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Verbandstag der Humanis­ti­schen Union in Lübeck

Mitteilungen20312/2008Seite 10-12

Aus: Mitteilungen Nr. 203, S. 10-12

Verbandstag der Humanistischen Union in LübeckWie lassen sich Polizeiübergriffe verhindern und eine unabhängige Kontrolle des Polizeiapparates am besten erreichen?

Wie lassen sich Polizeiübergriffe verhindern und eine unabhängige Kontrolle des Polizeiapparates am besten erreichen?

Viele bekannte Gesichter, erfreulicherweise aber auch neue Mitglieder fanden sich vom 14. bis 16. November zum diesjährigen Verbandstag in Lübeck ein. Auf dem Programm standen zahlreiche politische Themen wie die Zukunft des Datenschutzes (in der Verfassung), eine unabhängige Kontrolle der Polizei und die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen. Daneben gab es verbandsinterne Berichte, Diskussionen und Arbeitsgruppen. Den feierlichen Höhepunkt des Wochenendes bildete die Verleihung des Fritz-Bauer-Preises an Klaus Waterstradt (s. Bericht auf Seite 16).

Berichte und Ausblick zur Arbeit der HU
Rosemarie Will eröffnete den Verbandstag am Samstag mit einem Bericht über die Arbeit des Bundesvorstandes. Die HU war mit zwei großen Tagungen (Online-Durchsuchung, Sicherheitsstaat) und zahlreichen Musterklagen recht erfolgreich. Neben den Aktivitäten der letzten 12 Monate wies die Bundesvorsitzende auf die Vorhaben für das nächste Jahr hin: Geplant sind die IV. Berliner Gespräche zum Verhältnis von Staat, Religion und Weltanschauung, darüber hinaus Tagungen zur „Privatisierung der Gesetzgebung“ (Einfluss von Lobbygruppen), zu den sozialen Grundrechten und der Beschneidung des Rechtsschutzes für Hartz IV-Empfänger/ innen sowie der aktuellen Situation im Strafvollzug – ein volles Programm. Die Geschäftsführung ergänzte diesen Arbeitsbericht mit einem kurzen Überblick zu den Finanzen und der Mitgliederentwicklung des Verbandes (s. Bericht ab Seite 13). In der Diskussion wünschten sich einige Mitglieder ein stärkeres öffentliches Engagement des Bundesvorstandes zu bestimmten Themen (etwa der Selbstbestimmung am Lebensende) – allein die Zeit aller ehrenamtlichen Vorstandsmitglieder setzt hier Grenzen.

Arbeitsgruppen
Gelegenheit, sich selbst in die Verbandsarbeit einzubringen, boten die zahlreichen Arbeitsgruppen am Samstag Nachmittag. Eine speziell an Neumitglieder gerichtete Gruppe fand regen Zulauf – auch von „alten Hasen“. Im Mittelpunkt der Diskussion standen verschiedene Vorschläge, wie sich jüngere, nicht juristisch ausgebildete Mitglieder besser in die Verbandsarbeit einbringen können. Im neuen Jahr soll dazu ein Wiki (eine Online-Plattform) an den Start gehen, über die der Austausch zu aktuellen Projekten einfacher wird. Das Wiki kann künftig als Plattform für die verbandsinterne Diskussion (Textentwürfe, Aktionsplanungen etc.), aber auch als Sammelstelle für Mustertexte und Grafikvorlagen dienen. So wird auch den Regionalgruppen die Vorbereitung eigenständiger Aktionen erleichtert. Daneben wurde angeregt, speziell für Neumitglieder eine Newsgruppe einzurichten, um den persönlichen Austausch zwischen Mitgliedern anzuregen, die keine funktionierende Regionalgruppe in ihrer Nachbarschaft haben.

Den Arbeitskreis Staat/Kirche beschäftigte vor allem die Vorbereitung der nächsten Berliner Gespräche. Sie sollen unter dem Arbeitstitel „Die finanziellen Privilegien der Kirchen und das Grundgesetz“ dazu genutzt werden, auf die überfällige Ablösung der Staatskirchenleistungen hinzuweisen und die oft übersehenen Unterschiede zwischen verfassungsrechtlich garantierten und „freiwilligen“ Transferleistungen des Staates herauszuarbeiten. Im Arbeitskreis gab es konkrete Vorschläge zum Aufbau der Tagung, die der Bundesvorstand in der weiteren Vorbereitung aufgreifen wird. Daneben sprach sich die Runde für eine Tagung zur „Religiösen und weltanschaulichen Meinungsfreiheit“ aus, die gemeinsam mit dem Dachverband freier Weltanschauungsgemeinschaften und dem Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten für 2010 angedacht ist. Der Arbeitskreis schlug vor, dass neben einer Bestandsaufnahme der deutschen Situation (Verfahren zu „Gotteslästerung“ nach § 166 StGB) auch der internationale Diskurs um eine Umdeutung der Religionsfreiheit als Beschränkung der Religionskritik (etwa im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen) aufgegriffen werde. 

Weitere Gruppen diskutierten den Gesetzentwurf zur Selbstbestimmung am Lebensende, den die HU Anfang 2009 öffentlich präsentieren will, sowie die schleichende Verabschiedung vom Resozialisierungsanspruch des Strafvollzuges.

Polizeikontrolle
„Handfester“ wurde es am späten Nachmittag in einer Diskussionsrunde zur Notwendigkeit einer unabhängigen Polizeikontrolle: Die Lübecker Ortsgruppe hatte in diesem Frühjahr eine Demonstrationsbeobachtung organisiert, nachdem ein Nazi-Aufmarsch inklusive einer Gegendemonstration angekündigt waren. Helga Lenz berichtete von den Erfahrungen dieser Demonstrationsbeobachtung (s. Mitteilungen 201, S. 29): Wie so oft, stellten die Beobachter/innen zahlreiche Polizeiübergriffe fest, die sich später jedoch nicht einzelnen Verantwortlichen zuordnen ließen. Martin Herrnkind bestätigte diese Erfahrungen einer „Mauer des Schweigens“, der Opfer von Polizeiübergriffen immer wieder gegenüber stehen. Es kann daher nicht verwundern, dass einer Vielzahl von Berichten über Gewaltanwendungen durch und Strafanzeigen gegen Polizisten eine verschwindend geringe Anzahl von Verurteilungen gegenüber stehen. Wie solche Verfahren in der Regel ausgehen, ließ sich jüngst an der Entscheidung des Landgerichtes Dessau im Falle Oury Jallohs beobachten.

Martin Herrnkind wies jedoch darauf hin, dass diese Mauer nicht nur für die Opfer der Übergriffe, sondern auch für beteiligte Polizisten problematisch sei. Jeder Polizist, der unverhältnismäßige Übergriffe eines Kollegen beobachte und diese nicht sofort zur Anzeige bringe, mache sich der Strafvereitelung im Amt schuldig. Angesichts des in vielen Polizeieinheiten anzutreffenden Corpsgeistes laufen Polizisten, die belastende Aussagen über ihre Kollegen machen, Gefahr drangsaliert und ausgegrenzt zu werden. Eine Vertrauensstelle, an die sich aussagewillige Polizisten wenden können, sei deshalb dringend nötig.

Vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen hat der Bundesvorstand unter der Leitung von Hartmuth H. Wrocklage einen Gesetzentwurf für einen unabhängigen Polizeibeauftragten erarbeitet, der sich am Vorbild des Wehrbeauftragten orientiert. Der Vorschlag zielt auf einen vom Parlament gewählten Beauftragten, der mit einem angemessenen Arbeitsstab und eigenständigen Ermittlungsbefugnissen ausgestattet sein soll. Dieser Beauftragte soll sowohl für betroffene Bürger/innen als auch für Polizeibedienstete ansprechbar sein. Der Gesetzentwurf wird nach seiner Fertigstellung Anfang nächsten Jahres präsentiert. Gemeinsam mit anderen Organisationen wie Amnesty International und der Internationalen Liga für Menschenrechte wird sich die Humanistische Union dafür einsetzen, dass das Ignorieren und Leugnen derartiger Probleme im Polizeialltag endlich ein Ende findet.

Breite Zustimmung zur Fusion mit der Gustav Heinemann-Initiative
Nach der Preisverleihung ging es am Sonntagmorgen mit verbandsinternen Themen weiter: Till Müller-Heidelberg und Rosemarie Will berichteten von den bisherigen Gesprächen zwischen HU und GHI über eine mögliche Fusion. Die inhaltlichen Voraussetzungen und organisatorischen Abläufe hatten die Vorstände der beiden Vereine auf einer Sitzung im Oktober besprochen. Demnach gibt es viele gemeinsame Anliegen (z.B. den Schutz der Bürgerrechte im Anti-Terror-Kampf), zahlreiche sich gegenseitig ergänzende Spezialisierungen, zum Verhältnis von Staat und Kirche aber auch divergierende Ansichten.

Von Seiten der HU wurde bei dem Treffen auf die in der Satzung verankerten Ziele hingewiesen: Die Humanistische Union verstehe sich als religiös/weltanschaulich neutrale Organisation, die sich für eine freie Entfaltung von Religionen und Weltanschauungen, die Achtung der Glaubensfreiheit und die strikte Neutralität des Staates einsetzt. Entgegen ihrer gelegentlichen Wahrnehmung als atheistischer Kampfbund (1) war die Humanistische Union immer stolz darauf, kritische Christen, Muslime und andere Gläubige in ihren Reihen zu wissen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an Gerd Hirschauer, der jahrelang sowohl in den linkskatholischen „werkheften“ gegen den Klerikalismus und die sich christlich nennenden Parteien publizierte – und zugleich Redakteur der vorgänge war. Dass sie diese Offenheit auch heute noch besitzt, kann die Humanistische Union beweisen, wenn es ihre gelingt, die zum Teil protestantisch geprägten Mitglieder der GHI erfolgreich in ihr Vereinsleben zu integrieren. Sicher gibt es unter ihnen einige, die das Berliner Volksbegehren „Pro Reli“ unterstützen – aber auch andere, die den Aufruf „Christen pro Ethik“ (s. Seite 18) unterzeichnet haben. Mit solchen Positionen der GHI-Mitglieder kann man sich auf der Basis unserer Satzung und mit angemessener vereinsinterner Toleranz auseinander setzen. Die grundsätzlichen Ziele einer Trennung von Staat und Kirche standen bei den Gesprächen mit der GHI jedenfalls nicht zur Disposition. Und die zahlreichen gemeinsamen Anliegen sollten dabei auch nicht aus dem Blick geraten.

Aus Sicht der HU verspricht eine Fusion mit der GHI wertvolle Expertise für einige in der letzten Zeit vernachlässigte Themen, etwa die sozialen Grundrechte, die Chancenverteilung im Bildungsbereich und die Militarisierung der Außenpolitik. Das Zusammengehen der beiden Verbände stieß deshalb in Lübeck auf einhellige Zustimmung.

… aber Probleme mit dem Namen
Der vorgestellte Vertragsentwurf, den beide Vorstände ausgehandelt haben, sieht eine Verschmelzung der beiden Vereine nach dem sog. Umwandlungsgesetz vor. Die GHI würde damit – formal gesehen – in der Humanistischen Union aufgehen. Die Entscheidung der GHI-Mitglieder über diesen Vertrag wird stark davon abhängig sein, wie sie sich und ihr Engagement in der HU aufgehoben sehen. Dabei spielt der Name der Organisation eine entscheidende Rolle. Angesichts der seit Jahren innerhalb der HU immer wieder diskutierten Namensänderung hat sich der Bundesvorstand für eine Entscheidung per Urabstimmung ausgesprochen. So soll alten wie neuen Mitgliedern die Gelegenheit gegeben werden, gemeinsam über den Namen zu entscheiden. Der – nach dem Verbandstag leicht überarbeitete – Vertragsentwurf schlägt deshalb vor, dass unmittelbar nach der Verschmelzung von HU und GHI eine Urabstimmung über den neuen Namen stattfindet. Für die Übergangsphase – bis zur Entscheidung über den endgültigen Namen – würde die Humanistische Union den Zusatz „Vereinigt mit der Gustav Heinemann-Initiative“ tragen.

Allerdings: Es fehlt bisher ein überzeugender Vorschlag, mit welchem neuen Namen die vereinigte Bürgerrechtsorganisation an den Start gehen soll. Das Meinungsbild zur „Namensfrage“ war beim Verbandstag entsprechend diffus: Einerseits wurde die Fusion als Gelegenheit begriffen, sich der immer wieder kehrenden Verwechslungsprobleme und Missdeutungen zu entledigen, einen auch im internationalen Austausch eindeutigen Namen zu finden. Andere Mitglieder wiesen auf den möglichen Traditions- und Identitätsverlust hin und warnten vor dem mit einer Namensänderung verbundenen Aufwand. Der Bundesvorstand hat sich deshalb nach dem Verbandstag entschlossen, den Prozess der Namensfindung zu beschleunigen und bittet alle Mitglieder, ihre Vorschläge bis zum 28. Februar 2009 an die Bundesgeschäftsstelle zu schicken (s. Aufruf Seite 13). Der beste Vorschlag soll dann, nach Abstimmung mit der GHI, zur Diskussion gestellt werden.

Für die weitere Vorbereitung der Fusion wurde vereinbart, dass ab dem kommenden Jahr Vorstandsmitglieder der GHI beratend an den Sitzungen des HU-Vorstandes teilnehmen. Der weitere Zeitplan sieht vor, dass die GHI im Mai 2009 auf ihrer Mitgliederversammlung über die Fusion entscheidet, die Humanistische Union wird dies auf ihrer Delegiertenkonferenz im Juni tun (s. Ankündigung auf Seite 15). Sollten beide Gremien dem Vertrag mit einer 3/4-Mehrheit zustimmen, könnte die Verschmelzung zum 30. Juni 2009 vollzogen werden.

Aufklärung tut Not – die Gesetzgebung zur Patientenverfügung in der Diskussion
Den Abschluss des Verbandstages bildete eine Matinee über „Mehr oder weniger Selbstbestimmung am Lebensende“. Dazu waren Bundestagsabgeordnete aller Parteien und Vertreter aller drei Gesetzentwürfe eingeladen. Unter der Moderation von Dominik Wietfeld sollten sie ihre Entscheidung für / gegen die verschiedenen Vorschläge zur Regelung von Patientenverfügungen begründen und sich den kritischen Fragen der Zuhörer stellen. Leider fand sich nur eine Abgeordnete, Frau Hiller-Ohm (Lübeck, SPD), die sich der Diskussion stellte. Sie hatte denn auch keinen leichten Stand, nachdem offenbar wurde, dass sie – in der Sache noch unentschieden – momentan den sog. Bosbach-Entwurf favorisiere. In der recht lebhaft geführten Runde wurden zahlreiche Missverständnisse darüber deutlich, inwiefern dieser Entwurf die bisherige Rechtspraxis ändert und Patientenverfügungen entwertet. Wer lässt sich heute schon seine Verfügung von einem Notar beurkunden? Auch die Beschränkung von Patientenverfügungen auf das Stadium irreversibler Krankheitsverläufe taucht zwar in der Rechtssprechung des Bundesgerichtshofes auf, ist jedoch keineswegs rechtliche Standardpraxis im Umgang mit Patientenverfügungen. Insofern zeigte die Abschlussveranstaltung vor allem eines: Jenseits der Bioethik-Experten unter den Bundestagsabgeordneten bleibt für die HU viel zu tun, um etwas Licht in das Dickicht der verschiedenen Vorschläge zu bringen. Eine Aufklärungskampagne über die Folgen des Bosbach-Entwurfs ist deshalb dringend nötig.

[1] Eine Stellungnahme zum religiös-weltanschaulichen Neutralitätsanspruch der Humanistischen Union hat deren Bundesvorstand bereits 1965 veröffentlicht: „Der Humanismus der Humanistischen Union, der christliche Glaube und die christlichen Kirchen. Erklärung zu den Vorwürfen von Vertretern der katholischen Kirche, die Humanistische Union führe einen ‚Kampf gegen die Kirche'“ In: vorgänge Heft 7/1965, S. 293

Die im Text angesprochenen Dokumente – Arbeitsberichte, Gesetzentwürfe, Verschmelzungsvertrag und Arbeitsgruppentexte – können Mitglieder der HU im internen Bereich der Webseite oder in der Bundesgeschäftsstelle abrufen.

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