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Denis Diderot – Weiß man je, wohin man geht?

Mitteilungen21112/2010Seite 18

Mitteilungen Nr. 211 (4/2010), S. 18/19

Denis Diderot – Weiß man je, wohin man geht?

Denis Diderot – Weiß man je, wohin man geht? Ein Lesebuch. Herausgegeben von Werner Raupp
Diderot Verlag, Rottenburg/N., 2. Aufl. 2009  (2008), 480 S., 60 Abb.,
Vorwort: Peter Prange, 27,90 €
ISBN: 978-3-936088-95-3

Mit dieser Anthologie über die ausnehmend „bunte Gedankenwelt“ (S. 18) des berühmten französischen Aufklärers und Enzyklopädisten, die ein Jahr nach ihrem Erscheinen bereits in zweiter Auflage vorliegt, eröffnet der Tübinger Philosophiehistoriker und FH-Dozent Werner Raupp seine populärwissenschaftliche Reihe „Humanismus – neu entdeckt“. Diese weitet den Begriff „Humanismus“ stark aus und besitzt eine politische wie ökophile Intention (vgl. Vorwort, S. 17-20).

Der mit eindrucksvollen Illustrationen (besonders Stichen) geschmückte Band schildert zunächst kompakt die bekannten Eckdaten von Diderots Leben und Werk, der als Prototyp der Moderne seiner Zeit in vielerlei Hinsicht voraus war (Einführung, S. 21-70). Dabei markiert der Herausgeber Diderots philosophischen Denkweg, der vom Theismus über den Skeptizismus und Deismus hin zu einem materialistisch-monistischen Weltbild führt: zu „einem vitalistischen resp. hylozoistischen Materialismus und Pantheismus“ (S. 56). Damit verbunden werden mehrere geistesgeschichtliche Linien sichtbar, die auch seine demokratische Gesinnung umfassen (S. 63-69).

Der Hauptteil (S. 71-434) gliedert sich in acht Kapitel und bietet auch etliche deutsche Erstübersetzungen dar. Zu den Übersetzern zählen neben dem Herausgeber und der Tübinger Romanistin Iris Raupp auch Lessing, Goethe und der Diderot-Kenner Hans Magnus Enzensberger. Der Textteil beginnt mit zum Teil amüsanten Beiträgen über Diderots durchaus abenteuerliche Vita und bringt neben Schiller u. a. Rousseaus „Bekenntnisse“ zu Gehör (Kp. 1).
Sodann folgen Texte aus der epochalen Enzyklopädie (28 Bde., 1751-1772), die von „Amerika“ über „Geschichte“ (von Voltaire verfasst) bis zu „Liebe der Geschlechter“ wie auch zur „Natürlichen Gleichheit“ und „Zölibat“ reichen. Angefügt sind Briefe, die den heftigen Streit um das von Kirche und Staat unterdrückte Monumentalwerk belegen, das bekanntlich zum „Durchbruch der aufklärerischen und antifeudalen Denkrichtung“ verhalf und so die Französische Revolution von 1789 mit vorbereitete (S. 36). Zukunftsweisend ist auch Jean le Rond d’Alemberts berühmte Einleitung („Discours préliminaire“), die nachdrücklich für die empirische Methode eintritt (Kp. 2).

Das 3. Kapitel behandelt in drei Abschnitten die Kunst: u. a. die überaus moderne Abhandlung über das „Paradox des Schauspielers“ (1773-1778), die auch noch im 20. Jahrhundert Bert Brecht beeinflusste („Theater“); die plauderhaften Salons (1759-1781), Berichte über die im Louvre stattfindenden Ausstellungen („Bildende Kunst“); Äußerungen zur weniger bekannten Musiktheorie und zum heftigen „Buffonistenstreit“ (1752-54), der auch politische Dimension besaß („Musik“).

Ausführlich ist das folgende Kapitel 4 geraten, das Ausschnitte aus den Romanen bietet: die bis ins 20. Jahrhundert als skandalös angesehene Kloster-Satire „Die Nonne“ (1760) sowie die dialogischen Stücke „Rameaus Neffe“ (1761/62) – in der Übersetzung Goethes (1805) – und „Jacques, der Fatalist“ (1773-75). Mit diesen Erzählungen hat sich der Aufklärer in die Weltliteratur eingeschrieben. Er sucht darin, zuweilen in pikaresker Weise, der Frage nach gelingender Lebensorientierung nachzuspüren. Humorvoll ist schließlich die Erzählung vom „alten Hausrock“, den Hans Magnus Enzensberger mit sprachlicher Brillanz übertrug.
Dann folgen die philosophischen Texte (Kp. 5): hervorgehoben seien die aphoristischen „Philosophischen Gedanken“ (1746), die das intolerante Christentum mit seinen „Höllenstrafen“ kritisieren, und die materialistische Poesie vom „Traum d’Alemberts“ (1769), die den Menschen als Kind der unendlichen Evolution ansieht, verankert in der „großen Kette“ des Lebens.

Kurzweilig gehalten ist auch das 6. Kapitel, das den Polygraphen als markanten Wegbereiter der Demokratie wie als scharfen Kritiker des Kolonialismus und der Sklaverei vorstellt: nicht zuletzt in den „Beobachtungen über den ‚Nakaz‘ der Zarin Katharina II.“ (1774), eine der deutschen Erstübersetzungen. Der kritische Kommentar zu Katharinas neuer Gesetzgebung gipfelt in den Worten: „Es gibt nur einen wahren Herrscher: die Nation; es gibt nur einen wahren Gesetzgeber: das Volk“ (S. 365). Harsch wusste Diderot überdies dem „Kriegstreiber“ Friedrich II., d. G. entgegenzutreten („Seiten gegen einen Tyrannen“, 1771).

Der vorletzte Teil bietet sodann 22 zum Teil überaus lebhafte Briefe Diderots: u. a. an Voltaire, Madame de Pompadour, David Hume, Carl Philipp Emanuel Bach und Katharina d. Gr. sowie freilich an die kongeniale Geliebte, Sophie Volland. Das 8. Kapitel betrachtet schließlich den Aufklärer „im Spiegel seiner Zeitgenossen und der Nachwelt“, wobei der Herausgeber eine illustre Schar von Köpfen versammelt hat: von Lessing (1751) über Goethe (1812/13) und Ludwig Börne (1831) bis zu Enzensberger (1994).

Den Schlussteil (S. 435-480) bilden neben einer allerdings etwas kurz geratenen Bibliographie ein ausführliches Quellenregister sowie eine Diderot-Chronik und ein Namen-Glossar. Angehängt ist schließlich ein kurzer Abschnitt mit provokanten „Gedankensplittern“ als „Einstimmung in die neue Buchreihe“. Insgesamt ist die Auswahl und die Aufbreitung der Texte vorzüglich gelungen – und so stellt die schön aufgemachte Anthologie sowohl ein vielversprechender Auftakt der neuen Buchreihe wie auch eine geglückte Einladung zur Lektüre des Diderotschen Œuvre dar, das im deutschsprachigen Raum immer noch viel zu wenig bekannt ist. Dort sucht die Anthologie nunmehr ihresgleichen. 

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