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Nur eine zivile Politik mit Perspektive

01. Dezember 1998

Stellungnahme zum Kosovo-Konflikt – Veröffentlichung des Komitee für Grundrechte und Demokratie

Mitteilung Nr. 164, S. 116-117

Der vorläufige Ausgang der Holbrooke-Mission ist zu begrüßen, soweit dadurch die militärischen Kämpfe in Kosovo beendet und völkerrechtswidrige Angriffe der NATO auf Serbien verhindert werden können. Eine möglichst starke OSZE-Beobachtermission, gegebenfalls ergänzt durch internationale Polizeikräfte und UN-Blauhelme deeskalierender Art, sollte unverzüglich mit Zustimmung durch den UN-Sicherheitsrat und der Konfliktparteien als „Puffer“ zwischen Serben und Kosovo-Albanern wirken, um den Waffenstillstand zu sichern. Wichtig ist es, sofort den freien Zugang auch für die staatlich ungebundenen ausländischen Hilfsorganisationen sicherzustellen.
Die Erleichterung über dieses Ergebnis darf jedoch nicht dazu führen, die grundsätzliche politische, zivile Bearbeitung des Konfliktes nun erneut zu vernachlässigen. Denn das Ausmaß der Entrechtung der albanischen Bevölkerung und die Brisanz der Situation im Kosovo ist im Westen seit vielen Jahren bekannt. Trotzdem wurde der Kosovo-Konflikt im Dayton-Abkommen ausgeklammert, und die gewaltfreie Politik der Kosovo-Albaner erfuhr im Westen keine wirksame Unterstützung im Sinne vorbeugender Konfliktbearbeitung. Die wesentlichen Regierungen versagten so denjenigen die Unterstützung, die über viele Jahre ohne Gewalt mit zivilen Mitteln um eine politische Kompromißlösung rangen und überließen sie lange Zeit der politischen Willkür Belgrads. Sie begannen erst zu reagieren, als Kosovo-Albaner den bewaffneten Kampf aufnahmen.
Vielen Analytikern des Konfliktes ist bewußt, daß er leicht zum Auslöser für einen großen Balkan-Krieg werden könnte. Diese Erkenntnis signalisiert gleichzeitig, daß er nicht im engen Rahmen des Kosovo allein gelöst werden kann. Die vielfältigen Verwerfungen und Spannungen auf dem Balkan bedürfen einer weiten politischen Perspektive zu ihrer Lösung. Die nationalistischen Rivalitäten gilt es aufzulösen zugunsten einer kooperativen Haltung zur Entwicklung der ganzen Region. Die Menschen aller Gruppierungen und Völker müssen dadurch begreifen, daß sie gegeneinander nur verlieren werden, aber im Miteinander über ethnische Grenzen hinweg alle gewinnen können. Dazu bedarf es der Unterstützung aus ganz Europa und darüber hinaus.
Die Perspektive besteht im Beginn einer Balkan-Kooperation, die als sicher sehr langfristiges Ziel eine Verbindung mit der EU ermöglicht. Daran können sich alle Staaten und Völker beteiligen, die kooperationsbereit sind und auf gewaltsamen Konfliktaustrag verzichten. Hierüber ist mit den Gesellschaften, also den BürgerInnen in Serbien, Montenegro, im Kosovo und den anderen Balkanstaaten ein offener und öffentlicher Dialog in den vielfältigen Formen so zu entwickeln, daß er nicht von den Herrschenden unterbunden werden kann. Die Menschen selbst müssen ihr Interesse an einer solchen Perspektive begreifen und deshalb für den Frieden und Versöhnung eintreten. Das wäre gleichzeitig ein großer Schritt in Richtung Demokratisierung und zunehmender gegenseitiger Toleranz. Beide sind wesentliche Schlüssel zur Befriedung des Balkans.
Aus dem Ausland, aus den vielen Staaten Europas muß die Botschaft von oben und unten kommen: Wir sind an der Seite derer, die auf Gewalt verzichten, ihren Geschwisterkampf beenden und sich zur Kooperation zusammenfinden. Diese Botschaft muß ganz ausdrücklich die serbische Bevölkerung einschließen und ansprechen. Dies hätte eine enorme sozialpsychische Bedeutung, um das Trauma, Serbien müßte sich gegen die ganze Welt verteidigen, überwinden zu können. In diesem Zusammenhang sollte auch die baldmöglichste Rückkehr der jugoslawischen Förderation in die OSZE auf die Tagesordnung gesetzt werden.
Das politische Instrument, um eine solche Kooperation in Gang zu setzen, könnte eine institutionalisierte Dauerkonferenz sein, wie sie im Ost-West-Konflikt in der Form der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit“ (KSZE, heute OSZE) recht erfolgreich praktiziert wurde. Diese Konferenz hätte die Aufgabe, die Fundamente für eine gemeinsame Entwicklung zu erarbeiten, die mit einem „Balkan-Marshall-Plan“ verwirklicht werden sollte. An diesem Vorhaben können sich alle europäischen Staaten beteiligen, die auf Gewalt gegeneinander verzichten. Dort ginge es nicht mehr um den scheinbar ethnischen Konflikt zwischen kosovo-albanischer und serbischer Bevölkerung usw., sondern um den Dialog zwischen kooperationsbereiten Kräften auf dem Balkan. Von der EU sollten Konsultationsgespräche über eine solche Balkanzusammenarbeit, erforderliche Vorbereitungsschritte und Verfahren eingeleitet, aber auch die Bereitschaft zur materiellen Unterstützung eines solchen Vorhabens signalisiert werden. WestpolitikerInnen werden nach den erforderlichen Finanzmitteln fragen. Doch eine solche Politik ist weit billiger als millitärische Interventionen. Sie ist für alle, einschließlich der EU-Staaten, viel zukunftsträchtiger und kann Fundamente für eine stabile Entwicklung auf dem Balkan legen.
Im Sinne einer zivilen Konfliktbearbeitung können ferner die folgenden Instrumente wirksam sein: Anhörungen und Vermittlungsbemühungen auf den verschiedenen Ebenen, Gewaltfreiheitspakte auch in lokalen Bereichen, Waffenrückkauf-Programme und die Bildung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen. Zu klären ist auch der Umgang mit Kriegsverbrechen, die wohl auf allen Seiten verübt worden sind. Es gilt die Bedingungen für den Prozeß der Konfliktbearbeitung günstig zu gestalten, während die Lösungen von den Kontrahenten selbst erarbeitet und vereinbart werden müssen.
Die Entfaltung einer Perspektive für zukünftige Entwicklung und Vertrauensbildung gehören zusammen. Darum ist es wichtig, daß auf vielen Ebenen (Kirchen, Gewerkschaften, Berufsverbänden, Wissenschaft, Medizin, Wirtschaft usw.) Serien von Zusammenkünften organisiert werden, in welchen Erwartungen und Möglichkeiten der Entfaltung von Zusammenarbeit erörtert werden. Ganz in diesem Sinne sind alle Kräfte und Gruppierungen, die sich für eine friedliche zivile Lösung einsetzen, zu unterstützen. Dies kann durch die Bereitstellung finanzieller Mittel erfolgen, durch Einladungen ins Ausland, um den Gruppen ein internationales Forum zu geben, durch Bereitschaft der Medien, die gewaltfreie Arbeit bekannt zu machen, durch die Ausrichtung von Regional-konferenzen, auf denen sich Friedens- und Anti-Kriegsgruppen, Gruppen aus verschiedenen Staaten der Region besprechen und Zusammenarbeit vereinbaren können usw. Dabei muß die eigenständige Arbeit solcher Gruppen respektiert und Hilfe zur Selbsthilfe geleistet werden.
Um eine solche Entwicklung zu ermöglichen, muß der aktuelle Konflikt um den Status des Kosovo entschärft werden, ehe er später unter der neuen Perspektive geprüft und geregelt werden kann. Es scheint daher sinnvoll, gegenwärtig eine vorläufige, möglichst großzügige Autonomie-Regelung zu vereinbaren, die in bestimmten Intervallen entsprechend den gemachten Erfahrungen und der neuen Entwicklung im Rahmen der KSZE für Südost-Europa zu überprüfen ist. In diesem Zusammenhang sollte der serbischen Seite die Aufhebung der verhängten Sanktionen zum frühstmöglichen Zeitpunkt in Aussicht gestellt werden.
Die humanitäre Hilfe, die die kosovo-albanische und serbische Bevölkerung gegenwärtig benötigt, ist nicht nur unter dem Aspekt der Linderung von Not zu begreifen, sondern auch als ein Signal an die Menschen dort, daß die europäische Politik nun ein neues Verhältnis zu den Balkanstaaten sucht, das nicht mehr auf Militäraktionen und geopolitischen Interessenskalkülen wie in der Vergangenheit beruht, sondern auf der Einsicht, daß die europäische Zusammenarbeit allen Menschen und Völkern auf diesem Kontinent zu dienen hat. Das ist freilich eine große Herausforderung an alle Europäer.

Erstunterzeichnende:
Prof. Dr. Astrid Heide-Albrecht, TU Berlin, Prof. Dr. Ulrich Albrecht, FU-Berlin, Vorsitzender der AG Friedens-und Konfliktforschung, Prof. Dr. Elmar Altvater, FU Berlin, Prof. Dr. Hanne-Magret Birkenbach, Prof. Dr. Andreas Buro, Friedenspolitischer Sprecher des Komitee für Grundrechte und Demokratie, Dr. Dieter Deiseroth, Richter am OVG, Prof. Dr. Erich Küchenhoff, Universität Münster, Prof. Dr. Dr. Dieter S. Lutz, Direktor des Inst. für Friedensforschung u. Sicherheitspolitik (IFSH) in Hamburg, Dr. Regine Mehl, Dr. Reinhard Mutz (IFSH), Prof. Dr. Dr. Horst-Eberhard Richter, Direktor des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt/Main, Clemens Ronnefeld, Referent für Friedensfragen des Versöhnungsbundes, Klaus Vack, Bürgerrechtler, Sensbachtal, Dr. Christian Wellmann, SCHIFF, Kiel;

Kontakt: Andreas Buro, Tel. 06086-3087 und Clemens Ronnefeldt, Tel. 06762-2962

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