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Menschen­wür­diges Sterben aus der Sicht einer Alten­pfle­gerin

15. April 1979

Nina R. Ebert

aus: vorgänge Nr. 38 (2/1979), S. 36-37

Beitrag einer Stuttgarter Nachfolge-Veranstaltung des HU Kongresses „Menschenwürdiges Sterben“ in Bremen.
Themaheft Vg 36.

Unser heutiges Thema lautet: „Humanes Sterben“ und heißt übersetzt: „Menschliches Sterben des Menschen“. Wie viel Widersinnigkeit liegt allein in einer solchen Formulierung! Wie viel Unmenschlichkeit setzt eigentlich das Notwendigwerden einer solchen Thematik voraus? Was ist mit unserer Gesellschaft passiert, dass wir eine solche Frage überhaupt stellen müssen?

Menschenwürdiges Sterben, das heißt: Mensch bleiben dürfen mit all seinen Rechten, die er seit seiner Geburt hat bis zu seiner Geburt in eine andere Welt, die wir nicht kennen.

Ich wurde als Altenpflegerin zu diesem Gespräch gebeten. Als Altenpflegerin bin ich auch Geburtshelfer in jene andere Welt. Und so betrachte ich unser Thema notwendigerweise von meinem Berufsbild her. Ich bitte also um Ihr Verständnis, wenn ich von dem in der Einladung ausgedruckten roten Faden für das heutige Gespräch mit meinem Beitrag abweiche, dh. die direkte Bezugnahme darauf den anderen Teilnehmern des Podiums überlasse.

Professor Schmidt-Scherzer, Bonn, machte vor einem Jahr eine interessante Untersuchung: Er befragte einen gesamten Altenpflegelehrgang, dessen Teilnehmer bereits über längere Zeit in diesem Beruf tätig waren, in Einzelgesprächen zum Thema „Sterben“. Aus dem umfassenden Fragenkatalog wurde eine Frage von allen Teilnehmern identisch beantwortet: „Wie wollen Sie selbst einmal sterben?“ Antwort: „Ich habe Angst, in einem Krankenhaus oder Pflegeheim sterben zu müssen, ich will selbst bestimmen, wo ich sterbe, unter welchen Bedingungen.“

„Wer schreit für mich, wenn ich nicht mehr schreien kann?“ – das ist, meine ich, die eigentliche Hintergrundfrage für derartige Ängste. Und ich stelle fest: niemand schreit in unserer Zeit, in unserer Gesellschaft für einen anderen.

Stattdessen geschieht etwas Absurdes, wird der, der nicht mehr schreien kann, von denen, die es noch können, vergewaltigt, gemordet, zum „Untoten“ unserer Zeit gemacht; eigenartigerweise von eben denen, die ihm oft als Nächste geblieben sind: den Menschen z.b. meines oder eines ähnlichen Berufsstandes. Ich sagte, er wird gemordet, er muss sterben, bevor er sterben muss; man lässt ihn Tode sterben vor dem Tode.

Wann geschieht das? Wie viele Tode sind es „vor der Zeit?“ Was sind das für Tode Professor Rest, Dortmund, spricht von „Identitätsverlusten in unterschiedlichen Dimensionen“. Der Mensch stirbt also gleichzeitig mehrere Tode, menschenunwürdige Tode. Er stirbt sie in einer „dinglichen“ und in einer „sozialen Dimension“; wenn er in ein Pflegeheim kommt, möglicherweise zehn bis zwanzig Jahre lang. Er muss lebenswichtige Entzüge erleiden, lauter kleine Einzeltode sterben. Ihm wird Grundsätzliches entzogen, sein Leben wird unwert gemacht. Er erleidet einen völligen Identitätsverlust. Auf einen Schlag wird er zum Staatsbürger zweiter, dritter, vierter Klasse gemacht, und das ist noch eine geradezu liebevolle Umschreibung dessen, was mit ihm geschieht. Und kein Gesetz, kein Richter hilft ihm! Sie meinen, das gibt es nicht? Weil nicht sein kann, was nicht sein darf?

Ich beweise es Ihnen und komme damit zu den eben angeführten Dimensionen, die ich kataloghaft beschreiben möchte:

Zunächst zur „dinglichen“ Entzugsdimension: Bei in der Regel zwangsweißem Eintritt in ein Pflegeheim erfolgt

  1. Taschengeldzuteilung bzw. totaler, ersatzloser Geldentzug ohne Erklärung;
  2. das Krankenscheinheft wird abgenommen;
  3. der Hausarzt wird bestimmt;
  4. der Nachttisch wird zum einzigen persönlichen Bereich gemacht (und der steht häufig so weit entfernt, dass er nicht mehr erreichbar ist); usw.

Wesentlich umfassender und bedrückender stellt sich die „soziale“ Entzugsdimension dar:

  1. Der Mensch wird zum „Patienten“ gemacht (dem, der duldet, mit dem gemacht wird, der nicht mehr über sich selbst bestimmen darf);
  2. wesentliche Elemente aus dem Primärgruppenbereich werden ihm entzogen, wie:
    oft sogar die Sprache als das eigentliche Kommunikationsmittel:
    a) Aufklärung und Gespräche über Krankheiten finden in lateinischen Begriffen statt, zudem über den Kopf des Kranken hinweg, jedoch am Krankenbett,
    b) ausländische Pflegekräfte, die der Muttersprache des Pflegeheimbewohners kaum mächtig sind, werden zu seinem „Gesprächspartner“ gemacht,
    c) am Krankenbett wird stumm gearbeitet,
    d) die Anrede erfolgt in der 2. Person Plural („so, nun wollen wir uns ausziehen“…) oder gar in der 3. Person Singular („na, wie geht es ihm denn heute, hat er schon wieder die Hosen voll?“);
  3. Verwandtenentzug, z.b. durch Besuchszeiten;
  4. Partnerentzug durch Trennung des männlichen vom weiblichen Pflegebereich;
  5. Ersatzpartnerentzug: Unmenschliche Hausordnungen verbieten das Halten freundgewordener Klein- oder Haustiere;
  6. Zärtlichkeitsentzug:
    a) Ersatzzärtlichkeit wird untersagt (s a 5.),
    b) Streicheln oder gar Küssen der Bewohner ist verboten, da als „eklig“ und „unhygienisch“ geltend;
  7. Zuhause-Entzug: Entzug der Privatsphäre durch
    a) Verbot eigener Möbel, eigener Bettwäsche, oft sogar eigener Nachtkleidung,
    b) die Bezugspersonen treten in scheinbar steriler weißer Bekittelung auf;
  8. Entzug der eigenen Wertigkeit: „Du bist kein vollwertiger Mensch mehr, was bringst Du denn noch, was leistest Du?“ Entzug des „Wir-Gefühls“;
  9. Der Mensch wird gezwungen, circa eine viertel bis eine halbe Stunde lang mit kot- oder urinbeschmutzten Hosen herumzulaufen, ehe er, von Verbalinjurien begleitet, saubergemacht wird;
  10. der Geschmack wird vorgeschrieben;
  11. Farben werden entzogen bzw. eingeschränkt auf weiß, grau, schwarz;
  12. zum Sterben schließlich wird der Mensch abgeschoben in einen anonymen Raum: Bad, Fäkalienraum, Sterbezimmer; er wird alleingelassen, Gespräche vor dem Tode über den Tod verboten oder vermieden; Bis zum Tode wird er mit Medikamenten vollgestopft; er wird nicht mehr gewaschen, weil er „ja sowieso gleich stirbt“;
  13. er darf nicht einmal seine eigene Bestattungsform selbst bestimmen (Verwandte entscheiden das für ihn).

Das einzige, das dem Menschen bleibt, ist sein Name! Wie lange noch, bis er eine Nummer wird? Wir müssen endlich aufhören, ausschließlich nach Gesetzen und Bestimmungen zu fragen und endlich einfangen, uns Selbst zu hinterfragen, damit es mit Lilli Pincus endlich heißen kann: death is the final stage of growth (Der Tod ist die reifste Phase des Wachstums).

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