Religionsunterricht ist kein Ersatz für Ethik
Der Staat hat die Aufgabe, Schülern Dialogfähigkeit beizubringen, und zwar gemeinsam mit Grundkenntnissen über die Verfassung. Nur der Ethikunterricht kann das leisten. Aus Mitteilungen Nr. 202 S. 14/15
Am 22. September hat die Initiative „Pro Reli“ mit der Unterschriftensammlung für ihr Volksbegehren zur Einführung eines regulären Religionsunterrichts in der Hauptstadt begonnen. Die Initiative will den Religionsunterricht an Berliner Schulen künftig zum versetzungsrelevanten Wahlpflichtfach aufgewertet wissen.
Bislang können katholische und protestantische Schüler einen je eigenen Religionsunterricht nur als zusätzliches Schulfach belegen. Das bisherige Pflichtfach Ethik dagegen soll, ginge es nach Pro Reli, zur Alternative degradiert werden für all jene, die nicht an einem konfessionellen Religionsunterricht teilnehmen wollen.
Hinter dieser Debatte steht die Frage, welches Verhältnis Staat und Schule zur Religion haben sollen. Keine Frage – Religion ist vielen Menschen in Deutschland weiterhin wichtig. Auch können religiöse Institutionen ein Korrektiv zu staatlicher Macht und ungebremster Ökonomisierung der Lebensverhältnisse bilden, wie Robin Mishra kürzlich in der tageszeitung anmerkte (taz vom 12. 9. 08). Deshalb sollte der Staat die religiös-weltanschaulichen Interessen seiner BürgerInnen ernst nehmen und die Religionsgruppen – und andere Weltanschauungsgemeinschaften – fördern, soweit es die deutsche Verfassung erlaubt.
Die Bundesrepublik tut das, und auch das Land Berlin bildet hier keine Ausnahme: Es stellt den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften die Klassenräume für ihren bekenntnisgebundenen Unterricht zur Verfügung und kommt für 90 Prozent der entstehenden Personalkosten auf. In Berlin machen davon gegenwärtig neben den Katholiken und Protestanten, Muslime, Buddhisten und Humanisten Gebrauch.
Daran hat sich nichts geändert, seit im Jahr 2006 das neue Pflichtfach Ethik eingeführt wurde. Wenn seitdem weniger SchülerInnen den freiwilligen Religionsunterricht besuchen als zuvor, mag man das bedauerlich finden. Doch der Rückgang ist gemessen am Rückgang der Gesamtschülerzahl gering. Angesichts eines ohnehin sehr vollen Stundenplans ist der Verzicht auf weitere Schulstunden verständlich und stellt keine Diskriminierung dar. Der Staat ist nicht gehalten, auf die Vermittlung eigener Erziehungsziele zu verzichten, nur um den Kirchen optimale Unterrichtsbedingungen einzuräumen.
Bislang hat neben Berlin nur Brandenburg einen staatlichen Ethikunterricht für alle SchülerInnen eingeführt. In fast allen anderen Bundesländern kann und muss der Ethikunterricht nur von solchen SchülerInnen besucht werden, die sich zuvor eigens vom Religionsunterricht abgemeldet haben. Das aber ist bedauerlich. Die zunehmend pluralistische Zusammensetzung unserer Republik verlangt de facto einen verbindlichen Ethikunterricht für alle – gerade auch in den stark von Einwanderung geprägten Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg.
Die staatlichen Schulen haben die Aufgabe, die Fähigkeiten zu vermitteln, die für das Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft erforderlich sind. SchülerInnen müssen lernen, mit unterschiedlichen kulturellen und religiösen Prägungen umzugehen, Konflikte friedlich zu lösen und dem Anderen gegenüber tolerant zu sein.
Ein staatlicher Ethikunterricht, in dem sowohl die kommunikativen Fähigkeiten für den interkulturellen Dialog als auch das grundlegende Wissen über unsere Verfassungs- und Menschenrechte vermittelt werden, ist dafür ein gutes Mittel. Natürlich stehen den Schulen auch andere Wege offen: In bereits existierenden Fächern wie Deutsch, Geschichte oder Philosophie kann gleichfalls Toleranz gelehrt werden. Für einen Ethikunterricht spricht aber, dass es mit ihm an der Schule einen Ort gibt, an dem die Konflikte des interkulturellen Zusammenlebens explizit thematisiert werden können. Vergessen wir nicht: Es war der Mord an einer jungen Deutschtürkin im Februar 2005, der von einigen SchülerInnen der Stadt öffentlich gebilligt worden war, der das Berliner Abgeordnetenhaus dazu bewegte, einen Ethikunterricht einzuführen.
Religionsunterricht kann einen solchen Ethikunterricht nicht ersetzen. Denn universelle Menschenrechte beanspruchen ja gerade unabhängig vom jeweiligen Bekenntnis Geltung. Und die Fähigkeit, allen Religionen und Weltanschauungen gleichermaßen mit Respekt zu begegnen, setzt ein zumindest grundsätzliches Wissen über diese Religionen und Weltanschauungen voraus. Auch ein Konfessionsloser sollte sich deshalb mit dem Christentum befassen und eine Muslimin mit dem Judentum. LehrerInnen im bekenntnisgebundenen Religionsunterricht aber sind nicht verpflichtet, jede Religion gleichermaßen darzustellen. Ihnen steht es frei, nur eine bestimmte Religion zu vermitteln und zu propagieren. Mag sein, dass einzelne ReligionslehrerInnen das ganze religiös-weltanschauliche Spektrum ausgewogen behandeln. Doch eine Garantie dafür gibt es nicht. Dass in einem muslimischen Religionsunterricht das Judentum und die christliche Lehre wie der Islam behandelt werden, ist kaum zu erwarten. Ebenso wenig ist damit zu rechnen, dass in einem katholischen Religionsunterricht die Gleichstellung der Geschlechter en détail im Sinne des Grundgesetzes dargestellt wird.
Wenn der konfessionelle Religionsunterricht ein ordentliches Lehrfach würde, stünde es allen Religionsgemeinschaften offen, einen solchen anzubieten. Für Berlin hieße das, dass in manchen Bezirken die Mehrzahl der SchülerInnen statt des Ethik- einen Islamunterricht besuchen würde, sollte sich Pro Reli durchsetzen. Vom Christentum würden sie dann vermutlich gar nichts mehr erfahren.
Der Staat aber ist gar nicht befugt, es allein den Religionsgemeinschaften zu überlassen, soziale Kompetenz und ethische Urteilsfähigkeit zu vermitteln. Dem steht die im Grundgesetz verankerte Trennung von Staat und Kirche entgegen. Nein, der Staat muss die Kompetenzen, die er für das demokratische Miteinander als notwendig erachtet, selbst an öffentlichen Schulen vermitteln. Werden SchülerInnen per Wahlpflichtfach vor die Entscheidung gestellt, entweder den Religions- oder den Ethikunterricht zu besuchen, dann ist das genauso falsch, als würde man „Politik“ an der Schule entweder durch staatliche Lehrkräfte oder durch politische Parteien unterrichten lassen.
Verfassungsrechtlich ist zudem umstritten, ob in Ländern wie Berlin und Brandenburg „Religion“ überhaupt als ordentliches Lehrfach eingerichtet werden darf. Diese Bundesländer sind – ebenso wie Bremen – von dem Verfassungssatz ausgenommen, nach dem Religionsunterricht an öffentlichen Schulen ein ordentliches Lehrfach sein muss. Auch in den übrigen Bundesländern steht das konfessionelle Fach Religion als Teil des staatlichen Unterrichts zumindest im Spannungsverhältnis zur grundgesetzlichen Trennung zwischen Staat und Religionsgemeinschaften. Andere Bundesländer sollten sich deshalb an Berlin ein Beispiel nehmen und nicht – wie Pro Reli das vorschwebt – umgekehrt.
Kirsten Wiese
ist Anwältin und aktiv im Vorstand der
Humanistischen Union Berlin-Brandenburg.
Der Beitrag erschien in einer leicht geänderten Fassung in der taz vom 22.9.2008. Wir danken für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck.