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Sterben und Sterbehilfe nach dem Urteil von Karlsruhe

14. Juli 2020

Hanjo Lehmann

12 Forderungen an Politik, Medizin und Gesellschaft. In: vorgänge Nr. 229 (1/2020), S. 101-106

Die Karlsruher Entscheidung zu § 217 StGB trägt dazu bei, die rechtliche Zulässigkeit und die Rahmenbedingungen für ärztliche/organisierte Suizidbeihilfe zu klären. Ob es nach dieser Entscheidung für Suizidwillige einfacher wird, bei Ärztinnen und Ärzten entsprechende Unterstützung zu finden, steht jedoch auf einem anderen Blatt. Neben den Risiken, die sich aus den weiterhin bestehenden berufsrechtlichen Verboten ergeben, fehlt es vielerorts schlicht an Ärztinnen und Ärzten, die bereit sind, Suizidwillige zu beraten und auch praktisch zu unterstützen.

Gegen diesen Missstand haben Berliner Ärzte 2015 die „Arbeitsgemeinschaft ärztliche Sterbehilfe“ gegründet. Sie will Kolleginnen und Kollegen zusammenzubringen, die bereit sind, in begründeten Fällen Sterbehilfe zu leisten. Der Arbeitsgemeinschaft gehörte auch der mittlerweile verstorbene Uwe-Christian Arnold an. Nachdem § 217 StGB vom Tisch ist, will Hanjo Lehmann die Aktivitäten der Arbeitsgemeinschaft wieder aufnehmen. Die AG richtet sich ausschließlich an gleichgesinnte Mediziner, die sich über ihre Erfahrungen zum Thema Sterbehilfe austauschen wollen. Sie vermittelt keine zur Sterbehilfe bereiten Ärzte!

Wir drucken im folgenden einen Aufruf Lehmanns ab, in dem dieser sich mit den nach wie vor bestehenden mentalen und praktischen Hindernisse für eine echte Legalisierung der Suizidbeihilfe auseinander setzt.

1. Den Sieg der Vernunft feiern, den Politikern misstrauen

Karlsruhe hat gesprochen: Das 2015 erlassene Verbot fachkundiger Sterbehilfe ist vom Tisch. Der Zynismus des §217 StGB war atemberaubend: Sterbehilfe sollte erlaubt sein, doch nur von Leuten, die sich nicht auskennen. Dass Suizidversuche missglücken, wurde nicht nur in Kauf genommen, sondern war geradezu erwünscht. Also blieb es dabei, dass jedes Jahr Tausende gewaltsam aus dem Leben gingen.

Doch in Karlsruhe hat nicht nur die Vernunft gesiegt. Sondern wir wissen auch, dass wir unseren Politikern in zentralen Fragen nicht vertrauen können. 2015 hat eine Mehrheit der Abgeordneten ihre eigene Ideologie über die Grundrechte aller Bürger gestellt. Das dürfen wir nie vergessen.

2. Die Realität Sterbender in Deutschland zur Kenntnis nehmen

Was wissen wir über die Realität Sterbender in Deutschland? Beschämende Antwort: Fast nichts.

Wie viele der 900.000 Todesfälle im Jahr verlaufen friedlich und „in Würde“? Wie viele empfinden ihr Sterben als quälend? Wie viele bereuen am Ende, sich nicht für einen Suizid entschieden zu haben? Niemand weiß das, und niemand will es wissen.

Wie viele sterben allein, wie viele in Begleitung? Wie viele sind verwirrt oder sediert, wie viele bei klarem Bewusstsein? Wie viele wurden zuletzt künstlich ernährt? Keiner hält das fest; keine Statistik verzeichnet es.

Wie viele sterben tagsüber, wie viele nachts? Auch dazu gibt es nur Vermutungen. Selbst darüber, wie viele Menschen zu Hause oder anderswo sterben, gibt es nur Schätzungen (zudem dadurch verfälscht, dass Personen in Alteneinrichtungen ihre Wohnung aufgeben müssen und auf dem Totenschein ein Sterben „zu Hause“ vermerkt wird). Alle diese Daten könnten leicht erhoben und zentral dokumentiert werden – aber niemand will sie wissen. Trotz dieser beschämenden Unkenntnis erklären Politiker und Ärztefunktionäre den sogenannten „natürlichen“ Tod gänzlich unfundiert für „würdevoller“ als den Suizid. Auch das gehört zu der Tabuisierung, mit der unsere Gesellschaft Tod und Sterben umgibt.

Etwa das Sterben im Pflegeheim: ca. 300.000 Todesfälle jährlich, davon geschätzte 180.000 nachts. Vielfach gibt es dort nachts nur 1 Pflegekraft pro 50 Betten, zur Hälfte belegt mit schwer Pflegebedürftigen. Glaubt jemand, diese eine Pflegekraft könnte Stunden am Bett eines Sterbenden sitzen?

Oder die ca. 400.000 Todesfälle im Krankenhaus, davon geschätzte 240.000 nachts: Sterben die, während eine Nachtschwester ihre Hand hält? Eher nicht. Die meisten dieser Menschen – vermutlich mehr als die Hälfte aller Sterbenden – sind in ihrer Todesstunde allein. Sie vergehen einsam, dieweil Politiker vom „Sterben in Würde“ reden: ein schändlicher Zustand, den wir nicht länger hinnehmen dürfen.

3. Die Grenzen der Pallia­tiv­me­dizin akzeptieren

Ist die Angst vieler Menschen vor dem Sterben berechtigt? Antwort: Ja, das ist sie.

Sterben ist in der Regel eine Abfolge von Phasen, in denen die Selbstbestimmung unwiderruflich schwindet: Verlust der Fähigkeit zu Selbstversorgung, Fortbewegung, Nahrungsaufnahme. Nachlassende Herz- und Lungenfunktion, oft mit Atemnot. Verlust der Kontrolle über die Ausscheidungen. Nachlassen von Sprachvermögen und Wahrnehmung. Nieren- und/oder Leberversagen bewirken eine innere Vergiftung, die schließlich zum Herzstillstand führt.

Diese Phasen sind unterschiedlich lang und quälend. Nur wenigen ist ein schneller Herztod vergönnt; die meisten sterben über Tage oder Wochen. Viele verdämmern künstlich ernährt über Monate im Pflegeheim. Wer „Würde“ als „Selbstbestimmung“ versteht, hat Grund, sich vor dem Sterben zu ängstigen. Diese Angst, nicht die Furcht vor Schmerzen, lässt viele Menschen einen Suizid erwägen.
Es stimmt: Die meisten Schmerzen können heute wirksam bekämpft werden, wenn auch vielfach um den Preis kompletter Verstopfung. Weitaus mehr Probleme bereitet Atemnot, insbesondere bei Wasser in der Lunge aufgrund von Herzinsuffizienz. Doch wie steht es mit der Angst der Sterbenden, und mit dem Wunsch, alles möge schnell vorbei sein?

Die Realität kann niemand aus der Welt schaffen: Tod ist Frieden, aber Sterben ist oftmals quälend. Die Angst davor kann die Palliativmedizin nur nehmen, indem sie Sterbende dauerhaft sediert, falls nötig bis zur Bewusstlosigkeit. Für viele ist das zu Recht eine Horrorvision.

Palliativmedizin und Hospize sind segensreich – aber nur für den, der sie will. Sie als Allheilmittel zu propagieren, ist Selbstbetrug. Wer selbstbestimmt sterben will, muss das Recht dazu haben, auch auf dem Sterbebett.

4. Die Leben­s­un­lust vieler Älterer respek­tieren

Oft wird so getan, als sei die Lebensunlust vieler Älterer eine medizinisch behandelbare Depression. Doch das ist sie nicht. Sie ist im Gegenteil medizinisch, psychologisch, sozial und philosophisch begründet.

Medizinisch und psychologisch: Zu den 5 Sterbephasen nach Kübler-Ross gehört die Phase „Depression“, gefolgt von „Akzeptanz“. Diese Phasen betreffen sowohl den biologischen Sterbeprozess als auch die innere Einstellung dazu. Vielfach geht das Akzeptieren des Todes über in den Wunsch, schnell zu sterben. Dies als behandelbare „Depression“ zu interpretieren, ist unberechtigt.

Sozial: Zur Realität der Alten gehört: 50% der über 80-Jährigen (über 2 Millionen) leben allein. Von den 14 Millionen über 70-Jährigen haben 20% keine oder nur eine Bezugsperson mit regelmäßigem Kontakt. 4 Millionen haben weniger als 1x im Monat Besuch von Freunden oder Bekannten. 1,5 Millionen alte Menschen haben keine sozialen Kontakte mehr. Diese Zustände sind beklagenswert. Sie sind aber – weil logisches Ergebnis einer auf Freiheit und Autonomie beruhenden Gesellschaft – auch bei gutem Willen nur begrenzt zu beeinflussen.

Philosophisch: Den Tod nicht zu fürchten und sich innerlich vom Leben zu verabschieden („ars moriendi“), gehört seit jeher zum Kern von Philosophie. Zu erkennen, dass frühere Ziele, Erfolge und Genüsse „eitel und Haschen nach Wind“ waren, ist nicht krankhaft, sondern im Gegenteil erstrebenswert. Die Gesellschaft muss lernen, das zu verstehen und zu respektieren.

5. Die Politik muss alten Menschen die Angst nehmen, andern zur Last zu fallen

Es gibt hierzulande eine skandalöse Ungerechtigkeit: Menschen mit Kindern tragen nicht nur Entbehrungen und ein erhöhtes Armutsrisiko. Im Alter werde sie zusätzlich dadurch bestraft, dass sich der Staat die Pflegeheim-Kosten von ihren Kindern holt, wenn die Alten es nicht haben. Wer dagegen auf Kinder verzichtet, sein Geld verjubelt und sich ein schönes Leben macht, für den übernimmt der Staat alle Kosten. Wen es schmerzt, die Zukunft seiner eigenen Kinder zu beeinträchtigen, den mag auch das an Suizid denken lassen. Diesen unwürdigen Zustand zu beenden, ist Sache der Politik.

6. Über Suizid zu reden, muss zur Normalität werden

Kaum war das Urteil von Karlsruhe verkündet, da erklärten schon einige Politiker, Selbsttötung dürfe nicht zur Normalität werden. Das zeigt, dass sie aus dem Urteil nichts gelernt haben. Denn die Entscheidung, wie jemand sterben will – und ob also Suizid zur Normalität wird – ist allein Sache jedes einzelnen.

Man darf wünschen, dass Suizid eine Ausnahme bleibt. Doch das Nachdenken darüber war und ist normal, seit Menschen wissen, dass sie sterben werden. Ebenso normal sollte auch das Reden darüber sein. Das gilt nicht nur für das Gespräch unter Freunden und Verwandten. Ebenso normal muss es werden, mit dem Arzt darüber zu reden, wie wir sterben wollen.

7. Ärzte brauchen nicht nur Medizin, sondern auch Philosophie

Der wichtigste Kurs zu Beginn des Medizinstudiums ist der Präparierkurs: je zehn Studenten sezieren die Studierenden eine Leiche und lernen Anatomie. Alle sind mehr oder weniger aufgeregt, nur der tote Mensch auf dem Tisch strahlt Gelassenheit aus.
Doch bald vergessen die Studenten dieses friedliche Bild. In den Jahren danach erleben sie den Tod als Feind. Sie erlernen die Medizin als Kampf, den sie gewinnen müssen. Wenn ein Patient auf der Intensivstation stirbt, heißt es: „Wir haben ihn verloren“. Dabei liegt es auf der Hand, dass die Medizin im Kampf gegen den Tod immer nur zeitweilig siegen kann, und dass der Arzt am Ende die Waffen strecken muss.

Wie geht man gelassen mit dem Sterben um? Das lehrt nicht die Medizin, sondern die Philosophie. Die aber fehlt den meisten Ärzten – am allermeisten ihren Standesvertretern und den Ärztekammern. Kein Mediziner lernt im Studium, wann er den Kampf aufgeben muss. Genauer gesagt: wann er die Entscheidung über das, was geschieht, zurück in die Hände des Patienten legen muss.

Damit Ärzte damit umgehen können, muss die Philosophie endlich wieder Eingang ins medizinische Curriculum finden.

8. Ärzteschaft und Politiker müssen lernen, den Willen der Bürger zu akzeptieren

Viele Ärzte geben an, dass sie von ihren Patienten selten oder nie wegen ärztlicher Sterbehilfe angesprochen werden. Sie merken nicht, dass dies im Grunde ein Armutszeugnis für die Ärzteschaft ist:

a) Viele ältere Patienten sind zwar bei mehreren Spezialisten in Behandlung, haben aber keinen echten „Vertrauensarzt“ mehr – schon gar keinen, mit dem sie über existenzielle Probleme sprechen könnten.

b) Patienten haben die Signale verstanden, die in der Vergangenheit nicht nur von Ärztefunktionären ausgesandt wurden, sondern ebenso von vielen Palliativmedizinern. Die nämlich besagten: „Egal wie dringend ihr uns um Mittel für einen sanften Tod bittet – wir wollen, können und werden euch auf keinen Fall helfen!“ Warum sollte der Patient (zumal auf dem Sterbebett) sich einem Arzt anvertrauen, dessen Ablehnung von Anfang an feststeht?

c) In Fällen, wo jemand dennoch den Wunsch äußerte, Suizid zu begehen, kam es immer wieder zu Einweisungen in die Psychiatrie. Das geschah sogar bei 90-Jährigen, die das Pflegeheim verließen und offen erklärten, sterben zu wollen. Die Angst, vom Arzt in die „Klapsmühle“ geschickt zu werden, ließ viele Patienten ihren Sterbewunsch verschweigen. Gesetzgeber und Ärzteschaft müssen dafür sorgen, dass sich solche Vorfälle nicht wiederholen.

9. Sterbehilfe als ärztliche Aufgabe

Dem Verbot fachkundiger Sterbehilfe lag ein auffälliges Missverhältnis zugrunde. Es gab in Deutschland jährlich einige Dutzend Sterbewilliger, die mit Hilfe von Ärzten oder Vereinen aus dem Leben gingen. Dem stehen pro Jahr ca. 100.000 einsame Suizidversuche gegenüber, von denen etwa 10.000 gelingen.
Die Mehrzahl davon erfolgt gewaltsam: 5.000 im Jahr erhängen oder ersticken sich. 1.000 stürzen sich aus großer Höhe. 500 erschießen sich wie Gunter Sachs. 1000 stürzen sich vor Autos oder Eisenbahnen wie der Torwart Robert Enke.

Jeder dieser Suizide traumatisiert andere: den Lokführer, der einen Menschen überfährt; die Mitarbeiter, die danach die Fleischfetzen bergen müssen; die Frau, die ihren erschossenen Ehemann mit zerplatztem Kopf vorfindet; das Kind, das den Vater am Strick hängen sieht. Fast alle leiden lebenslang daran. Nicht jeder dieser Sterbewilligen hätte gegebenenfalls einen sanften Weg gewählt, aber die große Mehrheit mit Sicherheit. Dies zu ermöglichen, ist ein Gebot der Humanität.

Im Prinzip müssten das nicht die Ärzte sein. Doch solange nur sie verschreibungspflichtige Mittel verordnen dürfen, kommt keine andere Berufsgruppe in Frage.

10. Rahmen­be­din­gungen für ärztliche Sterbehilfe schaffen

Kein Arzt kann verpflichtet werden, Sterbewilligen zu helfen. Doch ähnlich wie bei Abtreibungen muss das denen erlaubt sein, die dazu bereit sind. Dafür muss der Gesetzgeber rechtliche Rahmenbedingungen schaffen. Vorbilder dafür – z.B. Oregon – führt das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes auf. Falls ein Patient dem Arzt nicht langfristig bekannt ist, kann dazu gehören, dass ein weiterer Mediziner oder Psychologe Gründe und Ernsthaftigkeit des Sterbewunsches beurteilen soll, und dass zwischen dem Gutachten und der Verwirklichung des Sterbewunsches ein angemessener Zeitraum liegen muss.

Wenn die Politik das Feld nicht Unternehmen oder Vereinen überlassen will, ist die schnelle Verabschiedung solcher Regelungen unumgänglich. Dazu gehört auch die Freigabe der Barbiturate als den am besten geeigneten Mitteln.

11. Berufs­ord­nungen, die ärztliche Sterbehilfe verbieten, sind verfas­sungs­widrig

Das Karlsruher Urteil hat klargestellt: Selbstbestimmung am Lebensende ist keine Gnade, sondern ein Grundrecht. Doch auch im Blick auf Mediziner hat das Bundesverfassungsgericht Klarheit geschaffen: Es verstößt gegen das Recht auf freie Berufsausübung, Ärzten zu verbieten, Menschen mit begründetem Sterbewunsch zur Seite zu stehen.

Derzeit steht die Bestimmung „Ärzte dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten“ noch in den Berufsordnungen von 10 der 17 Landesärztekammern. Bundesärztekammer und Landesärztekammern sind aufgerufen, einen Zustand abzustellen, der nicht nur Ärzte der betroffenen Bundesländer benachteiligt, sondern auch als verfassungswidrig festgestellt wurde.

12. Die Kirchen sollten über Rituale für Sterbe­wil­lige nachdenken

Die Kirchen in Deutschland lehnen Selbsttötungen generell ab. Das ist allerdings auch bei der Todesstrafe der Fall. Dennoch ist es z.B. in den USA selbstverständlich, Todeskandidaten vor der Hinrichtung auf Wunsch geistlichen Beistand zu leisten.

Ähnliches sollte die Kirchen auch für Menschen erwägen, die mit nachvollziehbaren Gründen aus dem Leben gehen wollen. Auch in solchen Fällen sollte es Rituale geben, bei denen Sterbewillige ihren Entschluss öffentlich bekunden und sich in Würde vom Leben und von Nahestehenden verabschieden können.

Kontakt über:
Arbeitsgemeinschaft Ärztliche Sterbehilfe, c/o Büro Dr. med. Hanjo Lehmann, Cranachstr. 1, 12157 Berlin. E-Mail:
Lehmann@tcm.de  |  Mobilnr. 0175-644 9006.

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