E-Watch und Controltainment
Eine kleine Kriminologie der Kontrollkultur
Mitteilungen Nr. 195, S. 14-15
Der Landesverband Hamburg der Humanistischen Union hatte am 29. November 2006 zur Besichtigung des immer perfekteren Überwachungsstaates in Deutschland eingeladen. Die Kriminologin Dr. Kirsten Toepffer sprach zum Thema: „E-Watch und Controltainment. Eine kleine Kriminologie der Kontrollkultur.“ Einleitend referierte Prof. Dr. jur. Sebastian Scheerer, Leiter des Instituts für kriminologische Sozialforschung an der Universität Hamburg, Assoziationen über die historischen Veränderungen staatlicher Kontrolle der Bürger. Beobachtungen habe es immer schon gegeben, nur war das in früheren Zeiten eine recht schwierige Angelegenheit. Nicht nur, weil man dazu viele Personen brauchte, diese konnten zudem auch nur fragmentarisch und punktuell (zum Beispiel am Stadttor) beobachten. Heute geht es technisch-elektronisch, d.h. man hat Apparate, die „totalisiert“ eingesetzt werden: an allen Orten (flächendeckend) werden alle Passanten erfasst, und das rund um die Uhr. Bekommt man eine andere Individualität, wenn man weiß, dass man überall beobachtet wird? Früher wurde Kontrolle über direkten Zwang ausgeübt, sei es durch die Bürokratie oder andere Staatsorgane, heute werden wir geradezu verführt, selbst immer mehr Kontrolle zu wollen. Es ist mittlerweile an vielen Orten in der Gesellschaft eine Situation der Beobachtung und Kontrolle entstanden, wie sie früher nur in Haftanstalten üblich war und als erforderlich angesehen wurde. Insgesamt gibt es heute eine technische Überlegenheit des Staates, der durch Datenerfassung und Datenabgleich dem einfachen Bürger immer mehr die Furcht einflößt, kriminalisiert zu werden. Dr. Toepffer erläuterte einleitend die beiden Wortschöpfungen: „E-Watch“ ist in Anlehnung an die populäre Fernsehserie „Baywatch“ gebildet und meint all jene Kontrolltechnologien, die auf elektronischem Wege Personen, Räume und/oder Interaktionen akustisch, optisch und/oder taktil durch Datenspeicherung und Datenabgleich überwachen. „Controltainment“ bezeichnet in der Wortzusammensetzung aus „Control“ und „Entertainment“ die Wechselwirkung aus Kontrolle und Unterhaltung, wobei vorwiegend das ’sich selbst in Szene setzen‘ gemeint ist. Als erste These formulierte sie: „E-Watch und Controltainment bieten eine Bühne für das Kontroll-, Sicherheits- und Zurschaustellungsbedürfnis der Gesellschaft. Es entsteht eine Aufmerksamkeits- und Selbstkontrollgesellschaft, auf deren Daten – ergänzt durch eigene Erfassungs- bzw. Kon- trollinstrumente – der Staat zur Kontrolle der Bevölkerung zurückgreifen kann. Der Einzelne wird damit zum ‚Kontrolleur seiner selbst‘, der einen omnipräsenten, kontrollierenden Staat – in Teilen – überflüssig macht. Eine Kontrollkultur er- wächst.“ Die Implementation vollzieht sich sukzessive in verschiedenen Gesellschaftsbereichen und wird in ihrer Komplexität von dem Einzelnen nicht wahrgenommen. Kennzeichnendfür diese Situation ist u.a., dass sich beinahe alle daran beteiligenund anstelle der klassischen Kontrolle des Einzelnennun eine Kontrolle im Rahmen des Kollektivs erfolgt. Ein normaler Bundesbürger trägt heute wie selbstverständlich eine ganze Reihe von Erfassungsmedien in seiner Kleidung mit sich herum. Das beginnt mit Kreditkarten (Geldbewegungen, Abhebungsorte), setzt sich fort mit diversen Kunden- und Bonuskarten (Konsumprofile, Lebensalter) und endet nicht bei der Handy-Ortung (Bewegungsprofile). An den Rabattmarken lässt sich der historische Unterschied zu Bonus- und Kundenkarten verdeutlichen. Rabattmarken gab es anonym und man klebte sie in ein Heft, dass man – wenn es vollgeklebt war – anonym abgab und dafür das „Rabattgeld“ bekam. Für eine Bonuskarte von Wirtschaftsunternehmen müsse man normalerweise vorher Name, Geschlecht und Geburtsdatum angeben. Je höher die ökonomischen Anreize sind, desto mehr Alltags-Informationen werden vorher abverlangt. Menschen ohne Kreditkarten und ohne Handy gelten mittlerweile in weiten Bevölkerungskreisen als anachronistisch, unmodern und rückständig bzw. zumindest leicht verschroben. Die zweite These lautete: „So genannte Outsider legitimieren umfassende Kontrollstrategien, die sich auf die gesamte Bevölkerung beziehen.“ Unter Outsidern sind „nicht erwünschte“ Personen zu verstehen, deren Aktivitäten nurdadurch erfasst und kontrolliert werden könnten, dass alleBürger kontrolliert werden. Das beginnt bei den Beobachtungskameras in Geschäften – die alle Käufer beobachten, um einzelne Ladendiebstähle zu verhindern –, und geht bis zur Videoüberwachung von neuen „Shopping-Malls“, aus denen dann alle nicht erwünschten, d.h. nicht konsumierenden Anwesenden umgehend entfernt werden, bis hin zu Videokameras und Videoaufzeichnungen in öffentlichen Bahnen und Verkehrsmitteln. Also wenn sie mit „falschen Leuten“ in der U-Bahn fahren oder wenn sie – unwissentlich – neben einer „nicht erwünschten Person“ stehen sollten, sind sie möglicherweise bereits miterfasst. Die dritte These betont: „Unterschiedliche Kontrollstrategien oder Formen von E-Watch, die für die Herstellung von Sicherheit eingesetzt werden, lassen sich unterscheiden. Zum einen ist es die Videoüberwachung, die auf eine kollektive (semi-)private und staatliche Kontrolle abzielt.“ So gibt es bereits Eltern, die als weit entfernte, unsichtbare Beobachter,ständig ihre Kinder im Kindergarten in Echt-Zeit beobachten, aufzeichnen und die Aufzeichnungen wieder abrufen können. Beliebt ist auch die private Nutzung von öffentlichen Web-Cams (Kameras im Internet), mit der Sie nach dem Wetter an der Nordsee oder in den Alpen schauen können. Es ist exakt dieses Wechselspiel aus verfügbaren, öffentlich zugänglichen Kontrolleinrichtungen und ihrer privaten Nutzung als Informations- oder Unterhaltungsmedium, das sowohl die Einführung wie die Ausweitung erleichtert und die Nachfrage steigert. „Zum anderen handelt es sich um Konzepte (semi-)privaterund staatlicher E-Watch von Einzelnen, die darauf abzielen,entweder so genannte ‚Outsider‘ zu kontrollieren oderdiese in der großen Masse zu identifizieren.“ Dazu gehörtbeispielsweise die „Biometrie“ in Ausweispapieren, die beientsprechend gut auflösenden Kameras einen schnellen Abgleich mit Personen in öffentlichen Räumen erlaubt. Die vierte These: „Die Möglichkeiten, die die technischen Entwicklungen in dem Bereich von E-Watch bieten, dienendem Controltainment als eine wichtige Ressource. Gleichzeitig dienen die Entwicklungen auf dem Markt der Unterhaltung für die Implementierung von E-Watch dazu, eine positive Grundstimmung in der Gesellschaft zu erzeugen bzw. zu verstärken.“ Haben Sie auch Spaß daran, Ihre privaten Fotografien im Internet bei „my space“ kostenlos einbringen zu können oderbei „You tube“ private Videos zu zeigen – nur weiter so, Sie ersparen den Kontrolleuren viel Mühe, da Sie ja selber das Material erarbeiten und anliefern, was dann zu ihrer Kontrolle eingesetzt werden kann. Bestärkt werden diese „Harmlosigkeiten“ der öffentlichen Vorführung von Privatem von Fernsehformaten wie „Big Brother“, in denen Privatpersonen Intimes zur öffentlichen Unterhaltung preisgeben. Bereits Kinder haben ihre Unterhaltung, wenn sie zufällig das Bild von sich selbst auf einem Monitor in einem öffentlichen Raum sehen und sich selbst zuwinken oder fröhlich rufen: „Schau Mama, ich kann uns sehen!“ Es entsteht ein „Fun Factor“, so dass jegliche Ängste eines Missbrauchs dieser biometrischen und geographischen Informationen ausgeklammert bleiben. Die fünfte und letzte These lautete: „Der ‚Fun-Faktor‘ des Regierens avanciert zu einer wichtigen Komponente der Kontrollkultur, die dieselbe zugleich ermöglicht und rechtfertigt.“ Im Gegensatz von der Identität des Einzelnen und der individuellen Identifizierung durch den Staat verschieben sich die Machtverhältnisse des Zugriffs. Technisch sind bereits „Life-Logs“ möglich, mit Sensoren, die alles aufzeichnen (können), was ein Mensch ‚macht‘. In der Diskussion wurden vielfältige Aspekte angesprochen: Etwa die Frage, wie dem zu begegnen sei und wann eine Datenmenge erreicht sei, die den Einzelnen aufgrund ihrer quantitativen Unauswertbarkeit dann wieder ins Verborgene sinken lässt? Ob es eine Möglichkeit gibt, sich dem zu entziehen? Wie kann man darüber aufklären? Die Frage: „Warum soll ich als gesetzestreuer und sittenstrenger Mensch mich vor solchen Beobachtungen fürchten?“ verkennt zum einen, wie weit inzwischen diese Überwachung vonstatten geht, zum anderen, dass die Auffassung davon, was „gesetzestreu“ oder „sittenstreng“ sei, durchaus verschieden ist und nur der Schutz einer Intim- und Privatsphäre den Einzelnen vor Missbrauch bewahren kann. Man muss gelassen bleiben, um sich nicht überall bereits beobachtet zu fühlen.
Carsten Frerk, Mitglied des Hamburger Landesverbandes