde anstand: »Vor diesem Richter habe ich gemerkt, wir sind argumentativ und als Personen stark genug, unser Anliegen mit Festigkeit auch durch die Gerichtssäle jener Kollegen zu tragen.« Diese erste — geplatzte — Hauptverhandlung hinterließ einen stark verunsicherten, schon im Umgang mit dem prozessualen Instrumentarium völlig hilflosen Richter. Wir werden auch in den künftigen Verhandlungen alles daran setzen, um unredlich oder schlampig vorgehenden Richtern das unordentlich betriebene Handwerk zu legen.

Derweilen nehmen die Strafprozesse in Schwäbisch Gmünd ihren Fortgang. Die erste durchgeführte Verhandlung endete mit einer Verurteilung des Bremer Kollegen Matthias Weinert zu den üblichen zwanzig Tagessätzen. Wann gegen die übrigen Teilnehmer verhandelt werden wird, steht dahin. Gegen vier von ihnen war der Erlass von Strafbefehlen abgelehnt worden (der insoweit in Schwäbisch Gmünd zuständige Richter Krumhard spricht seit Anfang 1987 grundsätzlich frei). Das Landgericht Ellwangen hat die Entscheidungen Krumhards aufgehoben und an einen der anderen Richter in Schwäbisch Gmünd zurückverwiesen, bei dem schon jetzt feststeht, dass er die Strafbefehle erlassen und verurteilen wird.

Ich blicke auf unsere Aktion zurück: Bei der Blockade, ihren Vorbereitungen — Ängste und ihre Überwindung — und Nachbereitung — Analyse der Blockaderechtsprechung — habe ich vielleicht mehr konkrete Rechtserfahrung gemacht, als sie mir in der Ausbildung und im richterlichen Durchschnittsalltag vermittelt worden ist. Dazu gehört auch die Bestätigung der Erkenntnis, dass Recht als das Ergebnis eines gesellschaftlichen Auseinandersetzungsprozesses immer in der Entwicklung begriffen ist. Ein in diesem Zusammenhang unverdächtiger Zeuge ist der gleichen Meinung: »Die Zerrissenheit der Gesellschaft spiegelt sich in der Zerrissenheit des Gerichts (Bundesverfassungsgerichts) wider. … Die Entwicklung wird zeigen, welche der beiden Waagschalen sich senken wird.« (Präsident des BVerfG Wolfgang Zeidler auf dem Jahrespresseempfang des BVerfG am 8.2.1987). Demokratische Juristen und Friedensfreunde sollten vereint den Kampf um eine demokratische Entwicklung des Demonstrationsrechts fortsetzen.

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