Themen / Bioethik

D. Die abwei­chenden Meinungen

02. Juli 1993

aus: Ulrich Vultejus & Ursula Neumann, Im Namen des Volkes. Unfreundliche Bemerkungen zum § 218-Urteil von Karlsruhe. HU-Schriften Nr. 19, München 1993

1. Die Richter Mahrenholz und Sommer haben eine gemeinsame „abweichende Meinung“ vorgelegt. Ihr Votum atmet einen vollständig anderen Geist als das Urteil. In ihrem Votum erfahren wir erstmals, wenn wir es nicht schon wüßten, daß das jetzige Urteil von dem früheren Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 25.02.1975 abweicht.
Die Richter Mahrenholz und Sommer wählen einen anderen Ausgangspunkt:

„Innerhalb des verfassungsrechtlich vorgegebenen Dreiecks zwischen der Frau, dem ungeborenen Leben und dem Staat nimmt die aus dem Grundgesetz abzuleitende Schutzpflicht für das ungeborene Leben allein den Staat in Anspruch, nicht unmittelbar schon die Frau. Pflichten, die der Staat im Wege der Gesetzgebung der Frau zum Schutz des ungeborenen Lebens auferlegt, müssen zugleich ihre Grundrechtspositionen berücksichtigen.“
Nach dieser Grundüberzeugung halten sie die Neufassung der § 218 ff. StGB für mit dem Grundgesetz vereinbar. Sie wenden sich gegen die Verschlechterung des Sozialversicherungsrechts, da von ihm keine das Bewußtsein „prägende Kraft“ ausgehe:

„Wenn der Gesetzgeber im Rahmen eines auf Beratung und Letztverantwortung der Frau setzenden Schutzkonzepts die Strafdrohung zurücknimmt, weil sie sich zum Schutz des ungeborenen Lebens als stumpfes Schwert erwiesen hat, so muß es das Rechtsbewußtsein der Allgemeinheit verunsichern, wenn an die Stelle einer Strafdrohung, die ein Rechtsgut von höchstem Rang schützen soll, nun Rechtsnachteile im Sozialversicherungsrecht als einem bloßen Folgerecht treten, die nach Auffassung des Senats jetzt die Last des verfassungsrechtlichen Unwerturteils tragen sollen.“

2. Der Richter Böckenförde teilt in seiner abweichenden Meinung die Auffassung der Senatsmehrheit in den „wesentlichen maßstäblichen Ausführungen“, insbesondere zu der Vokabel „nicht rechtswidrig“. Er widerspricht jedoch der Senatsmehrheit in den Folgerungen für das Sozialversicherungsrecht:

„Die Gesamtheit beratener Abbrüche entzieht sich der bruchlosen Einordnung in die Alternative rechtswidrig – nicht rechtswidrig; sie stellt gegenüber dieser Alternative als unscheidbare Gesamtheit ein aliud dar. Gleichwohl hält der Senat es für verfassungsrechtlich geboten, daß sie einheitlich als Unrecht – mit den entsprechenden Folgen im Sozialversicherungsrecht – behandelt werden.“

Wegen der Ununterscheidbarkeit der rechtswidrigen und der nicht rechtswidrigen Abbrüche nach dem Beratungskonzept sei es zwar
nicht geboten, aber dem Gesetzgeber auch verfassungsrechtlich nicht verboten, alle Abbrüche versicherungsrechtlich abzusichern.

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