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Bayerische Justiz darf nicht geltendes Recht durch kirchliche Moral­vor­stel­lungen ersetzen

In: vorgänge Nr. 96 (6/1988), S. 107f.

Der Frauenarzt Dr. H. Theissen ist angeklagt, weil er entgegen den Bestimmungen des § 218 StGB Schwangerschaftsabbrüche bei Frauen vorgenommen habe, die ihn in Notlagen um Hilfe baten. Ob und ggf. in welchem Umfang hierbei tatsächlich gegen geltendes Recht verstoßen wurde, werden Gerichte zu klären haben.

Worauf im Zusammenhang mit diesem Prozeß hingewiesen werden muß, weil der hier behandelte Fall nur bei Kenntnis dieses Hintergrunds zu verstehen ist, sind die eindeutigen Verstöße gegen geltendes Recht durch Landesregierung und kommunale Gremien im Süden der Bundesrepublik Deutschland.

Nach geltendem Recht entscheiden Ärzte und Pflegepersonal selbst, ob sie Schwangerschaftsabbrüche bei Vorliegen der erforderlichen Indikation vornehmen bzw. dabei mitwirken oder nicht. Gerade im oberschwäbischen Raum werden durch politische Gremien, beispielsweise Kreistage, Schwangerschaftsabbrüche in kommunalen Krankenhäusern bei Notlagen-Indikationen generell untersagt; eine Entscheidungsfreiheit des Krankenhauspersonals existiert nicht mehr. So hat beispielsweise der Landrat des Landkreises Biberach, Dr. Steuer, bei der Einweihung des neuen Kreiskrankenhauses festgestellt, daß »es auch im neuen Haus keine Abtreibungen aus sozialer Notlage gebe« (siehe Schwäbische Zeitung vom 21.8.87 – Die Schwäbische Zeitung gehört zu 50% der bischöflichen Finanzkammer der Diözese Rottenburg).

Privatkliniken, die bereit sind, bei Vorlage der erforderlichen Bescheinigungen Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, werden in der dortigen Lokalpresse (siehe Schwäbische Zeitung vom 10.6.88) als »Abtreibungskliniken« denunziert und ständig durch sog. »Mahnwachen« der »Paneuropa Union« vor diesem Krankenhaus terrorisiert, bis sich dann der Leiter zur Aufgabe der Klinik entschließt; so geschehen in Ravensburg.

Schwangerschaftsabbrüche in ambulanter Behandlung sind sowohl in Kliniken als auch in Arztpraxen in den Bundesländern Bayern und Baden-Württemberg untersagt. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum ein menschlich handelnder Arzt, der Patientinnen hilft, die weder über die finanziellen Mittel noch über die Freizügigkeit verfügen, in andere Bundesländer ausweichen zu können, notwendigerweise strafbar wird.

Als anläßlich der Volkszählung einige Organisationen zum Boykott dieses Vorhabens aufriefen, wurden sie von vielen Politikern und Presseorganen, gerade auch im Süden der Bundesrepublik, in die Nähe von Staatsfeinden gerückt, in Aufrufen, ein parlamentarisch beschlossenes Gesetz zu unterlaufen, sah man eine staatsgefährdende Handlungsweise. Akzeptiert man diese Bewertung, ist die Frage zu stellen, wie unter diesem Gesichtspunkt Kommunal- und Landespolitiker einzuschätzen sind, die seit der Neufassung des § 218 StGB nichts unversucht lassen, um dieses Bundesgesetz zu unterlaufen und auszuhöhlen, und die sich dieser Handlungsweise noch in aller Öffentlichkeit rühmen.

Das Gericht wird deshalb nicht nur zu prüfen haben, ob bei Dr. Theissen ein Gesetzesverstoß vorliegt, sondern mit derselben Gewissenhaftigkeit prüfen müssen, ob die bayerische Landesregierung und der Kreistag gegen geltendes Recht verstoßen und Bundesrecht unterlaufen haben, sodaß die Schwangerschaftsabbrüche durch Dr. Theissen als Nothilfe gerechtfertigt sind.

Dieser Fall zeigt erneut die Richtigkeit der Auffassung der Humanistischen Union, die jegliche strafrechtliche Sanktionen bei Schwangerschaftsabbrüchen ablehnt.

München, den 2. September 1988

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