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Unver­letz­lich und doch schüt­zens­wert – ein Themenheft zur Menschen­würde in Politik, Wissen­schaft und Praxis

Mitteilungen21112/2010Seite 19

Mitteilungen Nr. 211 (4/2010), S. 19/20

Unverletzlich und doch schützenswert – ein Themenheft zur Menschenwürde in Politik, Wissenschaft und Praxis

„Menschenwürde“.
Zeitschrift für Menschenrechte (zfmr),
4. Jahrgang, Heft 1/2010
Wochenschau-Verlag, ISSN 1864-6492
Einzelheft: 16,80 €, Jahresabo (2 Hefte): 27,60 € / ermäßigt 13,80 €
Redaktionsanschrift: c/o Nürnberger Menschenrechtszentrum, Adlerstraße 40, 90403 Nürnberg
zfmr@menschenrechte.org
www.zeitschriftfuermenschenrechte.de

Vor drei Jahren startete der Wochenschau-Verlag ein für heutige Zeiten gewagtes Unterfangen: die Gründung einer neuen Zeitschrift, noch dazu einer zum Thema Menschenrechte. Unter der Leitung des Nürnberger Menschenrechtszentrums fand sich ein Kreis von Herausgebern aus Forschung und Lehre, Politik und Zivilgesellschaft. Mit zwei Ausgaben pro Jahr wollen sie den interdisziplinären Austausch zwischen den verschiedenen Bühnen des Menschenrechtsdiskurses vorantreiben, denn, so Heiner Bielefeldt in seinem Vorwort zur Erstnummer, es fehle oft der Austausch zwischen rechtsdogmatischen Überlegungen, institutionellen Erfahrungen, philosophischen Begründungszusammenhängen und empirischen Studien zur Durchsetzbarkeit der Menschenrechte. Wie weit dieser Austausch gediehen ist, lässt sich an der nunmehr siebten Ausgabe der „Zeitschrift für Menschenrechte“ zum Thema „Menschenwürde“ nachvollziehen.

Heike Baranzke widmet sich einleitend dem Streit um den subjektiv-/objektivrechtlichen Status der Menschenwürde und deren Verhältnis zum positiven Recht, die Matthias Herdegen mit seiner Kommentierung von Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz angestoßen hat. In ihrer historischen und rechtsvergleichend angelegten Betrachtung legt Baranzke besonderen Wert darauf, dass das Konzept einer jeglichen Abwägungen entzogenen Menschenwürde im Kontext der internationalen Rechtsentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg zu verstehen, die Unantastbarkeitsregel mitnichten „ein inkommunikabler deutscher Sonderweg“ sei.

Eine detaillierte Darstellung historischer Konzeptionen der Menschenwürde liefert Arnd Pollmann. Er macht vier Etappen des Würdebegriffs aus (Antike, Christentum, Neuzeit, Nachkriegsära), deren jeweilige Aspekte sich in den aktuellen Debatten um Würde munter vermischen. Pollmann weist darauf hin, dass erst nach dem „Gattungsbruch“ von 1945 jener begründungstheoretische Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Menschenrechten hergestellt wird, an dem sich heute Philosophen wie Juristen abarbeiten. Exemplarisch für diese Diskussion sind die Beiträge der beiden philosophischen Ethiker Marcus Düwell (Utrecht) und Ralf Stoecker (Potsdam).

Düwell formuliert zunächst aus philosophischer Perspektive die Anforderungen, die ein gehaltvolles Konzept der Menschenwürde zu erfüllen habe: es müsse den Zusammenhang zwischen Rechten und Würde, die Trägerschaft (bzw. ihre Aberkennung), den normativen Gehalt und die Bedingungen ihrer Existenz (ihren Schutz) erklären. In seiner Skizze fasst er die Menschenwürde als normativen Rahmen, mit dessen Hilfe die Abwägung verschiedener Rechtsgüter (etwa: Nahrung, Bildung, Meinungsfreiheit) erfolge. Die Menschenwürde wird damit zum Kern menschenrechtlichen Empowerments: sie beschreibt, welche Ressourcen in der jeweiligen Situation für ein selbstbestimmtes Leben nötig resp. welche Rechtsansprüche nicht verwirklicht sind.

Vor dem Hintergrund der bioethischen Debatten diskutiert Ralf Stoecker die philosophischen Vorbehalte gegenüber dem Begriff der Menschenwürde: Er werde meist polemisch bis denunziatorisch gebraucht („moralisches Totschlagargument“), oft von religiösen Minderheiten in Beschlag genommen und biete keinen systematischen Bedeutungsgewinn gegenüber Begriffen wie Autonomie/Selbstbestimmung  oder Menschenrechten. Den Zweifeln am theoretischen Mehrwert setzt Stoecker die politische Bedeutung des Begriffs in bioethischen Debatten um pflegebedürftige Menschen und Insasssen psychiatrischer Einrichtungen entgegen: Hier würden zentrale Ansprüche der Betroffenen (etwa: Schutz der Intimsphäre, achtungsvoller Umgang, Hilfe zur Selbsthilfe) stets mit Verweis auf die Menschenwürde formuliert. Er plädiert deshalb für eine Konzeption der Menschenwürde, die ihren konkreten, sozialen Charakter im Alltag der Menschen aufnimmt.

In weiteren Beiträgen des Heftes werden philosophische Probleme des Würdebegriffs diskutiert: etwa die Vereinbarkeit von Menschenwürde und politischen Ansprüchen (Martha Nussbaum) oder die Frage der Unveräußerlichkeit der eigenen Menschenwürde – die als solche auch zur moralischen Pflicht und Last werden kann (Peter Schaber). Ein Gespräch zwischen den Sinologen Philippe Brunozzi und Heiner Roetz sowie dem Vorsitzenden der Deutschen China-Gesellschaft Gregor Paul wirft einen Blick über den westlichen Tellerrand und greift die Frage des „chinesischen Sonderwegs“ bei den Menschenrechten auf. Angesichts der heftigen Auseinandersetzungen um eine kulturalistische Relativierung der Menschenrechte hätte sich der Rezensent hier eine systematische Betrachtung zur fernöstlichen Sicht auf die Menschenwürde gewünscht.

Dennoch: Die Zeitschrift für Menschenrechte präsentiert mit diesem Themenheft ein lehrreiches wie interessantes Beispiel für gelungene Interdisziplinarität. Trotz eines leichten philosophischen Übergewichts vermittelt die Ausgabe einen facettenreichen Überblick über den menschenrechtspolitischen Diskurs. Quer durch alle Beiträge zieht sich der Befund, dass die Menschenwürde ein äußerst kontingenter Begriff ist. Einen religionssoziologischen Zugang zum Verständnis dieser Kontingenz bietet schließlich ein Interview mit dem Erfurter Soziologen Hans Joas: Er sieht im neuzeitlichen Rechtssubjekt (der Person) und der ihm zugeschriebenen Würde eine moderne Form des Sakralen. Denn auch für die Menschenwürde gelte: „Das heilige Objekt darf nicht berüht werden – und wenn, dann nur von ganz bestimmten Personen und nach fest vorgeschriebenen rituellen Vorkehrungen.“ Dabei nimmt er die Menschenwürde sowohl gegen christliche Vereinnahmungsversuche in Schutz, und verweist zugleich auf die Elemente des Heiligen im universalistischen Konzept der Persönlichkeit. Also doch kein Zufall, dass die Errungenschaft der Religionsfreiheit zur historischen Geburtsstunde der Menschenrechte wurde? Zumindest macht der Blick auf die sakralen Elemente der Menschenwürde plausibel, warum der Begriff trotz seiner zentralen Bedeutung im zeitgenössischen Diskurs  der Menschenrechte so vage bleibt. Eben unverletzlich und dennoch schutzbedürftig.

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