Militärmacht EU.
Die Militarisierung der europäischen Integration kommt Schritt für Schritt voran
Mitteilungen Nr. 169, S. 6
Im Dezember 1999 haben die Staats- und Regierungschefs der EU auf ihrem Gipfeltreffen in Helsinki beschlossen, eine europäische Eingreifstreitmacht für Krisenreaktionseinsätze – sprich: militärische Interventionen – aufzubauen. Das ist der jüngste und bisher weitreichendste Schritt im Rahmen der gegenwärtig laufenden „Stärkung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ – wie es im offiziellen Jargon heißt. Angestrebt wird nichts anderes als der Aufbau einer Militärgroßmacht EU.
Entsprechende Bestrebungen haben seit dem Krieg der NATO gegen Jugoslawien eine neue Dynamik gewonnen. Haben doch „die Europäer“ – also die Regierungen der wichtigsten in der EU zusammengeschlossenen Regierungen – ihre ganz eigenen „Lehren“ aus Verlauf und Ausgang des Krieges gezogen. Dieser Krieg nämlich war auch eine Veranstaltung, mit der die USA den Europäern drastisch ihre militärische Überlegenheit vor Augen geführt haben und deutlich gemacht haben, daß in der westeuropäisch-nordamerikanischen Konkurrenz jedenfalls auf dem Felde von Rüstung, Militärtechnologie und militärischen Apparaten die EU-Staaten weit abgeschlagen sind.
Die Haupt„last“ des Krieges haben eindeutig die USA getragen; letztlich wären sie durchaus in der Lage gewesen, die Operation militärisch im Alleingang durchzuziehen. Demgegenüber hätten die EU-Europäer den Krieg allein, ohne die USA, niemals führen können. Diese Verteilung der Gewichte hatte selbstverständlich auch Auswirkungen auf die Entscheidungsbildung auf politischem, strategischem und taktischem Gebiet – bis in die Zielauswahl hinein. Und so beklagten sich die Europäer denn auch über ihre relative Einflußlosigkeit hinsichtlich des konkreten Ablaufs der militärischen Aktionen. Die Schlußfolgerung, die aus dieser Konstellation gezogen wurde, war: Um aus der Abhängigkeit von den USA – wenigstens ein Stück weit – herauszukommen, müssen wir – die Europäer – unsere militärischen Anstrengungen verstärken. Nur dann können wir uns in Zukunft gegenüber den USA mehr Gehör verschaffen.
Der eigenen Öffentlichkeit wurde und wird diese Argumentation – insbesondere von der rot-grünen Bundesregierung – „friedenspolitisch“ verbrämt und mit populärem anti-amerikanischen Unterton verkauft: In den USA herrsche ja bekanntlich eine militärische „Hau-drauf“-Mentalität vor, die sich aus der Arroganz der – militärischen – Macht speist; demgegenüber sind „wir Europäer“ (und vor allem „wir Deutsche“) sehr viel zurückhaltender, stärker auf zivile Konfliktregelung orientiert und militärischem Draufschlagen eher abhold. Um dieser zivilisierteren europäischen Attitüde künftig mehr Gewicht zu verleihen, müßten „wir“ allerdings auch gewisse Anstrengungen unternehmen, um uns militärisch von den USA unabhängig(er) zu machen. Die Konsequenz: Die EU müsse auch eine eigene sicherheits- und verteidigungspolitische Kompetenz entwickeln.
Neu ist dabei nicht diese Absichtserklärung, sondern der frische Schwung, mit dem seit dem Krieg gegen Jugoslawien an die praktische Umsetzung herangegangen wird. Schon im Vertrag von Maastricht und noch prononcierter im Amsterdamer Vertrag ist die Rede davon, daß die EU eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik entwickeln müsse, die schließlich auch die Verteidigungspolitik umfassen und letztlich in die gemeinsame Verteidigung münden solle. Damit war zwar ein Ziel proklamiert, über den Weg dorthin und die Dauer, bis das Ziel erreicht sein würde, war allerdings noch nichts gesagt. Vielmehr herrschten hierüber Unklarheit und offensichtlich auch erhebliche Differenzen. Das hat sich seit dem Krieg in gewissem Maße geändert. Man ist in der EU stärker zusammengerückt und drückt aufs Tempo. Deutlich wird das etwa an einer britisch-französischen Annäherung in Fragen europäischer Militärpolitik, die in der jüngsten Vergangenheit sogar zu einigen gemeinsamen britisch-französischen Initiativen geführt hat. Das ist insofern bemerkenswert, als bisher Briten und Franzosen innerhalb der EU die am weitesten auseinander liegenden Vorstellungen über die europäische Militärpolitik hatten. Die Briten waren und sind traditionell stark transatlantisch und NATO-orientiert, pflegen ihre „special relationship“ mit den USA und wollten eine Europäisierung von Sicherheit und Militärpolitik nur in Unterordnung unter die NATO – und damit die US-Führung – zulassen. Die Franzosen hingegen strebten und streben in gaullistischer Tradition eine (weitestgehend) von den USA unabhängige eigenständige Militärgroßmacht Europa an.
Diese Differenzen sind auch heute keineswegs vollends ausgeräumt, doch scheint man sich auf eine Kompromißlinie zuzubewegen, die es erlaubt, einerseits durchaus schon einige harte Entscheidungen festzuklopfen und zugleich andererseits künftige Optionen offenzuhalten. Daß dies möglich wird – daran hat die rot-grüne Bundesregierung maßgeblich mitgedreht; und sie – allen voran der Außenminister Josef Fischer – ist auch noch stolz darauf, daß so der Militarisierung der EU ein neuer Schub gegeben wurde. Denn entgegen aller Beteuerungen insbesondere grüner Programme, man sehe Vorzug und Stärke der EU gerade darin, daß sie „Zivilmacht“ sei und daß dies auch so bleiben solle, wurde von deutscher Seite während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 ein ausgefeilter Plan erarbeitet und vorgelegt, der eine ganze Palette handfester Maßnahmen zur „Stärkung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ (1) vorsah. Damit wird dem „Zivilmacht“-Image, welches schon immer wenig mit der Realität zu tun hatte – schließlich gehören die Schlüssel-Staaten der EU zu den hochgerüstetsten und militärisch mächtigsten der Welt, und die EWG/EU war auch bereits zu Zeiten der Ost-West-Blockkonfrontation ein zentraler Bestandteil des westlichen Systems – endgültig der Garaus gemacht.
Die rot-grüne Bundesregierung ließ sich bei ihrem Plan zur Militarisierung der EU von dem Gedanken leiten, daß sich die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU „auf glaubwürdige operative Fähigkeiten stützen können (müsse), wenn die Europäische Union in der Lage sein soll, auf der internationalen Bühne uneingeschränkt mitzuspielen“. Wenn man „uneingeschränkt mitspielen“ will, braucht man das entsprechende „Spielzeug“, sprich: „autonome Handlungsfähigkeiten, die sich auf glaubwürdige militärische Fähigkeiten und geeignete Beschlußfassungsgremien stützen“. Man brauche mithin so aparte Strukturen und Gremien wie einen „EU-Militärstab einschließlich eines Lagezentrums“, „ein Satellitenzentrum“, einen „EU-Militärausschuß“, ein „ständiges Gremium in Brüssel (politischer und sicherheitspolitischer Ausschuß) bestehend aus Vertretern mit politischer/militärischer Expertise“ und regelmäßige Treffen der Verteidigungsminister. Das alles sei erforderlich, damit die EU in die Lage versetzt werde, die sog. Petersberg-Aufgaben erfüllen zu können. Auf dem Petersberg bei Bonn hatte sich die WEU (Westeuropäische Union) anläßlich ihrer Außen- und Verteidigungsministertagung am 19. Juni 1992 bereits zuständig erklärt für „humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung, einschließlich friedenschaffender Maßnahmen“ – also Militärinterventionen. Diese Petersberg-Aufgaben machte sich die EU mit dem Amsterdamer Vertrag zueigen. Nun geht es folglich darum, die militärischen Fähigkeiten der EU so weiter zu entwickeln, daß sie „auch für Krisenbewältigungsoperationen geeignet sind“. Deswegen müssen die Streitkräfte der Zukunft folgende „Haupteigenschaften“ haben: „Dislozierungsfähigkeit, Durchhaltefähigkeit, Interoperabilität, Flexibilität und Mobilität“. Das heißt, man orientiert auf eine eindeutig offensiv- und interventionsfähige Auslegung der eigenen militärischen Mittel. Es geht nicht um Verteidigung der Territorien der EU-Mitgliedstaaten, sondern um die Fähigkeit zur Militärintervention fern der Heimat.
Volker Böge, Komitee für Grundrechte und Demokratie
(1) S. Bericht des Vorsitzes über die „Stärkung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Bulletin, Nr. 49, 16. August 1999, S. 533-535. Die folgenden Zitate im Text aus ebd.