A. Das Urteil verstößt seinerseits gegen die Verfassung
aus: Ulrich Vultejus & Ursula Neumann, Im Namen des Volkes. Unfreundliche Bemerkungen zum § 218-Urteil von Karlsruhe. HU-Schriften Nr. 19, München 1993
1. Das Grundgesetz fordert die weltanschauliche Neutralität des Staates und schreibt die Trennung von Staat und Kirche fest. Das Urteil geht jedoch von Vorstellungen aus, die – auf einem kirchlich-fundamentalistischen Welt- und Menschenbild beruhend – weder die Autonomie der gesellschaftlichen und politischen Bereiche noch das Selbstbestimmungsrecht der Frau als einen Wert anerkennt. Das Selbstbestimmungsrecht der Frau wird nicht einmal als ein Wert anerkannt, der abzuwägen sei gegen das statuierte Lebensrecht des Embryos. Der Körper der Frau wird nur als Gefäß gesehen, in dem der Embryo gegen die Frau zu schützen sei.
2. Das Gericht überschreitet mit vielen bisher nicht gekannten Einzelregelungen, insbesondere zur Beratung der Schwangeren und der Finanzierung eines Abbruchs, die Grenzen, durch die die Verfassung die Aufgabenbereiche der Gesetzgebung und der Rechtsprechung sorgsam geschieden hat und dringt in den Freiraum des Gesetzgebers ein. Der Vorteil: Soweit das Gericht diese Grenzen überschritten hat, ist das Urteil für die Gesetzgebung nicht verbindlich.
3. Das Bundesverfassungsgericht hat für die Zeit nach seinem Urteil eine Anordnung erlassen, sie freilich nicht einmal begründet. Das Gericht kann, wie jedes andere Gericht auch, Einstweilige Anordnungen nach § 32 BVerfG für die Zeit bis zur Endentscheidung treffen, nicht jedoch für einen weiterreichenden Zeitraum. Das Bundesverfassungsgericht kann ferner nach § 35 BVerfG bestimmen, wer seine Entscheidungen vollstreckt und auch im Einzelfall die Art und Weise der Vollstreckung regeln. Es kann jedoch nicht eine Einstweilige Anordnung für die Zeit nach der Endentscheidung bis zum Inkrafttreten einer neuen gesetzlichen Regelung erlassen. Insoweit hängt das Urteil damit rechtlich in der Luft.
Die zeitliche Grenze für eine Anordnung gibt aus der Sicht des Gerichtes auch Sinn. Das Bundesverfassungsgericht hatte nur
darüber zu entscheiden, ob ein vom Gesetzgeber beschlossenes Gesetz mit der Verfassung vereinbar ist oder nicht. Die Über-gangsregelung ist die logische Folge der Tatsache, daß das Gericht gegen die Verfassung diese Grenze seiner Aufgabe überschritten hat und hierdurch einen Regelungsbedarf hervorgerufen hat. Geradezu grotesk ist es, daß sich die etwaige Strafbarkeit von Frauen im Osten Deutschlands auf absehbare Zeit hinfort nicht mehr aus dem Strafgesetzbuch, sondern aus dem Verstoß gegen ein Gerichtsurteil ergeben soll.
Das Bundesverfassungsgericht hatte 1975 unter seinem damaligen Präsidenten Benda durch sein Urteil die vom Deutschen Bundestag seinerzeit zum ersten Mal beschlossene Fristenlösung verworfen und die Indikationenlösung erzwungen. Es gibt wenige Beispiele für ein solch krasses Fehlurteil. Die Indikationenlösung endete in einem Desaster. Sie hat keinen einzigen Schwangerschaftsabbruch verhindert. Die Zahl der nicht dem Gesetz entsprechenden Schwangerschaftsabbrüche betrug nach allen Schätzungen ein Mehrfaches der gemeldeten legalen Abbrüche. Es ist nicht gelungen, die zahlreichen vom Gesetz nicht gedeckten Schwangerschaftsabbrüche – man mag sie mit deutlich über 70.000 schätzen – zu verhindern oder gar strafrechtlich zu fassen. Nach der Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes für das Jahr 1992 gab es in diesem Jahr in den alten Bundesländern einschließlich Gesamt-Berlin 46 (1991: 35) Ermittlungsverfahren wegen eines Vergehens nach § § 218, 218b, 219, 219a StGB. Diese Zahl entspricht 0,00001 % aller Ermittlungsverfahren. Wenn man bedenkt, daß die Polizei für das gesamte Bundesgebiet die Aufklärungsquote bei diesem Delikt mit 42,6 % angibt und daß nur ein Bruchteil der von der Polizei als auf-geklärt bezeichneten Fälle zu einer Verurteilung führt, kommt man in Bereiche, in denen alle Rechenkunst versagt. Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte haben sich dem Gesetzgeber verweigert. Der durch das – noch heute nicht rechtskräftig abgeschlossene – Verfahren des Landgerichts Memmingen gegen den Frauenarzt Dr. Theißen hervorgerufene Schein täuscht also.
Dieses Desaster hat eine Geschichte, die das Bundesverfassungsgericht schon 1975 hätte kennen können, als es die Fristenlösung verwarf. Zwischen 1919 und 1933 waren in Deutschland jährlich durchschnittlich 4.000 Frauen wegen einer Abtreibung verurteilt worden. Jährlich waren etwa 50.000 Frauen an den Folgen eines Schwangerschaftsabbruchs gestorben. Die Zahl der Toten betrug also etwa das Zwölffache der Verurteilten – bedauernswerte Opfer des Strafrechts.
Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht die Fristenlösung gebilligt und damit mittelbar – durch einen Schwall nicht immer leicht verständlicher Sätze verdeckt – den damaligen Irrtum eingeräumt. Die katholische Deutsche Bischofskonferenz hat den Spruch aus Karlsruhe als „historische und wegweisende Entscheidung“ gewürdigt. Dies ist die erste hochrangige Billigung der Fristenlösung durch die katholische Kirche auf deutschem Boden.
Die Billigung der Fristenlösung ist jedoch teuer mit einer von gesetzeswegen tendenziösen Beratung und dem weitgehenden Ausschluß der Finanzierung des Abbruchs durch die Krankenkassen erkauft. Das Ergebnis ist seltsam:
Eine (westdeutsche) Frau, bei der nach dem bisherigem Recht der Schwangerschaftsabbruch durch eine Indikation gerechtfertigt war, steht sich jetzt schlechter. Gewinnerinnen des Urteils sind jene (westdeutschen) Frauen, die eine Schwangerschaft abzubrechen wünschen, obwohl bei ihnen keine Indikation im Sinne des bisherigen Rechts vorliegt.
Die ostdeutschen Frauen aber sind die Verliererinnen auf der ganzen Linie. Das Bundesverfassungsgericht traut diesen Bürgerinnen weniger Verantwortungsbewußtsein zu als die Regierung der ehemaligen DDR! Diesen Frauen ist die Fristenlösung nur mit starken Belastungen geblieben. Das Gericht hätte wissen können, daß trotz der Fristenlösung in der DDR vergleichsweise mehr Kinder geboren worden sind als in der alten BRD. Das für die Frauen im Osten bisher geltende Recht war dem Bundesverfassungsgericht in dem 183 Seiten langen Urteil und den Verfassern der Sondervoten kein Wort wert. Wäre der Sitz des Bundesverfassungsgericht rechtzeitig von Karlsruhe nach Leipzig verlegt worden, brauchten wir diesen Mangel gewiß nicht zu beklagen. So wird das Urteil die Diskussion über den Sitz des Bundesverfassungsgerichtes neu beleben.
Das Urteil wird den „Tourismus“ in das benachbarte Ausland neu beleben. Die Klinik „Mildred Huis“ in Arnheim – Kosten je Abbruch
bei örtlicher Narkose 400 DM – meldet, daß schon bisher der Anteil der Deutschen 40 % betragen habe und jetzt erstmals auch deutsche Gynäkologen fernmündlich nachfragten. Die Frauen werden die Lektionen des Bundesverfassungsgerichtes lernen müssen:
Geld nach Luxemburg, zum Schwangerschaftsabbruch nach Holland. Auf der Strecke bleiben die Frauen, die kein Geld haben. Ihnen bleibt nur der Weg zum Sozialamt – so oder so.