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Polizei­li­cher Datend­schungel in Europa

22. Februar 1998

Grundrechte-Report 1998, S. 44-49

Polizeiliche Informationen fließen in Sekundenschnelle über die staatlichen Grenzen – die Bürgerrechte und der Datenschutz hinken mühsam hinterher. Dies ist die Tatsache, auf die wir uns seit Anfang des Jahrzehnts einrichten müssen und die bereits in Teilen Wirklichkeit geworden ist.

Kaum hatten die Polizeien Westeuropas in den siebziger Jahren mit der Nutzung der EDV im nationalen Rahmen begonnen, folgten auch schon Pläne auf internationaler Ebene. Interpol sollte einen „Fichier Informatisé des Recherches“ aufbauen. Das Projekt scheiterte an rechtlichen und finanziellen Problemen. Erst mit dem Umzug des Interpol-Generalsekretariats 1989 von Paris nach Lyon zog auch die Informationstechnik in die Organisation ein. Die Mitarbeiter des Generalsekretariats nutzen heute intern ein „Criminal Intelligence System“. „Automatic Search Facility“ heißt das Datensystem, an das auch die Nationalen Zentralbüros (NZB) der Mitgliedsstaaten, in Deutschland das Bundeskriminalamt (BKA), angeschlossen sind. Jedes NZB kann darin Daten, meist internationale Haftbefehle, zum Online-Abruf für andere bereitstellen. Eine Abfrage durch nachgeordnete nationale Polizeidienststellen ist aber ausgeschlossen.

Die Initiativen für supranationale polizeiliche Datennutzung blieben in den siebziger Jahren beschränkt. Ab 1978 bot die BRD allen europäischen Interpol-Mitgliedern an, wechselseitig den Online-Zugang zu den Sachfahndungsdateien ihrer Polizeien einzurichten. Von dieser Möglichkeit machen inzwischen mehr als zehn Staaten Gebrauch. Der automatische Austausch von Personendaten bedurfte demgegenüber einer klaren vertraglichen Absicherung, die erst durch die seit Mitte der achtziger Jahre erfolgte schrittweise Erweiterung der Europäischen (Wirtschafts-)Gemeinschaft zu einer EG der inneren Sicherheit möglich wurde.

SIS-Fahndung zur Abschiebung

Die Verhandlungen der Schengener Vertragsgemeinschaft, des polizeilichen „Kerneuropas“, legten die Grundlage für einen „europäischen Fahndungsraum“. Das Schengener Informationssystem ging 1995 mit sieben beteiligten Staaten ans Netz (BRD, Frankreich, Benelux-Staaten, Spanien, Portugal). 1997 wurden Italien, Österreich und Griechenland zugeschaltet.

Das SIS ist ein Fahndungssystem. Seine Zentrale, das C-SIS in Straßburg, bildet eine Art Relaisstation, die die parallele Speicherung aller Daten in den nationalen Komponenten, den N.SIS, gewährleistet. Die Eingabe erfolgt von den nationalen Systemen aus. In Deutschland ist hierfür das BKA verantwortlich. Abgerufen werden die Daten von lokalen Terminals. Bis 1997 belief sich deren Zahl auf 30000. Davon standen alleine 9000 in Deutschland – und zwar beim BKA, bei den Länderpolizeien, bei Bundesgrenzschutz und Zoll, bei den Ausländerbehörden sowie beim Bundesverwaltungsamt. Letzteres sorgt dafür, daß auch die deutschen Konsulate im Ausland mit den Daten des SIS versorgt werden.

Das SIS ermöglicht sowohl die Fahndung nach Sachen als auch nach Personen. Letztere können ausgeschrieben werden

– zur Festnahme und Auslieferung,

– zur Aufenthaltsermittlung,

– zur Suche nach Vermißten,

– zur Beobachtung oder verdeckten Kontrolle,

– zur Zurückweisung und Abschiebung von Nicht-EU-Ausländern.

Speicherung im SIS – Dezember 1996

Personenfahndung gesamt Deutschland

Auslieferung/Festnahme 5103 1528

Aufenthaltsermittlung 31342 1042

Vermißte 17486 1378

Beobachtung 9424 356

Drittausländer 413054 321301

Personen gesamt 476409 325605

Sachfahndung gesamt Deutschland

Autos 827516 317273

Waffen 168421 106955

Banknoten 535754 235062

Blankodokumente 33034 31825

Identitätspapiere 2200968 1215842

Sachen gesamt 3765693 1906957

Nur ein minimaler Anteil der gespeicherten Personen (ganze 1,1 Prozent) wird zur Auslieferung gesucht. Weitere 6,6 Prozent entfallen auf die Aufenthaltsermittlung und damit auf die Verfolgung leichterer Delikte. Der Löwenanteil von 86,7 Prozent aller Ausschreibungen entfällt dagegen auf die Zurückweisung oder Abschiebung von Nicht-EU-Ausländern. Nach wie vor ist die BRD verantwortlich für über zwei Drittel der Personen- und mehr als die Hälfte der Sachfahndungsdaten.

In den kommenden Jahren werden weitere Staaten an das SIS angeschlossen werden. Weil dann das System überlastet wird, hat der Schengener Exekutivausschuß im Dezember 1996 schon die Schaffung eines „SIS der zweiten Generation“ beschlossen.

Eurodac

Auch das zweite Dateienprojekt der justiz- und innenpolitischen Zusammenarbeit der EU ist im Kontext der Ausländer- und Asylpolitik angesiedelt. 1990 unterzeichneten die Innen- bzw. Justizminister der heutigen EU (damals noch EG) das Dubliner Erst_asyl-Abkommen. Pro Flüchtling soll danach nur je ein Asylantrag im ganzen EU-Gebiet gestellt werden dürfen, und zwar bis auf Ausnahmen in dem Staat, den der Füchtling als ersten betreten hat.

„Asylmißbrauch“ soll verhindert werden. Mit dieser Begründung werden in der BRD seit 1992 alle Asylsuchenden erkennungsdienstlich behandelt. Ihre Fingerabdrücke werden bundesweit in AFIS, einer Datei des BKA, gespeichert. Nach demselben Muster will man europaweit vorgehen: Ob ein Asylgesuch ein Erstantrag ist und wo er gestellt wurde, soll mit Hilfe eines EU-weiten automatisierten daktyloskopischen Systems erkannt werden. EURODAC, das die nationalen AFIS-Systeme verkoppeln soll, ist seit 1993 geplant. Das technische Konzept hierfür lieferte die französisch-amerikanische Computerfirma Morpho-Electronics, die bereits die Fingerabdrucksysteme Frankreichs und der BRD aufbaute. Der dazu erforderliche Vertrag zwischen den EU-Staaten ist in Arbeit.

Europol

Anfang 1994 nahm in Den Haag die Europol-Vorläuferin – die Europol-Drogen-Einheit (EDU) – ihre Arbeit auf. Rechtsgrundlage dafür ist eine ministerielle Vereinbarung der EU-Staaten von 1992. Die EDU führt zwar noch keine eigenen Datensysteme, hat aber bereits einen wesentlichen Kern der 1995 unterschriebenen Europol-Konvention vorweggenommen: das Verbindungsbeamtenschema. Die Drogeneinheit beschäftigt sich – seit weiteren Ministerbeschlüssen von 1995 und 1996 – auch nicht mehr nur mit Drogen und darauf bezogener Geldwäsche, sondern auch mit Kfz-Verschiebung, Schleppern, Nuklearschmuggel und Frauen_handel.

Die Verbindungsbeamten, darunter allein sechs aus Deutschland, haben via Terminal jeweils Zugang zu „ihren“ nationalen Polizeidateien. Sie können Anfragen, die ihnen von den Verbindungsbeamten eines anderen Staates vorgelegt werden, teils selbst beantworten oder aufgrund ihrer genauen Kenntnis der heimischen Behörden schnell weitere Informationen beschaffen.

Am konventionellen Informationsaustausch zwischen den Polizeien verschiedener EU-Staaten hat sich scheinbar nur insoweit etwas geändert, als die EDU zu einer effizienten Relaisstation geworden ist. Faktisch betreibt die EDU bereits jetzt eigene Ermittlungen. Ein deutliches Zeichen dafür ist, daß die Zahl der Anfragen nur halb so groß ist wie die der Antworten. Anders ausgedrückt: In einem Teil der Fälle führt die Tätigkeit der EDU zu systematischen Abklärungen in mehreren beteiligten Ländern, die EDU produziert einen Datenmehrwert. Über die Verbindungsbeamten werden zusätzlich auch grenzüberschreitende verdeckte Ermittlungen gesteuert.

Seit der Unterzeichnung der Europol-Konvention im Juli 1995 bemüht man sich um den Aufbau der gemeinsamen Datenverarbeitung. Geplant ist eine Registerdatei, das Europol-„Informationssystem“. Darin sollen die Personalien und Personenbeschreibungen nicht nur von Verurteilten, Beschuldigten und unmittelbar Tatverdächtigen gespeichert werden, sondern auch die anderer Personen, „wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß sie Straftaten begehen können“, für die Europol zuständig ist.

Zusätzlich zum Informationssystem können für besondere Analysen Arbeitsdateien eingerichtet werden, in denen ein erheblich breiterer Personenkreis gespeichert werden darf: Neben den Verurteilten und (möglichen) Verdächtigen dürfen hier auch (mögliche) Zeugen, (mögliche) Opfer, Kontakt- und Begleitpersonen sowie Personen, die Informationen liefern können, erfaßt werden. Im Klartext: alle Personen, für die sich Europol und die daran beteiligten nationalen Polizeien in irgendeiner Weise interessieren. Auch Daten über Rassenzugehörigkeit, Sexualität und Gesundheit sind, wie die bereits erstellten Ausführungsbestimmungen zeigen, nicht tabu.

Es geht so weiter

Mit Europol ist die europäische Datengeschichte noch längst nicht abgeschlossen. Für ein Zollinformationssystem wurde bereits 1995 ein Vertrag unterzeichnet. Ein Zollrecherchesystem, ein Europol für die Zollbehörden, ist in Diskussion. Am 9. Juni 1997 faßte der Rat der EU-Innen- und Justizminister eine Entschließung „über den Austausch von DNS-Analyseergebnissen“. Die EU-Staaten werden darin aufgefordert, kompatible Datenbanken über „genetische Fingerabdrücke“ aufzubauen. „Es ist zu prüfen“, heißt es in der Entschließung, „welche Rolle Europol in diesem Zusammenhang spielen kann“. Bleibt hinzuzufügen, daß solche Dateien nach dem vom Bundestag im Dezember 1996 beschlossenen Gesetz hierzulande nicht erlaubt sind.

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