Themen / Bioethik

Brief an den Herrn Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt

01. Juli 1993

aus: Ulrich Vultejus & Ursula Neumann, Im Namen des Volkes. Unfreundliche Bemerkungen zum § 218-Urteil von Karlsruhe. HU-Schriften Nr. 19, München 1993

Sehr geehrter Herr Bundesverfassungsgericht!

Jede Abtreibung ist eine Abtreibung zuviel. Die Probleme, die damit zusammenhängen, sind komplex und heikel. Deswegen hätten Sie sich ruhig Mühe machen können mit Ihrer Entscheidung zum § 218. Daß Sie sich so wenig Mühe gegeben haben, eine hilfreiche Lösung zu finden, ist schlimm. Aber ich glaube, den Grund zu kennen: Ihr Interesse galt nicht einer solchen hilfreichen Lösung, sondern Ihr Interesse war ein anderes, nämlich: Machtausübung durch Kontrolle. Und dafür haben Sie dann in der Tat keine Mühe gescheut. Sie lieben es zu kontrollieren und haben Angst davor Kontrolle aufzugeben. Sie fürchten (zu Unrecht übrigens), daß das Aufgeben von Kontrolle einen Ansehensverlust zur Folge hätte, und Sie haben (ebenfalls zu Unrecht) Angst, daß ohne Ihre Kontrolle alles aus den Fugen gerät. Womit wir bei einem zweiten Grund wären, der Ihre Ausführungen vom 28.05.1993 so ausfallen ließ, wie sie ausgefallen sind: Ihre Größenfantasien. Sie verwechseln Recht und Moral in einer Weise, daß sie sich nicht nur als Hüter der Rechtsordnung fühlen – was Ihnen zukommt – sondern auch als Hüter der Moral. Wobei Sie dann noch Ihre Moral für die Moral schlechthin halten. Sie scheinen zu glauben, die Menschen verlören das Gefühl für Gut und Böse, wenn Sie nicht da wären, um es ihnen einzubläuen.

Ihr wortreiches Lippenbekenntnis lautet: ‚Schutz des ungeborenen Lebens‘. Wie komme ich darauf, Ihnen zu unterstellen, daß Ihre wahren Motive ganz andere seien als die, die Sie äußern? Nun: Wenn jemand behauptet, ein bestimmtes Ziel erreichen zu wollen, es aber so anstellt, daß dieses Ziel offensichtlich gar nicht erreicht werden kann, lehrt die allgemeine Lebenserfahrung, daß es ‚eigentlich‘ um etwas anderes geht. Sie fädeln es so ein, daß aus dem ‚Lebensschutz‘ nichts werden kann. Schlimmer noch: Sie wissen es sogar! Ziemlich zu Beginn Ihrer Ausführungen verraten Sie das unfreiwillig, wenn Sie schreiben: „Sie (gemeint: die beratende Person) hat…die für den Abbruch genannten wesentlichen Gründe…zu vermerken.“ (S.4 (1)) Sie schreiben eben nicht: ‚die für einen erwogenen (oder möglichen, geplanten usw.) Abbruch‘. Das heißt: Sie gehen davon aus, daß nach der Beratung der Abbruch erfolgt, die Beratung – so, wie Sie sie erzwingen – also kein ungeborenes Leben schützt.

Ich habe eine Fantasie – zugegeben, nur eine Fantasie – wie es Ihnen ergangen ist, als Sie über die Neufassung des Abtreibungsrechtes entscheiden sollten: Sie haben sich geärgert, weil an Sie das Ansinnen gestellt wurde, Kontrolle aufzugeben und Sie fühlten sich in der Klemme: Ein gar zu rigides Durchsetzen Ihrer Position hätte dazu geführt, daß man Sie nicht mehr für voll nimmt. Was tun, in einer solchen Situation? Ganz einfach: Überm Tisch geht man auf die Vorstellungen des Anderen ein und unterm Tisch tritt man ihm kräftig gegen das Schienbein. Genau dies haben Sie mit Ihrer Winkeladvokaten-Argumentation praktiziert: Weil Gesetzgeber und Frauen weg vom Indikationenmodell wollen, dürften ‚logischer-weise‘ die Kassen die Kosten für die Abtreibung nicht übernehmen. ‚Liebe Frauen‘, so Ihre Botschaft, ‚da Ihr Euch nicht mehr überprüfen lassen wollt, können wir Euch auch nicht den Stempel ‚rechtmäßiger Abbruch‘ erteilen, und deshalb müßt Ihr – leider, leider – selber zahlen. Aber Ihr habt es ja so gewollt!‘ Der ganze Passus (S.22 bis 24) ist durchtränkt von einem ´Ätsch, reingefallen‘. Daran ändert Ihre ‚Hier-stehe-ich,-ich-kann-nicht-anders‘-Attitüde nichts. Sie hätten sehr wohl anders gekonnt. Wenn Sie gewollt hätten. (2)

Mittels Recht das Volk zur Moral zu bringen hat Tradition. ‚Sittenbildende und sittenstärkende Kraft des Strafrechts‘ hieß das mal. In den 60er Jahren focht man unter dieser Überschrift für die Beibehaltung der strafrechtlichen Verfolgung des Ehebruchs: „Die Anhänger einer Beibehaltung der Strafsanktionen gegen Ehebruch sind allerdings nicht so naiv, der Strafdrohung zuzutrauen, sie werde die eheliche Treue fördern; indes sind sie… der wohlbegründeten Ansicht, daß die Streichung der derzeitigen Strafandrohung im Volke nicht verstanden und den Eindruck erwecken würde, als ob der Gesetzgeber den Ehebruch nicht mehr für sittlich verwerflich halten. Unser Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen verpflichtet, die Ehe in Schutz zu nehmen; er hat deshalb alle Maßnahmen zu unterlassen, die auf dem Gebiet des Ehe-und Familienschutzes wie ein Dammbruch wirken könnten. “ (3) Die Logik müßte Ihnen bekannt vorkommen. Nur, Ehebruch ist nicht mehr strafbar, und die Dämme sind – mal wieder- nicht gebrochen. Aus einem einfachen Grund: Die meisten BürgerInnen bedürfen nicht des Nachhilfeunterrichts durch die Justiz, um zu wissen, was Recht und Unrecht ist. Und den anderen vermitteln Sie das durch Sanktionen auch nicht. Abgesehen davon habe ich nicht den Eindruck, daß das Lebensrecht Geborener wie Ungeborener in jener Zeit unserer deutschen Geschichte am besten geschützt war, in der das strengste Abtreibungsrecht galt. Und ich kann auch nicht finden, daß unseren Ex-Brüdern und -Schwestern aus den neuen Bundesländern, die der einschlägigen Sittenbildung so lange entbehren mußten, ein fehlendes Rechts- bzw. Unrechtsbewußtsein attestiert werden könnte. Deren Geburtenrate halbierte sich erst unter dem sittigenden Einfluß Westdeutschlands.‘
Wie Sie im übrigen in Ihren Ausführungen die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR und deren Erfahrungen überschweigen, entspricht bester Wessi-Manier. Das nur nebenbei.

Unter die Rubrik ‚Sittenbildung‘ ordnen Sie das Verbot ein, Abbrüche außerhalb der engen Indikationen durch die Krankenkassen finanzieren zu lassen: „Die Gewährung sozialversicherungs-rechtlicher Leistungen für Schwangerschaftsabbrüche … deren Rechtmäßigkeit aber nicht feststeht, ist … deshalb mit der staatlichen Schutzpflicht für das ungeborene menschliche Leben nicht vereinbar, weil dadurch das allgemeine Bewußtsein in der Bevölkerung, daß … der Abbruch der Schwangerschaft grundsätzlich Unrecht ist, erheblich beschädigt würde.“ (S.37) Ich glaube, ich stehe Lieschen Müller näher als Sie und bin mir sicher, daß deren Schlußfolgerungen ganz andere sein werden. Sie wird eher sagen: „Wenn es um Alkohol- oder Tabaksteuer geht, da ist plötzlich nichts mehr zu hören, daß ‚die Rechtsstaatlichkeit… im Kern verletzt‘ wäre, wenn ‚der Staat.. mittelbar oder unmittelbar (Mit-) Verantwortung für Vorgänge‘ übernähme, ‚von deren Rechtmäßigkeit er nicht überzeugt sein kann'(37), da zählen dann andere ‚Werte‘ als der Schutz des Lebens! (5) Aber Frauen, die kann man ja schikanieren.“
Einen Argumentationsstrang in diesem Zusammenhang kann ich nur zynisch nennen. Da können Sie froh sein, daß so wenige Ihre Ausführungen lesen. Weil – so schreiben Sie – die privat – und die auf Grund Ihres Wohlstandes gar nicht versicherten Frauen für Abbrüche selber aufkommen müßten, sei „nicht ersichtlich,…Frauen, die in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind, anders zu behandeln“(S.37). Jede Arbeiterin mit 2000 DM netto wäre im Recht, Ihnen für diese Unverschämtheit die Fensterscheiben einzuwerfen. Moralisch gesehen.

Wenn ich das lese, was Sie sich zum Thema Recht und Moral so zusammengedacht haben, kommt mir eine meiner Patientinnen in den Sinn. Sie hat abgetrieben. Bei ihr lag – unter Anlegung strengster Maßstäbe – sowohl eine medizinische wie eine embryopathische Indikation vor. Und wissen Sie, was diese Frau heute noch – lange nach dem Abbruch – tut? Sie weint darüber. O nein, nicht daß wir uns mißverstehen: Sie bereut ihn nicht. Sie weint. Sie weint über ihr Unglück, in eine Situation gekommen zu sein, in der sie schuldig werden mußte.
Und angesichts dieser Tränen werden Ihre gelehrten Distinktionen und Ihre moralisch geschwellte Brust lächerlich.

Gestatten Sie mir an dieser Stelle einen Exkurs mit der Überschrift: ‚Je rigider der moralische Anspruch, umso unmoralischer die Folgen‘: Ihnen ward nicht die Gabe weiser Selbstbescheidung zuteil, aufgrund deren Sie hätten sagen können: ‚Bestimmte hoch-komplizierte Fragen klammere ich aus, weil sie nur weltanschaulich gefärbt beantwortet werden können. Dies ist mir – als Organ eines zur weltanschaulichen Neutralität verpflichteten Staates – verwehrt. Ich beschränke mich auf eine praktikable Lösung, die möglichst viele Gesichtspunkte mitbedenkt und einen möglichst guten Ausgleich aller gegensätzlichen Interessen bietet.‘ Statt dessen dekretieren Sie: „Menschenwürde kommt schon dem ungeborenen Leben zu, nicht erst dem menschlichen Leben nach der Geburt oder bei ausgebildeter Personalität“, der Fötus entwickle „sich nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch“, sowie: „Wo immer menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu.“ Und: „Das Lebensrecht (steht) dem Ungeborenen schon aufgrund seiner Existenz zu…,(es) ist das elementare und unveräußerliche Recht, das von der Würde des Menschen ausgeht.“ (S.16f.) Kurz gesagt also: Würde und Rechte des Fötus = Würde und Rechte des Menschen. Der Meinung kann man sein. Nur: Wer so denkt, darf außer der medizinischen Indikation keine andere in Erwägung ziehen. Sie aber gehen ganz selbstverständlich von der Rechtmäßigkeit einer embryopathischen Indikation aus. Und jetzt bin ich mal gespannt, wie Sie in Ihrer Logik jemandem klarmachen wollen, weshalb die Abtreibung eines behinderten Fötus rechtmäßig und von der Kasse zu finanzieren ist, die Tötung eines behinderten Menschen (Kosten für einen Heimplatz: mindestens 4000 DM pro Monat) aber ein Unrecht und strafbar sein soll. Wenn Lebensrecht gleich Lebensrecht, dann gilt eben auch: Wer vor der Geburt kein Lebensrecht hat, hat danach auch keins. Sie haben hier einzig und allein aufgrund Ihrer, ach so moralischen Argumentation einer menschenverachtenden und menschenunwürdigen Denkweise Schützenhilfe geleistet. Hier – und nicht bei der Kassenfinanzierung – wäre der Ort gewesen, sich darüber Gedanken zu machen, welchen „Eindruck“ der Staat bei den Bürgerinnen und Bürgern „erweckt“ (vgl. S.37).

Nun zu meiner Behauptung, Ihre Konzeption von Beratung habe lediglich Machtausübung durch Kontrolle zum Ziel, verhindere aber tatsächlich den Schutz des ungeborenen Lebens.
Ihre Lieblingswörter in diesem Zusammenhang sind „ermutigen“ und „Ermutigung“, sie tauchen über zehnmal auf. Die Beratung habe das Ziel, die Schwangere zur Fortführung der Schwangerschaft zu ermutigen. So heißt es. Pauschal, ohne jede Differenzierung. Und was, wenn es nichts zu ermutigen gibt? Wie würden Sie das Verhalten eines Versicherungsvertreters qualifizieren, der einen Kunden ‚ermutigt‘, Verträge zu unterzeichnen, die ihn nach menschlichem Ermessen erdrücken werden‘? Wenn Sie eine Beraterin darauf verpflichten, ohne Rücksicht auf die Umstände zur Fortführung jedweder Schwangerschaft zu ‚ermutigen‘, degradieren Sie sie zu einer Art Versicherungsvertreter, bloß daß dieser wenigstens Provision für seine Überredungskünste kassiert. Wer in jedem Fall ‚ermutigt‘ und nie abrät, nie Bedenken anmeldet, bzw. bereits vorhandene Bedenken bestätigt, dessen Ermutigung ist wertlos. Da können Sie auch gleich ein Tonband ablaufen lassen.

Ihre Vorschrift korrumpiert die beratenden Menschen. Wenn eine Beraterin „der Frau die Einsichten und Informationen“ vermitteln soll, „deren sie für eine verantwortliche Entscheidung bedarf“ (S.22), dann gehört dazu auch die Information, daß laut Familienministerin Rönsch 77% der Alleinerziehenden mit einem Einkommen unterhalb der Sozialhilfegrenze auskommen müssen (6), daß sich die Väter nichtehelicher Kinder in steigendem Maße vor Unterhaltszahlungen drücken‘ (von sonstigen Vaterpflichten ganz zu schweigen), daß Kindergartenplätze und Teilzeitstellen ein rares Gut sind und daß z.B. in Baden-Württemberg weniger als 5% der Schulen Ganztagsschulen sind.
In dem Zusammenhang fand ich Ihren Einfall bestechend, die Personen in das Schutzkonzept mit einzubeziehen, die die Frau gegen das Kind einnehmen könnten (S.22). Da wäre dann der Kindsvater zu fragen, wieviele Tage im Jahr er sich um das Kind kümmert, der Leiter des Wohnungsamtes wäre zu hören, bis wann er eine billige Wohnung beschaffen kann, der Arbeitgeber wäre aufzufordern, schriftlich darzulegen, ob er gewillt ist, die Schwangere unter angemessenen Bedingungen weiter zu beschäftigen, usw. Informativ wäre eine solche Runde für die Schwangere unbedingt. Aber ermutigend? Sehen Sie: All das, was Sie schreiben über die notwendigen stützenden und fördernden Maßnahmen, die das ‚Ja zum Kind‘ erleichtern sollen, all das ist Lyrik. Kaum war vom Bundestag der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für jedes Kind beschlossen, legten sich die Finanzminister quer. (8) Nicht einmal das ist durchsetzbar! Die Finanzminister werden nicht ins Gefängnis kommen, weil sie sich nicht an das Gesetz halten, aber bei andern setzen Sie unverdrossen auf das Strafrecht: Nachdem Sie zunächst sehr richtig festgestellt haben, daß Schwangerschafts-konflikte häufig aus einer gestörten Partnerbeziehung oder dem Druck entstehen, der von nahestehenden Personen der Schwangeren ausgeübt wird, folgern Sie messerscharf: „Dem muß die Rechtsordnung entgegentreten…“ (S.30) Und deshalb: „Es wäre… nicht zureichend,… lediglich an das Verantwortungsbewußtsein dieser Personen zu appellieren,… für Personen des familiären Umfeldes (sind) in bestimmtem Umfang strafbewehrte Verhaltensgebote und -verbote unerläßlich:“ (S.31) Verheben Sie sich nicht, mein Herr!

Die Frauen, die sich also zum Zwecke moralischer Aufrüstung in der Beratungsstelle einzufinden haben, wissen natürlich was sie er-wartet. Und sie werden die ‚Ermutigungen‘ unter der Rubrik ‚die müssen halt so reden‘ genauso abhaken wie die Predigt des Pfarrers. Das heißt: Die durchschnittliche Schwangere wird selbst den wahrhaften Argumenten mißtrauen, die für eine Fortsetzung der Schwangerschaft sprechen.

Daß eine Schwangere nicht unvoreingenommen in Ihre Beratung gehen wird, hat aber noch einen anderen Grund, nämlich Ihre Voreingenommenheit gegen die Schwangere. Wer so mißtrauisch wie Sie gegenüber den Frauen ist, ihren guten Willen und ihre moralische Integrität anzweifelt, kann Offenheit und Vertrauen nicht erwarten. Wie man in den Wald hineinruft….!
Sie schreiben: „Das Beratungskonzept nimmt die Frau als handelnde Person ernst, indem es sie als Verbündete bei dem Schutz des ungeborenen Lebens zu gewinnen sucht und dabei von ihr eine verantwortliche Mitwirkung erwartet.“(S.25) Korrekt müßte es heißen: ‚insofern sie als Verbündete gebraucht wird‘. Ihnen ist ja nicht verborgen geblieben, daß das ungeborene Leben nur mit der Mutter (nicht wie Sie schreiben „besser mit der Mutter“ (S.37)) geschützt werden kann.
Wenn Sie die Schwangere nicht für Ihren ‚Schutz des ungeborenen Lebens‘ bräuchten, legten Sie noch nicht einmal verbal Wert darauf, sie als Verbündete zu gewinnen!
Eine ungewollt schwangere Frau ist in aller Regel ambivalent. Entweder man nimmt sie in ihrer Ambivalenz ernst, oder man nimmt sie überhaupt nicht ernst. Um es in einer Ihnen verständlichen Weise zu erläutern: Wenn Gretel nicht weiß, ob sie den Hans oder den Fritz heiraten soll, und ein ‚Berater‘ wischt alle Argumente für den Hans vom Tisch und läßt nur die für den Fritz gelten, sagt Gretel mit Recht: Du steckst wohl mit dem Fritz unter einer Decke.
Gell, das hat Sie jetzt geärgert mit der „Ihnen verständlichen Weise“. Genauso ist es mir gegangen. Zweimal schreiben Sie in Ihrem Text, daß den Frauen etwas „in einer ihnen verständlichen Weise“ erläutert werden solle (S.24 und S.26). Daß jedermann und jedefrau gehalten ist, sich einer verständlichen Sprache zu befleißigen, ist eine Selbstverständlichkeit. Die ausdrückliche Erwähnung dieser Selbstverständlichkeit läßt darauf schließen, was Sie von der Auffassungsgabe der Frauen halten. Nämlich nichts. Oder würden Sie den Bundespräsidenten verpflichten, etwas in einer dem Bundeskanzler verständlichen Weise zu erläutern?

Nicht genug damit, daß Sie pauschal unterstellen, die Beratenden seien die, die Moral vermitteln könnten, und die Beratenen bräuchten Nachhilfeunterricht in Sachen Moral. Schief wird die Beratung zusätzlich durch die aus Ihrem Mißtrauen resultierende Konstruktion der Beratung. Diese ist nicht einmal formal die Begegnung von zwei gleichberechtigten Personen, sondern hier hat eine(r) das Sagen, die andere hat sich zu fügen: „In Fällen, in denen die Schwangere … begleitet wird, ist es hingegen geboten zu prüfen, ob von dieser ein für das ungeborene Leben schädlicher Einfluß zu befürchten und die Schwangere daher aufzufordern ist, noch einmal ohne Begleitung zu einem Beratungsgespräch zu kommen.“ (S.27) Wenn eine Schwangere sich begleiten läßt, geschieht das fast immer auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin, z.B. weil sie allein Angst hat. Glauben Sie im Ernst, daß diese Frau es anders denn als Schikane erleben wird, wenn Sie noch einmal allein einbestellt wird? In den wenigen Fällen, in denen jemand die Schwangere gegen ihren Willen begleitet, bedarf es großen Fingerspitzengefühls; mit einer plumpen Wiedereinbestellung bewirkt man nichts. So dumm sind auch Sie nicht, um sich die Konsequenzen dieses Kunstfehlers nicht ausrechnen zu können. Und aus einer ganzen Reihe solcher Indizien läßt sich eben der Schluß ziehen: Es geht Ihnen um Anderes als um den Schutz des ungeborenen Lebens!
Dasselbe gilt auch für den Satz, ‚..daß die Beratungsstelle die Bescheinigung erst ausstellt, wenn sie die Beratung als abgeschlossen sieht.“(S.27) Warum schreiben Sie nicht: ‚Die Bescheinigung wird ausgestellt, wenn Beraterin und Ratsuchende die Beratung für abgeschlossen halten.‘ Ich will es Ihnen sagen: Weil Sie sich unter Beratung alles Mögliche vorstellen, nur nicht den Dialog von zwei gleichberechtigten und verantwortungsbewußten Personen. Hier spricht die Obrigkeit! Und dann erwarten Sie von der Schwangeren Kooperationsbereitschaft!
Summa summarum: Die kluge Frau wird folgendes tun: Sie wird tunlichst allein in die Beratung kommen, eine vertrauensvolle und kooperative Miene aufsetzen und dabei innerlich das ihr entgegen-gebrachte Mißtrauen mit Zins und Zinseszins zurückgeben. Denn das ist keine Beratung, das ist Manipulation.

Die Beraterinnen andererseits werden nicht nur auf ein ‚Beratungs‘-Konzept verpflichtet, das sie in ihrer Arbeit frustrieren und in ihrer Berufsehre – verzeihen Sie den altmodischen Begriff – kränken muß. Was bislang nur die Beraterinnen der Caritas-Stellen traf, schreiben Sie jetzt flächendeckend vor. Von daher trifft Lebensschützer Militärbischof Dyba den Nagel auf den Kopf mit seiner Feststellung, aufgrund Ihres Urteils müßte Pro Familia „umschulen“, denn die katholischen Beratungsstellen seien „praktisch zum Muster und Modell für alle Schwangerschaftsberatungen“ geworden. (9) Sie übernehmen – manchmal bis in Einzelformulierungen die Richtlinien der Deutschen Bischofskonferenz für die Caritas-Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen. (10) Ihr Urteil ist der Versuch der Rekatholisierung Deutschlands. Sie erklären die Moralvorstellungen der katholischen Kirche und deren fälschlich Beratung genannte Indoktrination als verbindlich für die gesamte bundesrepublikanische Gesellschaft.“
Die Beratungsstellen, die für Sie anscheinend nichts weiter sind als ausführende Organe Ihrer persönlichen Moralvorstellungen, werden von Ihnen noch zusätzlich durch Vorschriften in die Zange genommen, deren exakte Bezeichnung Korinthenkackerei wäre (vgl. dazu S. 34). Es fehlt lediglich, daß Sie das Fabrikat des Rechners vor-schreiben, mit dem eine der „Überwachungspflicht des Staates“ (S.28) genügende Statistik durchzuführen ist. So ist das eben: Wer sich einmal für Mißtrauen entschieden hat, der kann von der Kontrolle nicht mehr lassen. Und wer von der Kontrolle nicht mehr lassen kann, wird sein Mißtrauen bestätigt bekommen. Sie schaffen sich – aus Einfalt oder Raffinesse? – die scheinbare Rechtfertigung für immer mehr Kontrolle.

Das wird zwei Folgen haben: In einem Teil der Beratungsstellen werden zunehmend unselbständige Zwängler im Dienst nach Vorschrift ihre Erfüllung und in der Verbeamtung ihr höchstes Ziel sehen. In den anderen Beratungsstellen wird ein beträchtlicher Teil der Kreativität darauf verwendet werden, Ihre Vorschriften geschickt auszulegen, zu umgehen und zu konterkarieren.

Sie werden die Beratungsstellen bekommen, die Sie verdienen. (12) Die Beraterinnen, die Frauen und – last but not least – das ‚ungeborene Leben‘ hätten allerdings Besseres verdient!

Von Ihrem Bedürfnis zu kontrollieren und zu regeln bleibt auch „der Arzt“ nicht verschont. Er taucht nur in seiner männlichen Form auf, was nicht verwundert: schließlich ist er der Einzige, der Indikationen für den Abbruch aussprechen darf.
Für die Ärzte stellen Sie fest: „Danach kann…nicht darauf gesetzt werden, daß den dargestellten ärztlichen Verhaltenspflichten durch eine berufsrechtliche Normierung und Sanktionierung in dem Maße zur Beachtung verholfen würde, wie sie für einen wirksamen Schutz des ungeborenen Lebens unabdingbar ist“, weshalb Sie auf „strafrechtliche Sanktion“ setzen (S.29). Wirklich, sehr originell! Und so erfolgversprechend, wie die obsoleten Strafbestimmungen zu Kuppelei, Ehebruch, Homosexualität, Werbung für empfängnisverhütende Mittel (13) etc. belegen!
Einen ‚Erfolg‘ werden Ihre unglaublichen Vorschriften (vgl. S.28f.) haben, die Sie den ÄrztInnen machen: Die schwangere Frau wird ein zweites Mal völlig sinnlos gequält. Unmittelbar vor dem Abbruch soll Sie nochmal „dem Arzt“ ihre Situation und Gründe darlegen, und er ist verpflichtet, ihr zu sagen, „daß der Schwangerschaftsabbruch menschliches Leben zerstört.“ (S.28) Das erinnert daran, daß man der Hexe auf dem Scheiterhaufen noch das Kreuz vor Augen hielt. In reinster Absicht, versteht sich. Für die ÄrztInnen bedeuten Ihre Zumutungen, daß sie von nun an ständig mit Denunziation und Bespitzelung zu rechnen haben. Entsprechende Beispiele für Beratungsstellen sind ja bekannt. Aus Gründen des verständlichen Selbstschutzes werden sie geneigt sein, Ihre Vorgaben Punkt für
Punkt abzuspulen, um für eventuelle Anzeigen keine Angriffsflächen zu bieten. Auf die Patientin kann dabei allerdings keine Rücksicht genommen werden. Ärztliches Ethos und Ihre Moral, das geht nicht zusammen.

„Sie brauchen mich nicht zu lieben, wenn sie mich nur fürchten!“, hat ein römischer Kaiser gesagt. Für römische Kaiser mochte es reichen, gefürchtet zu werden. Sie aber, Herr Bundesverfassungsgericht, sind zwar nicht darauf angewiesen geliebt zu werden. Aber von unserer Achtung sind Sie sehr wohl abhängig. Geachtet wird aber nur, wer Achtung erweist. Vertrauen wird nur dem entgegengebracht, der nicht unbegründet anderen Schlechtes unterstellt. Verstanden wird nur, wer selbst um Verständnis bemüht ist. Ernst genommen wird nur, wer ernst nimmt.
Sie haben in arroganter Weise auf Bevormundung und Überwachung gesetzt. Ihre ‚moralische‘ Devise lautet: Diktat statt Dialog. Die Antwort wird sein: Konterkarieren statt kooperieren, austricksen statt Loyalität, auflaufen lassen statt Offenheit, sich verweigern statt mitdenken.

Sie haben mehr getan, als ein Urteil zum § 218 zu fällen. Sie haben die Atmosphäre vergiftet!

In der Hoffnung, meinen Standpunkt in einer Ihnen verständlichen Weise erläutert zu haben, verbleibe ich!

Anmerkungen:

1. Die Seitenangaben beziehen sich jeweils auf die Ausgabe des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch vom 28.05.1993 in der Sonderausgabe der Juristenzeitung, Tübingen 1993.
2. Eine Bewertung der ldee, das Sozialversicherungsrecht als letztes Aufgebot heranzuziehen, damit Ihr Motto ‚Strafe muß sein‘ durchgesetzt wird, nachdem sich das Strafrecht dafür als völlig unpraktikabel erwiesen hat, kann ich mir sparen. Dazu haben sich Mahrenholz/Sommer einerseits und Böckenförde andererseits so geäußert, daß dem nichts hinzuzufügen ist. Dem Herrn Lebensschützer Böckenförde scheint möglicherweise zu dämmern, welchen Holzweg er gewiesen hat.
3. Dieter Giesen, Zur Strafwürdigkeit der Delikte gegen Familie und Sittlichkeit, FamRZ 5/65, 248-236.255.
4. Unter der Überschrift: „Geburtenrate halbiert“ schreibt die Frankfurter Rundschau am 24.06.1993, daß „die Geburtenrate in den neuen Bundesländern zwischen 1989 und 1992 von zwölf auf 5,5 Babies auf tausend Einwohner“ sank. In Westdeutschland wurden übrigens 1989 elf Babies auf 1000 Einwohner geboren.
5. S.37. „Rund 500 000 Kinder und Jugendliche in Deutschland sind nach Schätzungen der deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren alkoholkrank oder stark alkoholgefährdet.“ Schwäbisches Tagblatt vom 21.06.1993.
6. „Ministerin Rönsch kann keine ‚Krise der Familie‘ erkennen“, Frankfurter Rundschau vom 12.11. 1991
7. „Kinder, die ihren Vater nicht kennen“ in Schwäbisches Tagblatt vom 17.06.1992
8. Vgl. Frankfurter Rundschau vom 12.06.1992 („Moral ja, Mittel nein“) und 16.06.1992 („Kindergärten für Waigel zu teuer“).
9. „Pro Familia soll ‚umschulen‘ – Dybas Forderung nach dem Urteil zum Paragraphen 218“, Frankfurter Rundschau vom 11.06.1993.
10. „Ziel der Beratung ist der Schutz des ungeborenen Lebens durch Überwindung der Not- und Konfliktlage, in der sich die Rat suchende Schwangere befindet. Sie ist zur Fortsetzung der Schwangerschaft und zur Annahme ihres Kindes zu ermutigen.“ Zitiert nach Johannes Reiter, Schwangerschaftskonfliktberatung – Mitwirkung der Kirche, in: Caritas, Zeitschrift für Caritasarbeit u. Caritaswissenschaft, Bd. 91, 1990, Nr. 11, 507 -524, 516
11. Daß viele Caritas-Beraterinnen tatsächlich gute Beratung leisten, weiß ich wohl, sie handeln dabei aber gegen die Intentionen ihres Arbeitgebers.
12. In Ihrem Zwang alles regeln zu wollen denken Sie an vieles, z.B. daran, daß nur „Beratungsstellen mit hinreichender personeller Ausstattung anerkannt werden, bei denen Beratungsgespräche nicht unter Zeitdruck stehen (S.32) Sie regeln aber nicht, wer diese ‚hinreichende personelle Ausstattung‘ finanzieren muß. „Frauenministerin fehlen 18 Millionen für Ausbau der Schwangeren-Beratung“ war am 01.07.1993 für Baden-Württemberg zu lesen (Schwäbisches Tagblatt vom 01.07.1993). Wir dürfen gespannt sein, wer sie ihr geben wird. Grundsätzlich hat Ihre Bestimmung doch wohl zur Folge (oder hat sie gar zur Absicht?): Dieselbe staatliche Stelle, die einer finanzschwachen Organisation die erforderlichen Zuschüsse verweigern kann, hat dann als Aufsichtsbehörde darüber zu befinden, ob deren Beratungsstelle wegen unzulänglicher Ausstattung geschlossen werden muß. Im Klartext: Stellen in kirchlicher Trägerschaft, die zur Not auf staatliche Zuschüsse verzichten können, überleben auf alle Fälle, Pro-Familia-Stellen läßt man (mindestens) zappeln. Zufall?
13. Da sie mehrmals das Gesetz über Aufklärung, Verhütung, Familienplanung und Beratung zitieren, kann ich es mir nicht verkneifen, an den alten § 184 Abs. 3a StGB zu erinnern, der die Werbung für Verhütungsmittel bis weit in die 60er Jahre unter Strafe stellte. Der BGH hat sich allein zwischen 1959 und 1961 dreimal sittenbildend dazu geäußert. Z.B. so: „Wer in Warenautomaten an öffentlichen Straßen und Plätzen Gummischutzmittel (Präservative) feilhält, verletzt Sitte und Anstand schlechthin … „(Urteil des 1. Strafsenats des BGH vom 17.03.1959, FamRZ 59, 238).

Ursula Neumann, Oberkirch-Bottenau, ist Diplompsychologin.

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