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War da was? Am Zeitschrif­ten­-Ki­osk: Bürgertum und Bundes­re­pu­blik

Gustav Seibt in der „Süddeutschen Zeitung“

Der schillernde Begriff der bürgerlichen Gesellschaft als Voraussetzung des demokratischen Rechts- und Verfassungsstaates bringt es mit sich, dass die reizvollsten soziokulturellen Zeitdiagnosen sich immer wieder am Bürgertum festmachen. Wie geht es ihm? Wer das plausibel schildern kann, der fasst die geistige Situation der Zeit und die politische Landschaft in ein zusammenhängendes Bild. Der Begriff des Bürgerlichen wird dabei letzthin wieder etwas strenger gefasst, in Abgrenzung zu neuen „Unterschichten“ – bezeichnenderweise vor allem am Bildungsstand und an den Ernährungsgewohnheiten fassbar -, aber auch im Sinne jener Selbständigkeit und Eigenverantwortung, wie sie der schwankende Sozialstaat herausfordert. Wer über solche Fragen nachdenken will, eher theoriepolitisch und intellektuell als soziologisch, der lese die anregende jüngste Ausgabe der Zeitschrift „vorgänge“ (Vorgänge, 44. Jg. Nr. 170: Rückkehr der Bürgerlichkeit. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005.)

Das Schöne an diesem Heft ist, dass wir im Gewand theoretischer Reflexion eine Reihe kluger Bekenntnisse junger Intellektueller zur Bürgerlichkeit lesen – fern vom angestrengten Literatendünkel der Popfraktion. Der Historiker Jens Nordalm zeigt, wie viel bürgerlicher Lebensstil selbst unter ungesicherten materiellen Verhältnissen heute verbreitet ist; Jens Hacke liest die konservativen Apologien des Bürgerlichen zwischen Joachim Fest, Odo Marquard, Hermann Lübbe, überhaupt der Ritter-Schüler als Anti-anti-Bürgerlichkeit; großartig ist der Essay von Joachim Fischer, der die Theorien Bourdieus und Luhmanns als Thematisierungen von Bürgerlichkeit unter dem Gesichtspunkt ihrer Nicht-Notwendigkeit („Kontingenz“) nach dem Faschismus und während des kalten Krieges liest – mit charakteristischen kulturphysiognomischen Unterschieden zwischen dem auf Repräsentationen achtenden Franzosen Bourdieu und dem Deutschen Luhmann, der den Einzelnen im „System“ verortet. Solche Brillanz versöhnt auch mit dem etwas plauderhaften Gespräch zwischen Paul Nolte und Ralf Dahrendorf, in dem es unter anderem um so unbürgerliche Exzesse wie den öffentliche Dosenbiergenuss in Dahrendorfs Schwarzwalddorf geht. […]

Wer diese beiden Zeitschriftenhefte hintereinander oder kreuz und quer liest, der ahnt etwas Werdendes: Deutschland bekommt ein neues Gesicht, ja, nach längerer Zeit überhaupt wieder eine Physiognomie, eine neue Epochenfarbe. Warum? Weil es wieder soziale Spannungen gibt. Volksgemeinschaft, Volksstaat und nivellierte Mittelstandsgesellschaft sind passé. Wo die Ränder breiter werden, muss die Mitte sich konturieren. Vielleicht ist Bürgerlichkeit heute seit langer Zeit wieder mehr als nur eine Stilfrage.

GUSTAV SEIBT

Quelle: Süddeutsche Zeitung, Nr. 299, Mittwoch 28. Dezember 2005, Seite 14

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