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Laudatio auf Günter Grass gehalten von Cem Özdemir, MdB

01. Juni 1998
Datum: Montag, 01. Juni 1998

Mitteilungen Nr. 162, S 42-43

Mein Kennenlernen mit Günter Grass erfolgte bei einer Feier des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels aus Anlaß des 70. Geburtstages des heute zu Ehrenden. Der zweite Anlaß war die Laudatio auf die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Yasar Kemal, der für mich so etwas wie ein zweiter Vater ist.
Es ist vielleicht auch von Bedeutung zu wissen, warum sich Yasar Kemal nicht irgend jemanden in Deutschland für die Laudatio ausgesucht hat, etwa keinen Kanzler Kohl, sondern Günter Grass.
Für Yasar Kemal steht Günter Grass wie kein anderer für das „andere Deutschland“. Für all die guten Traditionen in der deutschen Geschichte; für einen wachen Geist, der – ganz wie Yasar Kemal selbst – sich nie zu schade war, unbequem zu sein und zu sagen, was er für richtig hält. Es gibt übrigens noch eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Yasar Kemal und Günter Grass, die die Türkei betrifft: Beide sind Ehrenvorsitzende des Deutsch-Türkischen Kulturforums mit Sitz in Köln.
Man muß dem diesjährigen Träger des „Fritz-Bauer-Preises“ der Humanistischen Union, Günter Grass, nicht in all seinen teilweise scharfen Polemiken zustimmen. Auch nicht jede Attacke scheint mir, die Sprachgewalt einmal außenvorlassend, immer gerechtfertigt – wie sollte es auch anders sein.
Auch ein großer Dichter, zumal einer vom Kaliber eines Günter Grass, hat das Recht auf Fehlbarkeit wie wir alle, er hat aber vor allem eines: Dieser Dichter versteckt sich nicht im Elfenbeinturm seines einzigartigen Erfolges als führender Autor der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Er rüttelt auf, er legt den Zeigefinger auf die Wunden einer oft zu apathischen Gesellschaft und ihrer Vertreter. Darin liegt die Rechtfertigung für seine noch so scharfen Attacken.
Vielleicht muß man so wie ich einer anderen Generation angehören, anderer Herkunft sein und die Erfahrung des Nationalsozialismus nur aus Erzählungen und dem Schulunterricht kennen, um sich über das Geschenk der Deutschen Einheit freuen zu können, ohne ständig von Unbehagen gequält zu werden. Schwer fällt es mir auch, ein Gefühl des Mitleids oder gar Sympathien für Markus Wolf oder die Nachfolgepartei der SED zu entwickeln. Mein Mitleid gehörte und gehört zu deren Opfern. Doch wir wissen auch, wie schnell in einer Zeit der Veränderungen aus Tätern Opfer werden und aus Opfern Täter werden können, wie aus einer Moral der Opfer eine Moral der Sieger wird. Fritz Bauer wie Günter Grass wissen um diese Gratwanderung, wissen um die möglichen Fehltritte und sind ihren Weg gegangen – ihrem Gewissen folgend.
Doch zurück zu der Rede von Günter Grass in der Frankfurter Paulskirche. Ich muß gestehen, ich habe es sichtlich genossen, die deutsch-türkischen Gesichter in den vornehmen ersten Reihen zu sehen, die Länder und Regierungen vertretend den Worten des Preisträgers und seines nicht minder klaren Laudators zu folgen hatten. Abwechselnd verfinsterten sich mal die deutschen mal die türkischen Mienen. Ich darf aus der Laudatio zitieren:
„Wer immer hier … die Interessen der Regierung Kohl/Kinkel vertritt, weiß, daß die Bundesrepublik Deutschland seit Jahren Waffenlieferungen an die gegen ihr eigenes Volk einen Vernichtungskrieg führende Türkische Republik dulde (…)
Wir wurden und sind Mittäter. Wir duldeten ein so schnelles wie schmutziges Geschäft. Ich schäme mich meines zum bloßen Wirtschaftsstandort verkommenen Landes, dessen Regierung todbringenden Handel zuläßt und zudem den verfolgten Kurden das Recht auf Asyl verweigert.“

Angesichts der jüngsten Bilder von der italienischen Küste und der Debatte um kurdische Flüchtlinge kann man dem Dichter wohl nur zustimmen. Die selben Kurden, deren Menschenrechte so stark verletzt werden, daß die Türkei in Luxemburg weder in die erste, noch in die zweite Runde der EU-Anwärter aufgenommen werden konnte, werden nicht so sehr unterdrückt, daß man ihnen hier Asyl gewähren müßte!
Das Land von Yasar Kemal ist nur so europäisch, wie es unseren Interessen nutzt.
Doch sparte Günter Grass auch nicht mit Kritik an der bundesdeutschen Innenpolitik.

„Nun … liegt es an uns, … die Zwänge der ab- und ausgrenzenden Politik zu überwinden, ohne herbeigeredete Ängste mit unseren türkischen Nachbarn zu leben, mehr noch, eine Politik zu fordern, die den Millionen Türken und Kurden in unserem Land endlich staatsbürgerliche Rechte gewährt.“

In Form eines neuen Staatsbürgerschaftsrechtes immer noch vergebliche Hoffnung all derer, die unter einem europäischen Deutschland nicht nur die Einheit der Währung verstehen. Und weiter sagt er:
„… immer war mir gewiß, daß diese täglichen Berührungen mit einer anderen Lebensart nur furchtbar sein können, denn keine Kultur kann auf Dauer von eigener Substanz leben. … Ähnliches läßt sich schon heute vom bereichernden Einfluß der über sechs Millionen Ausländer sagen, wenngleich ihnen, im Gegensatz zu den Hugenotten, denen ein Toleranzedikt bürgerliche Rechte zusprach, nach wie vor ausgrenzende, in der Tendenz fremdenfeindliche Politik hinderlich bleibt, der Ruf ´Ausländer raus!´ steht nicht nur auf Wände geschmiert.“

Wie wahr, möchte man da rufen, angesichts der jüngsten Entgleisungen aus Bayern, wo Humanismus als vereinte Abschiebung von straffällig gewordenen Kindern und Jugendlichen mitsamt ihren Eltern verstanden wird. Mir scheint, dort gehört der regelmäßige Ausfall ins recht Lager quasi zum guten Ton. Es geht schon lange nicht mehr um Ausländer, Asylbewerber oder Aussiedler. In fast folkloristischer Tradition, werden völlig losgelöst von Tatsachen und Realitäten oder gar geltendem Recht Sündenböcke produziert. Die große Traditionspartei und der mögliche Koalitionspartner meiner Partei nach der geltenden Bundestagswahl hat zwar – egal ob sogenannter Asylkompromiß, Visumszwang für ausländische Kinder unter 16 Jahren oder erleichterte Abschiebung von hier geborenen Jugendlichen bei Straffälligkeit stets jedes hingehaltene Stöckchen brav und artig übersprungen. Allein es hat ihr nichts genutzt. Und wenn wir keinen Neueinwanderer hätten, die „Festung Europa“ von der Drohung zur Wirklichkeit würde und Asylbewerbern kein Einlaß gewährt würde. In Wildbad Kreuth gäbe es sicher wieder ein Thesenpapier gegen die drohende Überfremdung Bayerns und Deutschland zu verabschieden.
Diese unentschlossene und zauderliche Haltung in der Haltung gegenüber Fremden und schließlich das Einknicken nach dem massiven Druck von Rechts in der Asylfrage hat Günter Grass bewogen, der Partei den Rücken zu kehren, für deren Kanzlerkandidaten Willy Brandt er 1972 mit viel Phantasie und Kraft noch in den Wahlkampf zog.
Manch einer hatte den Lyriker, Stückeschreiber und bildenden Künstler bereits im parteifernen Schmollwinkel gesehen, als klar wurde, daß Günter Grass erneut Wahlkampf macht, diesmal in Sachsen-Anhalt für das rot-grüne Modell. Ich hoffe mit Günter Grass und allen Anwesenden, daß uns ein braunes Signal aus Sachsen-Anhalt erspart bleibt. Allein die Tatsache, daß wir damit rechnen müssen, sollte uns Warnung genug sein, nicht länger die Augen vor der Gefahr der rechten Hegemonie gerade unter Jugendlichen zu verschließen. Wir brauchen nicht weniger intellektuelle Einmischung, sondern mehr, angesichts der offensichtlichen Unfähigkeit der Politik, das Problem der rechten Gewalt endlich wahr- und ernstzunehmen. Die Entschlossenheit, mit der dieser Staat bis hin zur Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze im „Deutschen Herbst“ gegen eine Mördertruppe, wie die RAF, vorgegangen ist, diese Entschlossenheit auch in der Auseinandersetzung für die Wahrung der Grundrechte, gegen rechte Gewalt, würde ich mir wünschen.
In den Reaktionen auf die Paulskirchen-Rede erhob ein christdemokratischer Tankstellen-Pfarrer den Vorwurf des „intellektuellen Tiefstandes“. Der treue Diener seines allzuirdischen Herren ging noch weiter: Grass habe sich mit seiner Rede „endgültig aus dem Kreis ernstzunehmender Literaten verabschiedet. Ich denke, Günter Grass wird den Verlust dieses Lesers verkraften können.
Der Vorwurf des Nestbeschmutzers allerdings erinnerte mich doch ein wenig an den Frankfurter Preisträger Yasar Kemal. Im eigenen Land exkommuniziert und doch sind alle stolz, wenn er zum Ruhme seines Landes beiträgt.
Aber vielleicht hat Günter Grass ja recht, wenn er in „Die Deutschen und ihre Dichter“ schreibt:

„Die Deutschen werden ihre Dichter, bevor sie Denkmäler werden, lebend, und das heißt notfalls laut, ertragen lernen.“ Und weiter:
„Die linientreuen Deutschen in Ost und West mögen ihre Schriftsteller nur, solange sie sich dunkel raunend oder positiv lebensbejahend als Dichter oder Lobredner verstehen; sobald sie deutlich werden und den Stalinismus im Kommunismus, den Nazismus in Springers Massenblättern bezeugen, wird Biermann isoliert und stumm gemacht, wird Heinrich Böll, weil er nicht stumm gemacht werden kann, so lange und so verzweigt der Hetze ausgesetzt, bis seine Nerven (so hofft man) versagen“ (ebd. S. 150)

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß.
Die Humanistische Union verleiht den Fritz-Bauer-Preis „für besondere Verdienste um die Demokratisierung, Liberalisierung und Humanisierung der Rechtsordnung in der Bundesrepublik.“ Der 1968 in Erinnerung an den Mitbegründer der Humanistischen Union Fritz Bauer gestiftete Preis soll an den langjährigen Generalstaatsanwalt von Hessen und sozial engagierten Juristen erinnern. Der streitbare, engagierte Jurist, genährt von der Erfahrung der Naziherrschaft, ist wie kein anderer geeignet, den heutigen Preisträger Günter Grass zu ehren. Der eine im Justizapparat, der andere im Literaturbetrieb, zutiefst moralisch und getrieben von nahezu unwiderstehlicher Hartnäckigkeit.
Das folgende Zitat illustriert eindrucksvoll die Aktualität von Fritz Bauer, 30 Jahre nach seinem Tod:

„Oft sind die Menschen allzu gerne bereit, innere und äußere Unfreiheit auf sich zu nehmen und sich den Sachverständigen und Managern aller Arten zu verschreiben. Sie suchen Rückhalt in der Gleichförmigkeit und Disziplin und unterwerfen sich willig und kritiklos den Mächtigen und Parolen der Stunde. Menschliche und mitbürgerliche Tugenden leiden Not; es erlahmt das Gefühl für Treue, Vertrauen und Toleranz. Das Leben regelt sich von oben nach unten, vertikal. Das Wir, die horizontalen Bindungen lösen sich auf. Wenn wir die Demokratie wirklich ernst nehmen, bedarf es eines günstigen Klimas für jede Behauptung und Verteidigung staatsbürgerlicher Rechte; jedem ist der Rücken zu stärken und Mut zu machen, der häufig nichts anderes ist als ein kleines Atom in irgend einem Großbetrieb irgendeines Großstaates, aber in der Tretmühle des Alltags sich gegen Übergriffe staatlicher oder privater Machtkonzentrationen zur Wehr setzt und, da nicht die Völker, wohl aber die Individuen ohne Raum sind, um jeden Quadratmeter seines privaten Eigenlebens streitet. Die privaten Existenzen geben in der Demokratie dem Staat Gesicht und Gepräge, nicht umgekehrt.“

(Fritz Bauer in Elga Kern [Hg.]: Wegweiser in die Zeitwende, München/ Basel, S. 105)

Herr Grass, ich gratuliere Ihnen zum Fritz-Bauer-Preis der Humanistischen Union!

Cem Özdemir

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