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Nachruf auf Helmut Kentler

Mitteilungen10/2008Seite 26

2. 7. 1928 – 9. 7. 2008 Aus: Mitteilungen Nr. 202 S. 26/27

Ein Leuchtturm unseres Beirats ist erloschen. Wie kein zweiter verkörperte Helmut Kentler die humanistische Aufgabe einer aufklärerischen Sexualerziehung, und zudem war er ein Vorbild für öffentliche Wissenschaft. Sozialpädagogik, Jugendarbeit und Sexualwissenschaft waren sein Lebensinhalt, der sich in überaus vielen Büchern, Vorträgen, Projekten, Gutachten und Betreuungen niedergeschlagen hat. Sein Habitus kombinierte in seltener Weise die Eigenschaften Kompetenz, Authentizität und Nahbarkeit, womit Kentler seine Leser wie Hörer beeindruckte und Hilfestellung gab. Da er sogleich Sympathien weckte, haben viele sich ihm anvertraut. So erzielte Kentler Wirkungen bei Einzelnen und im Gesamten. Diese Biographie ist ein Exempel für einen strahlenden Berufserfolg, der gerade nicht auf Karrierestreben, Selbstabgrenzung und Rivalität aufgebaut ist. Niemals verbeugte er sich vor der politischen Korrektheit.

Sein beruflicher Werdegang führte Kentler vom Südwesten (Freiburg, Bad Boll) über Berlin (Pädagogisches Zentrum) nach Hannover. Die Wissenschaftskarriere lief zögerlich an: Nach langjähriger Tätigkeit als Diplompsychologe (1960) in der Jugendarbeit folgte eine späte Promotion (1975) mit sogleich anschließender Vollprofessur in Sozialpädagogik (1976, bis zur Emeritierung an der Universität Hannover).

Christliche Glaubensbindung wird in seinem ersten Buch noch explizit verkündet (der Abiturient hatte noch Pfarrer werden wollen). Zugleich wird ein bis heute gültiges Prinzip für die Jugendarbeit aufgestellt: „eine Erziehung aus Verantwortung, die auf Vertrauen baut und sich in einem dialogischen Verhältnis vollzieht“ (1959: 48). Kentler bearbeitet zeitgemäß die Herausforderung durch die „Industriewelt“; gleichwohl wirkt sein Buch auch heute keineswegs veraltet. Er blieb der praktischen Jugendarbeit verbunden, mit Forschungen und Publikationen. Die mehrbändige „Jugend im Urlaub“ (1969) nennt viele Namen von Mitarbeiter/innen, die wenig später ebenfalls Professuren und Prominenz erlangten.
Im Jahre 1968 war Kentler bereits vierzig, und jetzt erst begann seine größte Zeit. In rascher Folge erschienen Bücher und Sammelbände zur Sexualwissenschaft, die überaus gut lesbar waren und (m.W.) keine Kritik hervorriefen – erstaunlich bei dem umkämpften Gebiet. Ohne jemals dem Zeitgeist oder gar voyeuristischen Gelüsten nachzugeben, zeitigten die Bücher einen erstaunlichen Verkaufs- und Lektüreerfolg: Für eine Revision der Sexualerziehung (fünf Auflagen zwischen 1967 und 1971); Sexualerziehung (1971, 1981 im 69. Tausend); Eltern lernen Sexualerziehung (1975, 1995 im 38. Tausend), Sexualwesen Mensch (1984, 1986 im 24. Tausend). Ungezählten Menschen vermittelte Kentler ein wissenschaftlich abgesichertes, angstfreies Bild der Geschlechtlichkeit, mit weiteren Büchern wie Texte zur Sozio-Sexualität (1973) und Taschenlexikon Sexualität (1982). Das brennende Interesse gerade junger Leute damals kontrastiert stark mit der heutigen Situation eines gelangweilten Konsums und eines scheinbar hohen Kenntnisstandes.

Wenig bekannt ist über Kentlers private Lebensweise. Aus seinen alljährlichen Sylvesterrundbriefen („Liebe Freunde und gute Bekannte“) sprach selbst dann noch Zufriedenheit, als die gesundheitlichen Probleme zunahmen. Der unverheiratete alleinerziehende Vater mit drei Adoptivsöhnen führte eine bemerkenswerte Sonderexistenz, über die man gerne einmal etwas mehr läse. Auch diese seine persönliche Erfahrung brachte Kentler in eine Veröffentlichung ein: sein Plädoyer für Leihväter (1989). Der Weg zwischen persönlicher Erfahrung und beruflichem Engagement war bei Kentler stets kurz, wie aus seinen Jahresberichten deutlich wird. So genoss er es geradezu, mit den Eltern geistig behinderter Kinder zusammenzusein – auf Seminaren im Studienzentrum Josefstal. Im Ruhestand organisierte er ein kleines Wohnheim für schwer geschädigte Kinder („wahrscheinlich das Sinnvollste, was ich mache“, 2001), erteilte in der Nachbarschaft Nachhilfestunden und war in vielen Zusammenhängen praktisch tätig – offenbar als konstitutiver Teil für ein erfülltes Dasein. „Wieviel Schönes habe ich erlebt, vor allem mit Menschen! Immer hatte ich eine interessante berufliche Arbeit, und dabei habe ich alle selbstgesetzten Ziele erreicht (auch darum, weil ich immer Menschen fand, die sich für mich eingesetzt haben). Ich habe großes Glück gehabt. Nie war ich arbeitslos“ (2001).

In der Moral- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland – und nicht nur der alten BRD – besetzt Helmut Kentler einen sichtbaren Platz: mit seinem Eintreten für eine fundierte Sexualerziehung, die nicht vom Religionsunterricht oder durch die Zeitschrift Bravo erteilt wird. Mündigkeit und Emanzipation, in Absetzung von tradierten und fraglosen Autoritäten, galten als hohes Ideal in der jungen Demokratie. Kentler gebot hier damals über die Alleinstellung auf seinem Gebiet; die sexologischen Kollegen verblieben in der Deckung einer empirischen Grundlagenforschung.
In der Humanistischen Union, anfangs antiklerikal positioniert, konnte auch ein Christ mitarbeiten, denn ihr vornehmlichstes Ziel war Aufklärung. Der Gründungsaufruf nannte als Aufgabe, „für eine freie und weltoffene Erziehung, Bildung und Forschung einzutreten“. Und auf der ersten HU-Sitzung wandte sich Gerhard Szczesny gegen die Verbote der Abtreibung und Homosexualität. Die ‚emanzipatorischen‘ Kräfte sammelten sich damals in der Humanistischen Union, und nirgends anders hätten sie sich organisieren können.

In späteren Jahren musste Kentler harsche Kritik hinnehmen. Er hatte sich gegen die neu formulierte Sexualmoral gestellt – oder auch bloß auf seiner ursprünglichen Position beharrt. Neuerdings werden hier bekanntlich nicht mehr Liberalisierung und Individualisierung verkündet, sondern Kommunitarismus, Opferleiden und Prävention in den Vordergrund gestellt. In der „Emma“ als Schreibtischtäter tituliert zu werden war gewiss kein Pappenstiel; Kentler hat diese unberechtigte Schmähung wie andere Anwürfe mit äußerer Gelassenheit ertragen. Nicht erschienen ist sein Anfang 1999 angekündigtes Buch „Eltern unter Verdacht – Vom Missbrauch des sexuellen Missbrauchs“, „in dem ich die ungefähr 35 Prozessverfahren gegen Unschuldige, die ich als Gutachter begleitet habe, auswerten möchte, damit einmal deutlich wird, wie viel Leid hier Eltern, noch mehr aber ihren Kindern angetan wird“ (Kentler in „Zwischen den Jahren 1998 / 1999“, S. 1).

Was mag eine „aufklärerische Sexualerziehung“ als Ziel verfolgen? Es ging um Tatsachen, vermeintliche Gefahren und falsche Autoritäten – wie sie um 1970 gesehen wurden. Eine Sittlichkeitsgeneration später kämpft die Sexualpädagogik immer noch um ihren Platz im Curriculum der allgemeinbildenden Schulen und des Lehrerstudiums; und „Aufklärung“ steht nicht mehr hoch im Kurs. Jedoch hat Kentler es erlebt, dass seine ursprünglichen Ziele voll verwirklicht wurden:

  • das Sexualreglement betont die individuellen Bedürfnisse (statt vorgegebener Grenzen religiös-moralischer Provenienz);
  • Erwachsene dürfen miteinander tun, worüber sie sich einigen;
  • der Beginn geschlechtlicher Aktivität von Jugendlichen wurde weit vorverlegt (in Lebensjahren: von 20 auf 15).

All dies galt hinfort als unschädlich und nützlich. Der zugrunde liegende Wert hieß: Freiheit. Heutzutage wird hingegen der Wert Sicherheit betont. Man warnt und beschützt die Jugendlichen vor Infektionen, vor Missbrauch, vor Prostitution usw. Diese Neupositionierung der Sexualethik ist von Kentler nicht mehr kommentiert worden – denn auch ein Menschenleben hat seine Zeit.

Rüdiger Lautmann
ist Professor für Allgemeine Soziologie und Rechtssoziologie in Bremen und Mitglied des Beirates der Humanistischen Union

 

Kommentar des HU-Bundesvorstands zum Nachruf auf H. Kentler

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