Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 230: 30 Jahre - wieder vereint?

Wie es 1990 wegen der Einheits­feier fast zum Eklat kam

in: vorgänge Nr. 230 (2/2020), S. 15-17

Dass der Festakt zur Feier der deutsch-deutschen Wiedervereinigung ein historisch bedeutsamer Moment werden würde, war den Beteiligten bewusst. Um die Frage, wo und wie diese Feier inszeniert werden soll, wurde deshalb bereits im Vorfeld intensiv gerungen. Die Auseinandersetzung war nicht frei von persönlichen Animositäten und parteipolitischen Rivalitäten. Vor allem aber überschattete der Streit um die künftige deutsche Hauptstadt hinter den Kulissen die Vorbereitungen der Einheitsfeier am 3. Oktober 1990, wie Werner Kolhoff in seinem Erlebnisbericht schildert.

Als im Spätsommer 1990 der Wiedervereinigungstermin feststand, der 3. Oktober, machten wir uns an die Vorbereitungen. Ich bekam vom Regierenden Bürgermeister Walter Momper (SPD) Anfang September den Auftrag, dafür zusammen mit Vertretern der Senatskulturverwaltung ein Konzept zu erarbeiten. Von vornherein war klar, dass es sich um zwei miteinander verwobene Veranstaltungen handeln würde. Zum einen die offiziellen Staatsakte, allen voran die so genannte Null-Uhr-Zeremonie in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober, der eigentliche Moment der Wiedervereinigung. Zum anderen ein Volksfest für Millionen von Berlinern und Gästen.

Wir konzipierten dieses „Fest der Einheit“ als ein betont unkommerzielles Fest. Deutschland sollte sich auf 26 Bühnen an der Straße Unter den Linden bis hinauf zum Alexanderplatz als ein Land der Vielfalt, der Zivilgesellschaft und des Bürgerengagements darstellen. Kein Brimborium, sondern viel lokale Kultur, auch Beiträge von Migranten. „Ohne falsches Pathos“, wie Walter Momper sagte. Die Oper und die Humboldt-Universität öffneten ihre Säle für eigene Veranstaltungen. Chris de Burgh und Wolf Biermann waren Highlights der zweitägigen Veranstaltung, ebenso ein gemeinsames Konzert der Militärkapellen der vier alliierten Streitkräfte im Lustgarten, bei dessen Eröffnung zu den Klängen des Marsches „Berliner Luft“ Walter Momper den Taktstock schwang. Zwei Millionen Menschen flanierten gelassen und fröhlich über die Festmeile, über der zwei Tage lang Musik lag. Das Wetter spielte mit. Die Bundesländer reagierten auf unser Angebot, sich jeweils an einem eigenen Stand mit ihren regionalen Besonderheiten zu präsentieren, allerdings nicht.

Weniger einfach war es mit der Nulluhr-Zeremonie. Ich traf mich im September in Berlin mit Abgesandten von Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU), angeführt von einem Ministerialdirektor. Was wir zu unserem „Fest der Einheit“ vorzutragen hatten, interessierte die Vertreter der Bundesregierung überhaupt nicht. Das sei Angelegenheit Berlins, hieß es, und demnach auch von Berlin zu finanzieren. Für die Null-Uhr-Zeremonie, die weltweit beobachtet werden würde, hatte das Innenministerium uns vorher ein Konzept übersandt, das wir strikt ablehnten.

Die Bundesregierung wollte den Wiedervereinigungsakt auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor feiern. Das Tor war seit dem 9. November 1989 international das deutsche Symbol schlechthin. Die Prominenz, angeführt von Bundeskanzler Helmut Kohl, sollte laut diesem Konzept auf der Ostseite auf einer Tribüne sitzen, davor das Volk und eine Pressetribüne, und dann sollten am Tor um Mitternacht feierlich drei Deutschlandfahnen gehisst werden. Je eine Fahne links und rechts, eine weitere quer unterhalb der Quadriga. Ganz abgesehen davon, dass die Quadriga auf dem Tor fehlte, weil sie gerade restauriert wurde – wir empfanden die Inszenierung als eine völlig falsche Symbolik. Auf dem Tor hatten nie Fahnen geflattert, außer bei Hitler und eine Zeitlang nach Ulbrichts Anordnung eine rote Fahne der DDR. Das war einer unserer Einwände. Außerdem wiesen wir darauf hin, dass die Fahnen am Tor nicht  hängen bleiben könnten, schon aus Gründen des Denkmalschutzes nicht. Wie aber sähe es aus, wenn man sie kurz darauf wieder entfernen müsste – vor den Augen der internationalen Journalisten?

Der Plan war zum einen eine nationale Überfrachtung. Am wichtigsten aber: Er war gefährlich. Auf den Platz passten 15.000 bis maximal 30.000 Leute. Weil aber bis zu eine Million Menschen erwartet wurden, würde es an den Absperrgittern Sicherheitsprobleme und unschöne Szenen geben. Zumal Rechtsradikale und Autonome Störungen angekündigt hatten. An Silvester erst war ein Mensch auf dem Pariser Platz umgekommen, als im Gedränge ein Gerüst einstürzte. Und hier sollte die gesamte Spitze des Staates sitzen, samt hochrangigen internationalen Gästen? Heute, nach dem Unglück bei der Love Parade in Duisburg, hätte man wohl nicht lange reden müssen, aber damals hielten die Vertreter der Bundesregierung eisern an ihrem Vorhaben fest. Und zwar auch noch, als leitende Beamte der Berliner Polizei in der Besprechung massiv auf die Sicherheitsprobleme hinwiesen. Am Ende drohte ich, der Berliner Senat werde der Bundesregierung zwar alle gewünschten Polizeikräfte zur Verfügung stellen, aber öffentlich jede Verantwortung für eine solche Veranstaltung ablehnen. Die Einheit wäre so mit einem erheblichen Missklang eingeläutet worden.

Unser Gegenvorschlag lautete, die Flagge vor dem Reichstag zu hissen. Auf dem Platz der Republik, einst Ort der großen Freiheitskundgebungen mit Ernst Reuter, hatten problemlos Hunderttausende Platz, die Politiker konnten sicher auf der Balustrade des Reichstages stehen und sich hinterher zum Empfang ins Innere zurückziehen. Ich skizzierte auf einer Karte, die ich noch heute habe, wo der 23 Meter hohe Fahnenmast genau stehen und wo die Kameratribüne aufgebaut werden sollte. Die Fahne könne als „Flagge der Einheit“ dann dauerhaft dort wehen und zum Symbol für diesen Tag werden. Die Bonner lehnten diesen Vorschlag ab. Später schickten die Beamten des Innenministeriums uns eine Alternatividee, die noch schräger war als ihre erste: Die Polit-Prominenz aus Ost- und West sollte abends im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt auf Ost-Berliner Seite den Abschied von der DDR feiern und von dort dann auf einer Videoleinwand um Mitternacht beobachten, wie die Fahne über dem einstigen Staatsratsgebäude der DDR gehisst wurde.

Am Reichstag, der auf Westgebiet liegt, habe man die Deutschlandfahne schon immer hissen können, wurde von den Bonnern argumentiert. Es gehe aber um den Beitritt der DDR. Wir wiesen das als „Eroberungsgeste“ ab; auch die DDR-Regierung unter Lothar de Maizière machte nicht mit. Und selbst Helmut Kohl, so hörten wird, fand es schlecht, die Einheit als Saalveranstaltung erleben zu sollen. Die ganze Frage war so umstritten, dass Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, Bundeskanzler Helmut Kohl und Walter Momper mehrfach persönlich eingeschaltet wurden und miteinander redeten, ehe zwei Wochen vor der Wiedervereinigung endlich klar war, wie und wo es laufen würde: Vor dem Reichstag, und zwar exakt entsprechend unseres Vorschlages.

Hinter dem Streit stand nicht nur die bekannte Animosität zwischen Walter Momper und Helmut Kohl, sondern auch die erbitterte Hauptstadtdebatte. In den Verhandlungen um den Einigungsvertrag war die Frage letztlich offen geblieben. Vor allem das Land Nordrhein-Westfalen und die Bonner Beamten versuchten Berlin mit allen Tricks auszuhebeln. Wir versuchten dagegen, die deutsche Bevölkerung zu mobilisieren, die mehrheitlich Berlin als Hauptstadt wollte. Prominente wie Thomas Gottschalk oder der Tagesthemen-Moderator Hajo Friedrichs traten in unseren bundesweiten Anzeigen für Berlin auf. Wir hatten sogar eine Anzeige mit einem Pro-Berlin-Zitat von Franz-Josef Strauss entworfen, die überall gedruckt wurde – nur der Bayernkurier der CSU weigerte sich, die Anzeige anzunehmen.

Bei unserem Vorschlag, die Flaggen-Zeremonie am Reichstag durchzuführen, hatten wir nicht nur hehre Sicherheitsziele im Blick. Wir wollten an diesem historischen Tag zugleich den künftigen Sitz des gesamtdeutschen Bundestages in den Mittelpunkt rücken. Die Bonner wollten eben dieses Symbol um jeden Preis vermeiden. Jedenfalls die Beamten. Innenminister Wolfgang Schäuble selbst war ja sogar ein Berlin-Befürworter. Schließlich haben wir uns durchgesetzt, auch weil es praktisch gar nicht anders ging. Und immerhin haben wir am 3. Oktober, 0.00 Uhr, dann doch alle gemeinsam vor dem Reichstag „Blüh’ im Glanze dieses Glückes“ gesungen und auf die Flagge geschaut. Berliner und Bonner. Übrigens auch Momper und Kohl.

WERNER KOLHOFF   Jahrgang 1956, hat in Berlin und Amsterdam Publizistik, Soziologie und Niederlandistik studiert. Nach einem Volontariat und zweijähriger Redakteurstätigkeit beim Berliner Tagesspiegel war er seit 1983 Pressesprecher der Berliner SPD und von 1989 bis 2001 Sprecher des Berliner Senats. Es folgten zwölf Jahre als Lokalchef und dann Leiter des Bundesbüros bei der Berliner Zeitung. Von 2002 bis Ende 2005 war Werner Kolhoff Leiter der Gruppe Koordination im Bundespresseamt. Seit 2006 leitet er ein Korrespondentenbüro, dass für 19 Regionalzeitungen über die Bundespolitik berichtet.

nach oben