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Gefahr im Verzuge / Literatur zur geplanten Notstands­ge­setz­ge­bung

Aus: vorgänge Heft 9/1963, S.283-286

Seit der Ankündigung des damaligen Bundesinnenministers Schröder am 30. Oktober 1958 vor der Polizeigewerkschaft, daß das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland durch einen Notstandsartikel „ergänzt” werden solle, steht dieses Problem zur Diskussion.

Der anfänglich sehr starke Widerspruch in der Öffentlichkeit löste eine Auseinandersetzung zwischen den Gegnern und Befürwortern aus, die z. T. sehr polemisch von beiden Seiten geführt wurde. Durch die außen- und innenpolitischen Tagesereignisse trat dieser Kampf der innenpolitischen Gegner eine Zeitlang in den Hintergrund. Zum nicht geringen Teil trug dazu auch die politische Schwenkung der SPD bei, die sich nicht bei jeder Gelegenheit als negierender Feind der Regierung diffamieren lassen wollte.

In den letzten 15 Monaten ist die Diskussion wieder aufgeflammt. So hat Prof. Ossip K. Flechtheim schon in dem Artikel „Gefahren der Notstandsgesetzgebung” in den Vorgängen 1/63 den jetzigen Entwurf der Bundesregierung (Text S. 30 Vorgänge 1/63) kritisch beleuchtet.

Hier soll nun über einige weitere Aufsätze und Bücher berichtet werden, die sich mit dem Themenkreis, z. T. auch aus der Sicht der Befürworter, eingehend befassen. So erschien bereits 1962 im Verlag Wissenschaft und Politik,. Köln, in der Reihe „Brennpunkt der Diskussion” das Buch „Notstandsgesetze – aber wie?” mit Beiträgen von Adolf Arndt und Michael Freund. Obgleich die beiden Autoren in ihren Stellungnahmen noch auf den 1. Entwurf 1960 des damaligen Bundesinnenministers Schröder Bezug nehmen, ist dieses Buch noch heute durchaus aktuell, weil hier Gelegenheit gegeben ist, den geistigen Standpunkt von Gegnern der von der Bundesregierung verabschiedeten Entwürfe, vertreten durch den SPD-Abgeordneten Dr. Adolf Arndt, und andererseits von den Befürwortern, vertreten durch den Historiker Prof. Michael Freund, kennenzulernen, womit nicht gesagt sein soll, daß Gegner und Befürworter der Notstandsgesetzgebung in allen Fragen mit den jeweiligen Autoren übereinstimmen.

Übrigens unterstellt Prof. Wolfgang Abendroth in den „werkheften” (Zeitschrift für Probleme der Gesellschaft und des Katholizismus, München) Heft 3/62, der Bundesregierung von 1960, daß der 1. Entwurf aus taktischen Gründen von ihr im Bewußtsein der Unannehmbarkeit durch die für die Zustimmung (Zweidrittelmehrheit) erforderlichen Stimmen der SPD dem Bundestag zugeleitet wurde, um die Opposition hierdurch einesteils aufzuweichen, andererseits, um ihr im Wahlkampf zum 4. Bundestag die Schuld für die Nichtannahme von Gesetzen zuschieben zu können. Nach den Wahlen sei das Problem schnell wieder aktuell geworden, ohne daß sich an den inhaltlichen Zielen der Bundesregierung viel geändert hätte.

Eine große Rolle für die Begründung oder Ablehnung der Notstandsgesetzgebung spielt in allen Diskussionen, so auch in den Beiträgen von Arndt und Freund, die Weimarer Verfassung, insbesondere Art. 48 (vgl. Materialien). Hier scheiden sich die Meinungen:

So ist es bezeichnend, daß M. Freund diesen Abschnitt seiner Ausführungen überschreibt „Das Märchen vom Artikel 48”. (Sein auf der gleichen Seite kämpfender Zeitgenosse W. Martini nennt es in seinem Vortrag am 13. November 1961 im Rhein-Ruhr-Club in Düsseldorf „Die Legende vom Art. 48”.) Freund schreibt: „Im politischen Märchenbuch wird erzählt, daß die Deutsche Demokratie an der halbmonarchischen Gewalt des Reichspräsidenten und an dem Dämon Art. 48, dem Ausnahmerecht, zugrunde gegangen sei. Die Wahrheit aber ist, daß sie verdarb, weil sie keinen starken Reichspräsidenten besaß, kein Staatsoberhaupt, das die plebiszitäre Gewalt, die ihm seine Wähler 1932 gegeben, zur diktatorischen Machtausübung gegen die aufsteigende totalitäre Herrschaft gebrauchen wollte, weil die Wähler des Reichspräsidenten von ihm Legalität bis zum Selbstmord verlangten, und weil Art. 48 nicht angewandt wurde…” An anderer Stelle: „Wagemut, die Verwegenheit der ,kühnen Stunde`, das Wissen darum, daß in einer solchen Stunde die großen Fragen nur durch ,Blut und Eisen‘ zu lösen sind, hätten Deutschland noch retten können — also allein der Geist des Art. 48” (S. 113—114).

Während Freund also den „guten Geist” des Art. 48 lobt und nur bedauert, daß er nicht genügend angewendet wurde, kommt Arndt zu einer völlig anderen Auffassung, wenn er die Hauptfehler des Art. 48 hervorhebt, vor allem, daß damit eine Doppelköpfigkeit der Gesetzgebung verursacht wurde und im Volk durch die ständige Anwendung (etwa 250 mal) das Gefühl für demokratische Verantwortung der Parteien und für die Teilung von Legislative und Exekutive verlorenging. „Wird der Ausnahmefall — wozu Art. 48 der Weimarer Verfassung die Möglichkeit bot — paradoxerweise zur Regel, so löst sich die Verfassung selber auf” (S. 19).

Aus der Betrachtung dieser geschichtlichen Epoche leitet sich ganz wesentlich der Standpunkt zur jetzigen Frage einer Notstandsgesetzgebung ab. So heißt es bei Freund über die Dauer des Notstandes: „Aber das Grundgesetz läßt nur sechs Monate Notstand zu. Die kurze Zeit entwertet in der Tat den Begriff des Notstandes” (S. 142). Es ist bei Freund hier der bereits im Grundgesetz verankerte Gesetzgebungsnotstand gemeint (Art. 81), während es bei . Arndt in seiner Kritik zum Entwurf der Notstandsgesetzgebung 1960 heißt: „4. Er verwischt den Übergang zwischen Normalzustand und Ausnahmezustand. Der Ausnahmezustand droht unbemerkt ein Dauerzustand zu werden” (S.66).

Eine weitere große Rolle spielt in der Auseinandersetzung der Artikel 5/2 des Deutschlandvertrages (vgl. Materialien) in der Fassung vom 23. Oktober 1954. Mit der Ablösung dieser „Sicherheitsklausel” der drei Mächte (USA, Großbritannien, Frankreich) soll vor allem begründet werden, daß eine Notstandsgesetzgebung unbedingt erforderlich sei. Während Freund betont, daß die Bundesrepublik Deutschland bisher noch nicht die Voraussetzungen für eine Ablösung des Notstandsrechts der Alliierten geschaffen habe, schränkt Arndt mindestens ein, indem er ausführt, daß sich dieser Art. 5/2 nur auf den Fall der Verteidigung gegen die Bedrohung durch einen fremden Staat beziehe.

W. Abendroth ist in dem bereits zitierten Artikel der Ansicht, daß durch die Ergänzung des GG für den Verteidigungsfall (Art. 59 a und 65 a) bereits eine Rechtsform geschaffen sei, die die Vorbehaltsrechte der Alliierten ablöse, und daß es Sache der Bundesregierung gewesen sei, die ehemaligen Besatzungsmächte auf diesen Tatbestand hinzuweisen und dadurch zum Verzicht auf ihren Vorbehalt zu bewegen.

Immerhin sollte man zur Kenntnis nehmen, daß in diesem Art. 5/2 noch ein Passus steht, der meist im Zitat dann weggelassen wird – so auch bei Freund und Arndt. Denn es

heißt dort auch: „Soweit diese Rechte weiterhin ausgeübt werden können, werden sie nur nach Konsu1tation mit der Bundesregierung ausgeübt werden, soweit die militärische Lage eine solche Konsultation nicht ausschließt, und wenn die Bundesregierung darin übereinstimmt, daß die Umstände die Ausübung derartiger Rechte erfordern …”

Da die drei Mächte unsere Verbündeten in der NATO und Partner in anderen supranationalen Organisationen sind, und da mit dem Absatz „und wenn die Bundesregierung darin übereinstimmt” nahezu eine Art Veto-Recht der Bundesrepublik gegeben ist, sehen einige Gegner der Notstandsgesetzgebung in der Fassung des damaligen und jetzigen Regierungsentwurfs im Art. 5/2 keine triftige Begründung für die Ergänzung des GG.

Rechtsanwalt Heinrich Hannover kommt in seiner Schrift „Zur Frage einer Notstandsverfassung” sogar zu der Auffassung, daß der Art. 5/2 des Deutschlandvertrages u. U. unsere letzte Hoffnung sein könne, daß uns eine Neuauflage des faschistischen Staates erspart bleibe.

Michael Freund befaßt sich in seinem Beitrag zur Begründung einer Notstandsverfassung mit verschiedenen Arten von Notständen. So bedauert er in dem Kapitel Parteiennotstand, daß das Parteienverbot (Art. 21/2 GG) zum politischen Strafrecht gehöre und daß das nie reines Recht sei. Es strafe ohne den vollgültigen Beweis. So weit, so gut. Er begründet damit aber ein „kühn konzipiertes Notstandsrecht” ünd fordert in diesem Zusammenhang die Wiedereinführung der alten Rechtsinstitute der Festungshaft und der Schutzhaft. „Selbst für das ,Lager` läßt sich bei äußersten Garantien etwas sagen, wenn die Gewalt des Staates über die Insassen des Lagers an der Lagerumzäunung aufhört.”

„Die Not der Polizeihilfe” genügt Freund offenbar auch nicht (gemeint ist Art. 21 GG), wenn er zitiert, daß die Bundesregierung zeitweilig an die Aufhebung des Art. 143 GG (Verwendung der Streitkräfte bei innerem Notstand) gedacht hätte, um nicht länger sich die Bundespolizeimacht zusammenbetteln zu müssen, wie die UNO ihre Truppe im Kongo. — Nach Art. 115 b/3 und 115/1 Abs. 3 des jetzigen Entwurfs der Bundesregierung ist der Einsatz von Streitkräften im Innern tatsächlich vorgesehen.

Im Kapitel „Der Regierungsnotstand” bedauert Freund die in jeder demokratischen Verfassung verankerten freien, geheimen Wahlen. Er schreibt hierzu: „Die Wahlstimme, die sich öffentlich zu bekennen wagt, ist aber zehnmal mehr wert, als diejenige, die sich verbirgt und Schutz sucht hinter dem Wahlgeheimnis, das in, der freien Gesellschaft theoretisch keinen Platz hat…” (Und dies, obgleich die Bundesregierung als Voraussetzung für eine Wiedervereinigung freie geheime Wahlen in der DDR fordert!) Er kommt dann zu den Begriffen des „konstruktiven Mißtrauens”, der „Legalitätsreserve”, dem „Gesetzgebungsnotstand” und einigen weiteren damit zusammenhängenden Problemen. In seinem letzten Kapitel „Demokratie als Wagnis des Vertrauens”, mit dem er seinen Gesamtbeitrag auch überschreibt, kommt er schließlich zu der Aussage, daß nichts törichter sei, als der Satz, daß das Mißtrauen die Pflicht der Bürger wäre. „Die Tugend der Demokratie ist im Gegenteil das Vertrauen. Die Demokratie setzt voraus — sonst ist sie unmöglich —, daß man Menschen vertrauen kann…”

Arndt kommt in seinem Beitrag nach Zitierung des gesamten Entwurfs 1960 — auf den Freund in seinem Beitrag übrigens direkt nicht eingeht — zu der Schlußfolgerüng, daß dieser Entwurf die wesentlichen Erkenntnisse der Staatsrechtslehre und der politischen Wissenschaft außeracht lasse und daß er den schweren Fehler habe, daß er nicht als Diskussionsgrundlage dienen könne.

Arndt befaßt sich dann mit einigen Einzelbestimmungen des Entwurfs von 1960, auf die hier im einzelnen nicht eingegangen werden kann, von denen aber im Zusammenhang mit dem neuen Entwurf des jetzigen Bundesinnenministers Höcherl bei der Besprechung von zwei weiteren Büchern noch die Rede sein wird.

Hier sei vielleicht noch festgehalten, daß bei der Behandlung der im Grundgesetz bereits gegebenen Möglichkeiten zur Bewältigung eines inneren Notstandes im Verhältnis zu denen der Weimarer Verfassung Arndt zu dem Vergleich kommt, daß in gesetzlicher und technischer Ausrüstung zum militanten Schutz ihrer Verfassung die Bundesrepublik einem mit Polarisraketen bewaffneten Atom-U-Boot gleiche, die Weimarer Verfassung dagegen einem Schutzmann an der Ecke.

Arndt befürchtet in dem Kapitel „Notstand und Gewerkschaften”, daß der Kern des ersten Entwurfs der Bundesregierung sei, daß er die Verhältnismäßigkeit von Mittel und Ziel als Rechtsgrundsatz radikal verletze und nicht zum Schutz der Verfassung bestimmt sei, sondern einer Aufhebung der Verfassung Tür und Tor öffne. Im abschließenden Kapitel bezeichnet Arndt die Gefahr eines inneren Notstandes als nicht aktuell; er bezweifelt, daß sie überraschend eintreten kann und ist der Überzeugung, daß der Staat ihr gegenüber nicht wehrlos ist. Arndt ist vielmehr besorgt, daß Deutschland infolge autoritär-obrigkeitsstaatlicher Denkweise durch einen Mißbrauch der Staatsgewalt portugalisiert werden könnte. Er sieht die Gefahr des Staatsstreiches infolge Übermacht der Staatsbefugnisse als viel aktueller und größer an, als die Möglichkeit eines sogenannten inneren Notstandes. Arndt ist jedoch im Einklang mit seiner Partei nicht gegen jede Notstandsverfassung, sondern plädiert mindestens im Falle des äußeren Notstandes und des Katastrophennotstandes für gewisse gesetzliche Regelungen.

Im Frühjahr dieses Jahres kam in der Europäischen Verlagslagsanstalt eine kritische Studie zur Problematik der Notstandsgesetzgebung heraus, die Jürgen Seifert zum Verfasser hat. Er gab seinem Buch den Titel „ Gefahr im Verzuge„, ein Schlagwort, das im Text des Entwurfs der jetzigen Bundesregierung mehrmals vorkommt.

In seiner Einleitung zu dem Buch empfiehlt Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer, die Grundgesetzänderung zu vertagen; sie solle nicht in einer Atmosphäre vorgenommen werden, in der die Regierung weiten Teilen des Volkes und weite Teile des Volkes der Regierung mißtrauten. Auch Bauer ist der Meinung, daß die bestehenden gesetzlichen Regelungen des Grundgesetzes und des Strafrechts zur Verhinderung oder Behebung eines inneren Notstandes völlig ausreichen. Die Regelungen für den „Zuständ der äußeren Gefahr” sieht Bauer ebenfalls nicht als dringend an, da der Kalte Krieg seit der Kuba-Krise im Abklingen begriffen sei. Jürgen Seifert mißtraut den Beteuerungen unserer Exekutive über die geplanten Notstandsgesetze, wenn er gleich auf der ersten Seite an die letzte Vergangenheit erinnert und schreibt: ,Zu oft war, wenn es hieß ,Gefahr im Verzuge‘, Gefahr von jenen im Verzuge, die Rettung vor Gefahr versprachen. Wir haben Retter kennengelernt, die vernichteten, was sie zu retten vorgaben.”

Der Autor geht in seinem Buch ebenfalls von Art. 48 der‘ Weimarer Verfassung aus, wobei er bemerkt, daß selbst der Bundeskanzler in einer Erklärung vom Jahre 1954 noch beteuert habe, daß die Bundesregierung keinen neuen Artikel 48 wolle.

Im nächsten Kapitel werden die allgemeinen Notstandsregeln behandelt, die bereits in unserer Rechtsordnung verankert sind. In diesem Zusammenhang werden aus dem GG die Art. 91 (Notstand von Bund und Ländern), Art. 37 (Bundeszwang bei Nichterfüllung der Bundespflichten durch ein Bundesland) und Art. 81 (Gesetzgebungsnotstand) näher erläutert. Anhand der Art. 9/2, Art. 18 und 21/2 des Grundgesetzes werden die Möglichkeiten aufgezeigt, mit denen der Staat gegen die. Gegner seiner Verfassung vorgehen kann. Seifert weist auch auf die Tätigkeit der Ämter für Verfassungsschutz hin, die den Auftrag haben, alle verfassungsfeindlichen Kräfte zu überwachen.

Bei der Zusammenstellung der allgemeinen Notstandsregeln, die bereits durch die bestehende Gesetzgebung möglich sind, hätte Seifert auch noch auf den § 32 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes eingehen sollen, von dem Prof. Abendroth in dem bereits zitierten Artikel in den werkheften 3/62 schreibt, daß durch einstweilige Anordnung jede erforderliche Sofortmaßnahme getroffen werden kann, damit bei Putschversuchen oder anderen Gewaltakten innerer Feinde der Demokratie kein Zeitverlust entsteht, der die Rechtsordnung gefährden könnte.

Im Kapitel Notstandsbefugnisse im Verteidigungsfall werden auch die Gesetzesvorbehalte bzw. Einschränkungen erwähnt, die nach Art. 5/2 (freie Meinungsäußerung), Art. 8/2 (Versammlungsfreiheit), Art. 10, 2. Satz (Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis) sowie Art. 14/2, 3 im GG vorgesehen sind. Auf die Notstandsbefugnisse der Alliierten geht der Autor ; mit besonderer Ausführlichkeit ein, indem er die Professoren , Grevice und Furler seitenlang zitiert. CDU-MdB Furler habe beispielsweise anläßlich der Ratifizierung der Verträge am 15. Februar 1955 im Bundestag ausgeführt, daß das Erlöschen der (alliierten) Vorbehaltsklausel (Art. 5/2 Deutschlandvertrag) eintrete, ohne daß ein Gesetz mit einem konkret vorgeschriebenen Inhalt vorausgesetzt wurde. Seifert steht ebenfalls auf dem Standpunkt, daß mit der 1956 im GG eingefügten Wehrverfassung die Forderungen der Alliierten erfüllt seien.

Die Argumente der Befürworter einer zusätzlichen Notstandsregelung sehen in Seiferts Augen sehr dünn aus und beziehen sich hauptsächlich auf mögliche politische Streiks der Gewerkschaften. Nach Darstellung der verschiedenen Gesichtspunkte aus den Reihen der SPD und der Stellung der Gewerkschaften zur Notstandsgesetzgebung beschäftigt sich Seifert mit den Einzelbestimmungen des Entwurfs der Bundesregierung vom 31. Oktober 1962.

Als schwerwiegend sieht er die Begründung der Bundesregierung über den Eintritt des Notstandes in Spannungszeiten an (Drohen eines Angriffs). Dieser Fall könne eintreten, heißt es bei der Bundesregierung, „wenn aufgrund nachrichtendienstlicher oder anderer geheimer Quellen, die den vorliegenden Erfahrungen nach als zuverlässig gelten können, ein bewaffneter Angriff eines fremden Staates oder einer fremden Regierung auf das Bundesgebiet als unmittelbar bevorstehend erscheint oder wenigstens ernstlich mit einem solchen Ereignis gerechnet werden muß, auch ohne daß eine für alle Welt offenkundige internationale Spannung zu bestehen braucht.” Da bei Gefahr im Verzuge der Bundespräsident mit Gegenzeichnung des Bundeskanzlers den Zustand erklären könne, sieht Seifert mit Recht die große Gefahr einer solchen Globalvollmacht, die ein autoritär denkender Kanzler unter Hinweis auf die Verfassung schmählich mißbrauchen könnte.

Ganz allgemein ist der Autor der Auffassung, daß es der Regierung durch die äußerlich erfüllte Forderung der SPD nach Unterscheidung der verschiedenen Notstandsarten gelungen sei, gegenüber dem ersten Entwurf von 1960 noch weitere Tatbestände zu erfassen. Die parlamentarische Verantwortung sei in dem jetzigen Entwurf noch weiter in den Hintergrund getreten. Dies macht er besonders an dem Art. 115/h deutlich, nach dem der „Zustand der äußeren Gefahr” automatisch als eingetreten gilt, wenn das Bundesgebiet mit Waffen angegriffen worden ist. Er nennt diesen Artikel treffend eine „Gleiwitz-Klausel”, womit er daran erinnert, daß der Sender Gleiwitz von Deutschen in polnischer Uniform 1939 „angegriffen” wurde. Wenn in der offiziellen Propaganda immer wieder hervorgehoben wird, daß der Entwurf des jetzigen Bundesinnenministers Höcherl gegenüber dem Entwurf 1960 des damaligen Bundesinnenministers Schröder wesentlich milder sei, so hat Seifert in seinen Ausführungen offenbar den umgekehrten Eindruck.

In dem folgenden Kapitel wird die Einschränkung von Grundrechten kritisiert. Die Notwendigkeit einer solchen Einschränkung sei bisher nicht begründet dargelegt worden. Seifert zitiert hierzu die kritischen Äußerungen des hessischen Ministerpräsidenten Zinn und die Entschließung des deutschen Presserats vom 11. Dezember 1962, in der der Verdacht geäußert wird, daß die Presse primär als eine lästige, gefährliche und des Vertrauens nicht würdige Einrichtung betrachtet würde.

Als besonders bedenklich wird die vorgesehene Einschränkung des Art. 104/2, 3 GG angesehen, der im Falle der Freiheitsentziehung die richterliche Vernehmung und Vorentscheidung binnen 24 Stunden vorschreibt, und die im Notstandsfall bei großzügiger Auslegung der „Soll-Vorschrift” des Art. 115 a, Abs. 2, praktisch eine richterliche Vernehmung mindestens eine Woche, wenn nicht noch länger, hinausschiebt. Die Bundesregierung hat einem Antrag des Bundesrats auf Umwandlung der „Soll“-Vorschrift in eine „Darf“-Vorschrift widersprochen, was Seifert zu der Bemerkung veranlaßt, daß es abenteuerlich sei, daß die Bundesregierung es wage, die Behauptung aufzustellen, für derartige Fälle sei es nicht möglich, innerhalb einer Woche einen Richter aufzutreiben.

Das vorgelegte Zivildienstgesetz hat bei verschiedenen Verfassungsjuristen Bedenken bezüglich seiner Übereinstimmung mit dem Grundgesetz hervorgerufen. Seifert brandmarkt die darin enthaltenen Möglichkeiten als NS-Methoden, wenn er von der Militarisierung des gesamten Arbeitsprozesses spricht und aus dem Gesetzentwurf über die Möglichkeit berichtet, Zivildienstpflichtige in Arbeitslager mit Gemeinschaftsverpflegung einzuweisen und gegebenenfalls zu uniformieren und dies sogar in Friedenszeiten, wenn es die Bundesregierung „den Umständen nach für dringend erforderlich” hält. Die damit verbundene Einschränkung der Tätigkeit der Gewerkschaften wird eingehend geschildert.

Der Autor beschäftigt sich weiterhin mit dem Einsatz von Streitkräften, mit den Notverordnungen und deren Geltungsdauer, mit dem inneren Notstand, sowie mit dem Verhältnis zwischen Bund und Ländern; er meldet ferner Bedenken an, ob das Bundesverfassungsgericht nach dem Entwurf noch einwandfrei funktionieren kann, und berichtet abschließend über die erste Lesung des Gesetzentwurfs im Bundestag am 24. Januar 1963, von der er bedauert, daß es wegen der von der SPD angestrebten Politik der „Gemeinsamkeit” zu keiner klaren Auseinandersetzung kam. Seifert betont, daß damit die Entscheidung über das verfassungsändernde Notstandsgesetz praktisch den Augen der (Öffentlichkeit entzogen und in die Ausschüsse verlagert wurde. Erst wenn es in den Ausschüssen zu keiner Einigung zwischen den Parteien komme, dürfe man bei der zweiten Lesung mit einem Aufeinanderprallen der unterschiedlichen Auffassungen rechnen.

Über die Ergebnisse der Diskussion berichtet Seifert zusammenfassend, wobei die Äußerung des Bundesinnenministers Höcherl bei der Aussprache von besonderem Interesse sein dürfte, daß ohne eine verfassungsrechtliche Notstandsregelung die „verantwortlichen Organe der Staatsführung” im Ernstfall dem Konflikt ausgesetzt seien, sich notfalls „auf einen übergesetzlichen Notstand mit all seinen flexiblen Möglichkeiten” zu berufen. Kein Bundestagsabgeordneter hätte diesen angedeuteten möglichen Tatbestand als Verfassungsverrat, der nach § 89 StGB mit Zuchthaus bestraft wird, gekennzeichnet.

In seiner zusammenfassenden Stellungnahme lehnt Seifert die vorgeschlagenen Regelungen eines „Zustandes der inneren Gefahr und eines Katastrophenzustandes” völlig ab und verlangt für die übrigen Regelungen parlamentarische Kontrolle und Aufsicht auch durch das Bundesverfassungsgericht. In den Schlußbetrachtungen nennt Seifert den Entwurf der Bundesregierung ein Ermächtigungsgesetz mit Zeitzünder.

Im Anhang des Buches hat Seifert die wichtigsten während des Textes zitierten Gesetze und Gesetzentwürfe zusammengestellt, wobei er auch insbesondere die verfassungsrechtlichen Regelungen der Länder für den Fall des Notstandes aufführt. Außer den beiden Regierungsentwürfen zur Notstandsgesetzgebung von 1960 und 1962 sind auch einige Änderungsvorschläge des Bundesrats mit der Stellungnahme der Bundesregierung im Anhang zu finden. Man vermißt jedoch den Text des Entwurfs zum Zivildienstgesetz, der in eine zu wünschende Neuauflage mit aufgenommen werden sollte. Eine ausführliche Zusammenstellung von Literaturhinweisen ergänzt die überaus sachlichen und kritischen Darstellungen des Autors Jürgen Büscher

(Fortsetzung folgt)

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