Pressemeldungen / Armut

Offener Brief an den Deutschen Gewerk­schafts­bund

27. Januar 2023

Sehr geehrte Frau Fahimi, liebe Kollegin Yasmin!

Diesen Offenen Brief richte ich in meiner Funktion als stellvertretender Bundesvorsitzender der Humanistischen Union an Dich.

Du gabst kürzlich der Deutschen Presseagentur ein Interview, das der Spiegel im Dezember 2023 publik machte. Du argumentiertest, es sei gegenwärtig nicht an der Zeit, „kapitalismuskritische Grundsatzdebatten“ zu führen und begründetest Deine Forderung mit der Warnung, „dass in Deutschland das Risiko der Deindustrialisierung größer wird“, wenn Unternehmen „die Wertschöpfungskette Deutschland verlassen“.

Aus diesem Grund problematisierst Du, dass in Unternehmen nach den beschlossenen Energiepreisbremsen bei Zuwendungen über 50 Millionen Euro keine Boni und Dividenden mehr gezahlt werden dürfen.

Aus bürgerrechtlicher Sicht halte ich Deine Einschätzung für brandgefährlich. Würde sie ebenso auf das Streikrecht und Tarifauseinandersetzungen angewendet werden, ist die Arbeitsseite gelähmt, wenn die Kapitalseite mit der Verlagerung der Produktion ins Ausland droht. Die sozialen Bürgerrechte wären in diesem Fall nicht mehr durchsetzbar.

Deshalb sind gegenwärtig die kapitalismuskritische Analyse und Aktion unabdingbar. Wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland haben wir es mit dergestalt massiven sozialen Verwerfungen zu tun: Dem Niedergang des öffentlichen Gesundheitswesens, maroden Schulen, fehlendem Lehrpersonal und einer Lohnentwicklung, die angesichts der Inflationsrate das Reallohnniveau stetig sinken und die Armut in Deutschland wachsen lässt.

In einer solchen Situation von gewerkschaftlicher Seite die Forderung zu vernehmen, Dividenden und Boni auch dann auszuzahlen, wenn den Unternehmen öffentliche Zuwendungen gezahlt wurden, bedeutet, öffentliche Gelder zur Stützung von Unternehmen unmittelbar in die Unternehmensgewinne fließen zu lassen.

Meine Sorge geht auch dahin, dass die arbeitenden Menschen sich von den Gewerkschaften – ihren demokratischen Interessenvertretungen – abwenden, weil sie eine solche Argumentation als unsolidarisch und somit ihren Interessen entgegengesetzt erkennen.

Nach wie vor aber sind die DGB-Gewerkschaften Garant für die Realisierung sozialer Rechte. Dieses Bürgerrecht darf nicht durch die Preisgabe politischer Analysen, Diskussionen und Forderungen gefährdet werden.

Dr. Wolfram Grams

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