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Ansprache des Bundes­vor­sit­zenden der Humanis­ti­schen Union, Dr. Till Müller-Hei­del­berg

01. Juni 1998
Datum: Freitag, 24. April 1998

anläßlich der Verleihung des Fritz-Bauer-Preises 1997 an Günter Grass am 24. April 1998 im Audienzsaal des Rathauses der Hansestadt Lübeck.

Mitteilungen Nr. 162, S. 40-41

Lieber Günter Grass,
meine Damen und Herren,
liebe Freunde,

ich begrüße Sie alle ganz herzlich zur Verleihung des Fritz-Bauer-Preises 1997 an Günter Grass und bedanke mich bei Herrn Bürgermeister Bouteiller für den festlichen Rahmen, den er uns zur Verfügung stellt, und für seine freundlichen Eingangsworte. Ich begrüße insbesondere die anwesenden Mitglieder des Beirates der Humanistischen Union, Erhard Denninger, Herbert Jäger, Jürgen Seifert und die früheren Fritz-Bauer-Preisträger, die heute unter uns weilen: Gerald Grünwald, Erich Küchenhoff, Ulrich Finckh und Eckart Spoo.

Insbesondere begrüße ich den Herrn Bundespräsidenten, der unter uns weilt – wenn auch nur gedanklich. Roman Herzog konnte nicht wissen, daß der Bundesvorstand der Humanistischen Union am 28. November 1997 Günter Grass den Fritz-Bauer-Preis angetragen hatte, als er anläßlich des Festaktes für Heinrich Heine in Düsseldorf am 13. Dezember des vergangenen Jahres seine Rede begann mit dem Satz: „Bedeutende Dichter machen mitunter Ärger.“ Er fuhr fort: „Heine wollte wachtrommeln (hatte der Bundespräsident dabei unbewußt die Blechtrommel im Kopf, um bereits auf unseren heutigen Preisträger zu verweisen?), den Zustand der Welt zeigen, wie sie ist.“ Und er kam zum Kern seiner Rede, als er ausführte: „Schriftsteller und Intellektuelle, für deren Typus Heine (Grass) noch heute ein Modell ist, dienen ihrem Land oft auch mit ätzender Kritik. Darauf gelassen zu hören, sich selber zu befragen und eventuell umzudenken, müssen wir zu jeder Zeit neu lernen. Schriftsteller und Intellektuelle haben keineswegs die Wahrheit gepachtet, schon gar nicht, wenn sie sich auf das Feld des Politischen begeben. Doch ist die Wahrheit auch nicht automatisch bei der Mehrheit oder den jeweils Herrschenden. Deshalb will ich gerade beim heutigen Anlaß festhalten: Ohne kritischen Einspruch, ohne das Engagement unbequemer Denker verkümmert eine Gesellschaft. Wir brauchen Streit und Widerspruch, wir brauchen die Zumutungen und Fragen unabhängiger Köpfe. Man kann sogar sagen: Nie ist der sperrige Individualist wichtiger gewesen als heute.“

Diese Charakterisierung, diese Aufforderung konnten zwar auch wir im Bundesvorstand der Humanistischen Union, der ältesten deutschen Bürgerrechtsorganisation, nicht kennen, als wir uns im November 1997 für Günter Grass als Fritz-Bauer-Preisträger dieses Jahres entschieden. Aber die hier vom Bundespräsidenten aufgestellten Forderungen an Schriftsteller und Intellektuelle, kritisch zu hinterfragen, unbequem zu denken, zu widersprechen und sich einzumischen, sind unsere Maßstäbe zur Verleihung des Fritz-Bauer-Preises, der im Angedenken an den Mitbegründer der Humanistischen Union und früheren hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer seit 1969 vergeben wird an unbequeme und unerschrockene Frauen und Männer, die sich um Recht und Gerechtigkeit verdient gemacht haben.

Die Liste der bisherigen Preisträger, in die Günter Grass sich heute einreiht, ist lang – und hoffentlich für ihn ebenso ehrenvoll wie er für sie. Sie beginnt – um nur einige zu nennen – mit Helga Einsele, der damaligen Leiterin der Frauenstrafvollzugsanstalt in Frankfurt, sie fährt fort als zweitem Preisträger mit Gustav Heinemann, dem Justizminister und Bundespräsidenten, sie enthält die Namen von Birgitta Wolf, Heinrich Hannover, dem aufrechten Strafverteidiger und Autor von Kinder- und Jugendbüchern, der Journalisten Werner Hill, Peggy Parnass und Eckart Spoo, des Strafrechtlers Gerald Grünwald, der Datenschützerin Ruth Leuze, des Kriegsdienstverweigerer-Pastors Ulrich Finckh, der Vorsitzenden der gemischt-nationalen Ehen Rosi Wolf-Almanasreh, der früheren Ausländerbeauftragten Lieselotte Funke, des Polizeipräsidenten Hans Lisken, und sie endete vorläufig mit den Namen von Hanne und Klaus Vack, den Kämpfern um Menschenrechte und Menschlichkeit „von unten“, den Aktivisten der Friedensbewegung und Kriegsdienstverweigerung und den Organisatoren von gewaltlosen Blockaden, worauf ich noch zu sprechen kommen werde, um den Zusammenhang mit unserem heutigen Preisträger herzustellen.

Was ist das Gemeinsame dieser Preisträger, übrigens nur eine Auswahl? Es ist – wie ich es bei der letzten Preisverleihung zu formulieren versucht habe „das Einstehen für den demokratischen Rechtsstaat, aber auch das Wissen, daß es nicht reicht, sich an die Formen des Rechts zu halten, sondern daß Menschlichkeit und das Streben nach Gerechtigkeit hinzukommen müssen, daß der Gesetzesvollzug nicht genügt, sondern daß man mit dem Herzen dabei sein muß. Das Gemeinsame ist das Streben, eine gerechte menschliche Gesellschaft zu schaffen.“

Dies geht nur, wenn man sich außerhalb seines eigentlichen Berufes oder Tätigkeitsfeldes mit heißem Blut in die öffentlichen Angelegenheiten zugunsten der Menschen einmischt. Nicht Grund, aber Anlaß unserer Preisentscheidung war die Laudatio von Günter Grass auf Yasar Kemal anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Oktober 1997. Günter Grass sprach – da er über einen Dichter zu reden hatte – von der „Obsession … , der Zeit gegenläufig zu schreiben und jene Geschichten zu erzählen, die nicht als Staatsakten geadelt worden sind, weil sie von Menschen handeln, die nie erhöht saßen und herrschten, denen aber allzeit Herrschaft widerfuhr. … (Er fuhr fort mit der rhetorischen Frage: ) War es nicht ein deutscher Politiker von Rang, der vor einiger Zeit vor der „Durchrassung des deutschen Volkes” gewarnt hat? Spricht nicht der in Deutschland latente Fremdenhaß, bürokratisch verklausuliert, aus der Abschiebepraxis des gegenwärtigen Innenministers, dessen Härte bei rechtsradikalen Schlägerkolonnen ihr Echo findet? Über 4.000 Flüchtlinge, aus der Türkei, Algerien, Nigeria, denen nichts Kriminelles nachgewiesen werden kann, sitzen in Abschiebelagern hinter Schloß und Riegel, Schüblinge werden sie auf neudeutsch genannt. Es ist wohl so, daß wir alle untätige Zeugen einer abermaligen, diesmal demokratisch abgesicherten Barbarei sind. … (und weiter: ) Ich schäme mich meines Landes, dessen Regierung todbringenden Handel zuläßt und zudem den verfolgten Kurden das Recht auf Asyl verweigert.”
Sich schämen zu können für sein eigenes Land – dies ist ein Zeichen von Menschlichkeit, es führt dazu (wie Günter Grass weiter ausführte), „der herrschenden Regierung lästig zu bleiben.” Und wie! Der Satz über die diesmal demokratisch abgesicherte Barbarei in unserem schönen ordentlichen Rechtsstaat, der Satz über das Schämen führte zu Haßausbrüchen bei Politikern und Medien – und dabei waren diese Formulierungen doch zum einen nichts anderes, als was der anfangs zitierte Bundespräsident fordert, zum zweiten nichts anderes als die Fortsetzung der gesamten Lebensbiographie von Günter Grass, weshalb wir ihm den Fritz-Bauer-Preis zuerkannt haben: Günter Grass hat alle möglichen, insbesondere literarischen Preise und Ehrungen erhalten bis hin zur Ehrenbürgerschaft seiner Vaterstadt Danzig und zur Ehrendoktorwürde für Literatur. Damit können und wollen wir uns nicht messen, deshalb habe ich auch kein Wort über Günter Grass als Schriftsteller, Dichter und Künstler verloren. Aber Günter Grass hat mit dem so erworbenen Ruhm etwas angefangen, er hat sich nicht nur darin gesonnt. In einem Interview im Tagesspiegel vom 15. Januar diesen Jahres hat er geäußert, Ruhm werde auf die Dauer nur durch politische Arbeit erträglich, da könne „man ihn einsetzen und den Sozialdemokraten in der Provinz eine Seele einhauchen,” wobei sich dies sicherlich nicht auf die Sozialdemokraten beschränkt. Mit Günter Grass erhält den Fritz-Bauer-Preis erstmals nach über 25 Jahren wiederum ein Schriftsteller und Künstler – nicht dafür, daß er sich künstlerisch betätigt, sondern daß er den Elfenbeinturm aufbricht und sich in die Politik einmischt. Letzter Anlaß war – ich erwähnte es – seine Preisrede für Yasar Kemal. Diese Position des Einmischens in die Politik aber hat unser Preisträger bereits seit Jahrzehnten vertreten: Mit seiner Wählerinitiative Willy Brandt, mit seiner Mitarbeit im Kuratorium für einen Bund demokratisch verfaßter Länder – dem Versuch nach 1990, eine demokratische gemeinsame Verfassung für die vereinigten Teile Deutschlands zu schaffen, statt nur bisherige westliche Vorstellungen dem östlichen Teil überzustülpen – mit seinem Austritt aus der SPD anläßlich der Abschaffung des Asylrechts, mit der Gründung der Sinti- und Roma-Stiftung oder als Mitverfasser der Erfurter Erklärung. Ich habe mit Sicherheit einiges vergessen, nur Beispiele genannt. Erwähnen möchte ich jedoch noch den Zusammenhang mit seinen Vorgängern als Preisträger, Hanne und Klaus Vack: Günter Grass hat – selbstverständlich, möchte man sagen – an der von den letztjährigen Preisträgern organisierten sogenannten Prominentenblockade des Atomwaffenlagers Mutlangen am 1.September 1983 teilgenommen und so seine Bekanntheit eingesetzt für ein als politisch richtig erkanntes Ziel gegen die etablierte Politik. Dieses nicht-daneben-Stehen, dieses sich-nicht-zu-fein-sein für das Einmischen in die „schmutzige Politik” ist das Preiswürdige an Günter Grass im Sinne von Fritz Bauer, dessen Preismedaille und Bildnis ich jetzt die große Freude habe, Günter Grass überreichen zu dürfen, indem ich das eingravierte Zitat von Fritz Bauer verlese:

Gesetze sind nicht auf Pergament,
sondern auf empfindliche
Menschenhaut geschrieben.

Till Müller-Heidelberg

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