Publikationen / vorgänge / vorgänge 10/1977

Die Stunde Null — Das Nürnberger Inter­na­ti­o­nale Militär­tri­bunal

„Dieser Prozeß ist der verzweifelte Versuch der Menschheit, die Strenge des Gesetzes auf die Staatsmänner anzuwenden, die ihre Macht im Staate benutzt haben, die Grundlage des Weltfriedens anzugreifen und die Hoheitsrechte ihrer Nachbarn durch Übergriff und Überfall zu verletzen. Um den Wert dieser Bemühung, Gerechtigkeit zu üben, abschätzen zu können, darf das Gesetz oder Ihr Urteilsspruch nicht gesondert betrachtet werden. Der Prozeß ist ein Teil der großen Anstrengung, den Frieden sicherer zu machen”, erklärte der US-Hauptankläger Robert H. Jackson in seiner am 21. 11. 1945 vor dem Internationalen Militärtribunal (IMT) in Nürnberg gehaltenen ersten Anklagerede [1] gegen die als Hauptkriegsverbrecher beschuldigten ehemaligen Führer des Dritten Reichs und die als verbrecherisch angeklagten Organisationen. Und der englische Hauptanklage-Vertreter Sir Hartley Shawcross pflichtete ihm bei: „Es ist… die Absicht der Britischen
Regierung, daß der Gerichtshof in diesen Dingen nicht das Recht des Siegers, sondern die im internationalen Gebrauch befindlichen anerkannten Prinzipien anwenden wird, und zwar auf eine Weise, die, wenn irgendetwas es vermag, die Herrschaft des internationalen Rechtes aufrichten und stärken und den künftigen Frieden und die Sicherheit dieser vom Krieg heimgesuchten Welt gewährleisten wird “ [2].
Die Hoffnung, den Frieden zu sichern und das Völkerrecht zu stärken, ist weitgehend Wunschziel geblieben. Selbst die Staaten, die die Richter stellten, hielten sich auch künftig nicht immer an die in Nürnberg aufgestellten Maximen: die Vorgänge in Ungarn und der CSSR, in Algerien und Vietnam stehen nur als markante Beispiele.
Auch der Anspruch des IMT, internationales Recht zu sprechen, wird – auch noch nach 30 Jahren – von Kritikern immer wieder bestritten. Sie argwöhnen, es habe sich bei dem mit großem Aufwand durchgeführten Verfahren um schiere Rache im rechtsförmigen Gewand gehandelt. Es wurde behauptet, die Alliierten hätten einen Schauprozess, ein Theater fürs Volks abgehalten, dessen Ergebnis von Regie und Textbuch längst festgelegt war. Und einige Völkerrechtslehrer [3] vertreten die Ansicht, das IMT und seine Rechtsgrundlage, das am 8.8.1945 in London unterzeichnete Statut und das Abkommen vom gleichen Tag, sei selbst Unrecht, das Urteil von Nürnberg sei völkerrechtswidrig gewesen. Juristen wie Politiker werden sich – aus unterschiedlichen Gründen und Motivationen – kaum einigen.

Doch ist es jetzt erstmals möglich, den historischen Hintergrund und inneren Ablauf des Nürnberger Prozesses vor dem IMT genauer kennenzulernen. Das Buch von                                                   Bradley F. Smith: Der Jahrhundertprozeß. Die Motive der Richter von Nürnberg. Anatomie einer Urteilsfindung. S. Fischer Verlag, Frankfurt 1977, 380 Seiten, Ln DM 34
bietet weit mehr, als Titel und Untertitel versprechen (obwohl auch das schon ausreichte für ein Standardwerk zum Thema). Der Autor (Historiker, 1931 in Seattle/USA geboren) verfolgt und belegt die Stationen der Urteilsfindung anhand der erhaltenen Aufzeichnungen über die Beratungen der Richter, der Gutachten und Urteilsentwürfe des wissenschaftlichen Stabes des Gerichts, er beschreibt aber auch detailliert die Vorgeschichte der Entstehung des Gerichtshofs.
Dabei erfährt man nicht nur, daß die Idee eines internationalen Gerichtshofs zur Aburteilung von
deutschen Kriegsverbrechern vom US-Kriegsminister Stimson als Alternative zu dem von ihm strikt abgelehnten Morgenthau-Plan propagiert wurde und eine von Oberst Bernays (im Zivilberuf Rechtsanwalt) in seinem Ministerium ausgearbeitete grundlegende erste Denkschrift am 15. 9 1944 vorlag, sondern auch, daß Stalin es war, der auf ein Gerichtsverfahren drängte, während die Engländer für summarische Hinrichtungen waren.
Smith’s Untersuchungen verwerten vor allem neue anglo-amerikanische Dokumente. Das hat notwendigerweise zur Folge, daß die Überlegungen und Schritte der Regierungen der USA und Großbritanniens detaillierter dokumentiert sind als die derjenigen von Frankreich und der USSR. Dieser Mangel ist jedoch nicht behebbar und für das Ergebnis auch offenbar nicht von entscheidender Bedeutung. Hervorzuheben ist aber die Objektivität der Darstellung von Smith. Er spricht die offen-kundigen Mängel des Verfahrens vor dem IMT in Nürnberg an und würdigt sie kritisch. So etwa die Schwierigkeit, von den vier Anklagepunkten Vorbereitung von Angriffskriegen (Punkt II), Kriegs-verbrechen (d.h. Verstöße gegen die hergebrachten Kriegsregeln, Punkt III), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Punkt IV) und Verschwörung bzw. gemeinsamer Plan zur Begehung dieser Delikte (Punkt I) für die Punkte II und IV eine vor Ausführung der Taten bestehende allgemeine Völkerrechtsnorm zu finden, wie es der Rechtsgrundsatz nulla poena sine lege erfordert. So das Problem, daß der Begriff der Verschwörung, der im Verfahren und im Urteil dann so wichtig wurde, eine ausschließlich dem anglo-amerikanischen Recht entstammende Rechtsfigur ist. Auch weist Smith auf die Problematik hin, daß es den Angeklagten verwehrt war, sich mit dem Hinweis auf von den Alliierten begangenen Missetaten zu rechtfertigen (tu quoque-Prinzip; immerhin führte dieser Ein-wand der Verteidigung aber dazu, daß ihnen weder die Luft- noch die U-Boot-Kriegsführung angelastet wurde). Er erkennt auch die Schwierigkeiten der Verteidigung an. Von Waffengleichheit mit der Anklage konnte keine Rede sein.
Aus Smith’s Darstellung ergibt sich — wie nicht anders zu erwarten war —, daß das Verfahren vor dem IMT natürlich ein politischer Akt der Siegermächte war; auch, daß die Richter nicht im Elfenbeinturm weltferner Unbeteiligtheit verhandelten und entschieden. Er zeigt aber auch, daß sie weder willfährige Exekutoren der Ankläger noch der verlängerte Arm ihrer Regierungen waren. Smith stellt fest, daß von den acht Richtern (vier ordentliche und vier stellvertretende Mitglieder des IMT,
paritätisch von den vier Besatzungsmächten bestellt) zwar offenbar nur die amerikanischen völlig von Weisungen ihrer Regierung unbehelligt blieben, daß aber auch den anderen Richtern kraft ihrer Persönlichkeit und dank der Eigenart des Verfahrens, das ständig zwang, Kompromisse zu schließen, weitgehende Unabhängigkeit möglich war. Die Aufzeichnungen über die Beratungen zeigen, daß die Meinungen der Richter oft stark auseinandergingen, sich oft wechselnde Gruppierungen bildeten und auch ordentliche und stellvertretende Richter des gleichen Staates nicht selten kontroverse Ansichten vertraten. Aufschlußreich ist, wie die Richter in den einzelnen Fällen zu Schuldspruch und Strafmaß kamen. Der Zwang zur Mehrheitsentscheidung erforderte Kompromisse, die zu kuriosen Ergebnissen führen konnten: Hjalmar Schacht etwa (1933—39 Reichsbankpräsident, Reichswirtschaftsminister und Generalbevollmächtigter für die Kriegswirtschaft bis 1937, Minister ohne Geschäftsbereich noch bis 1943, 1944 KZ, seit 1939 Geheimkontakte zu den USA) wurde schließlich freigesprochen, nachdem die Richter ursprünglich zwischen lebenslang (Nikitschenko, USSR), zeitigen Haftstrafen und Freispruch (Lordrichter Lawrence, Großbritannien) geschwankt hatten und fast alle im Laufe mehrerer Beratungen ihre Meinungen mehrfach geändert hatten. Rudolf Heß wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, weil der Russe Nikitschenko, nachdem er mit dem Vorschlag der Todesstrafe keinen Erfolg hatte, sich dem entsprechenden Votum der Richter Biddle (USA) und Lawrence anschloß, während Donnedieu de Vabres (Frankreich) nur auf zeitige Haft erkennen wollte.
So erweist sich Smith’s Untersuchung nicht nur für Historiker und Völkerrechtler von Interesse, sie ist auch eine einzigartige Darstellung für den Prozeß der richterlichen Überzeugungsbildung allgemein. Sie bietet die einmalige Gelegenheit, die Einzelheiten einer richterlichen Urteilsfindung, ihre intellektuellen wie irrationalen Momente zu verfolgen.

Gleichzeitig mit diesem Werk erschien ein weiteres Buch zum gleichen Thema:
Werner Maser: Nürnberg. ‚ Tribunal der Sieger; Econ Verlag, Düsseldorf 1977, 704 Seiten, 16 S Bildteil, zahlreiche Dokumente im Text, Ln DM 38.
Während Smith darstellte, „wie sich der Nürnberger Prozeß von der Richterbank ausnahm” (Seite 12), standen Maser Dokumente dieser Art offenbar nicht zur Verfügung. Neben der Benutzung amtlicher Archive recherchierte er daher bei ehemaligen Angeklagten, ihren Verteidigern und Hinterbliebenen. Er versucht, den Prozeß und sein Umfeld aus der Perspektive der Angeklagten zu rekonstruieren, mit der ihm eigenen Detailfreude. Es werden Passagen aus Vernehmungsniederschriften, aus den Aufzeichnungen des Gerichtspsychologen Gilbert, aus dem Verhandlungsprotokoll und aus dem Urteil des IMT zitiert, dazu eine Reihe von Dokumenten abgedruckt, zum Teil faksimiliert. Dennoch – oder vielleicht gerade der Fülle oft umfangreicher direkter Zitate wegen — entsteht kein lebendiger Eindruck, wirkt der Text überfrachtet und unübersichtlich.
Die auch von Maser zur Diskussion gestellte Frage, ob es sich bei dem Verfahren um „Rache oder Gerechtigkeit” gehandelt hat, wird nicht beantwortet. Sie ist auch schon von der Fragestellung her verfehlt, da sich Rache und Gerechtigkeit bekanntlich nicht ausschließen. Umso bedauerlicher ist die plakative Herausstellung dieser Frage in einer Überschrift, ohne daß die Problematik auch nur diskutiert wird. Das Buch leidet überhaupt darunter, daß man den Eindruck gewinnt, der Autor habe sich nicht entscheiden können, ob er eine wissenschaftliche Darstellung und Analyse des Prozeßverlaufs, eine Dokumentation oder ein anschauliches Zeitbild für ein breiteres Publikum schreiben wollte, mit dem Ergebnis, daß ein seltsames Konglomerat aus diesen einander gegensätzlichen Darstellungsweisen entstand.
Leider fehlt es auch an überflüssigen, sogar peinlichen Details nicht. So, wenn Maser die entwürdigende Behandlung der deutschen Bediensteten anläßlich der Besetzung des Außenministeriums der Regierung Dönitz durch englische Soldaten beklagt (wenn man sich demgegenüber die so menschenwürdige Behandlung alliierter Kriegsgefangener durch das NS-Regime in Deutschland, ihren Einsatz in der Rüstungsindustrie etwa, vergegenwärtigt oder gar die sorgsame Behandlung der Bevölkerung besetzter Gebiete durch Nazi-Deutschland, von den Deportationen in KZs ganz zu schweigen). Auch die Schilderung der Gefangennahme der ehemaligen NS-Größen und ihr sicherlich nicht bequemes Schicksal im Gewahrsam der Sieger (wobei gelegentlich offenbar allzu unkritisch Darstellungen der Betroffenen und ihrer Angehörigen übernommen werden) trägt zum Thema des Buches, dem Verfahren vor dem IMT, wenig bei und ist geeignet, einseitige Ressentiments zu wecken.
Die Darstellung des Prozesses selbst ist allzu farblos. Gerichtsprotokolle vermitteln eben nur selten Atmosphäre. Auch wenn manche Szenen (etwa aus der Vernehmung Görings als Zeuge in eigener Sache) durchaus Spannung enthalten. Werner Maser, der Verfasser einer fundierten Hitler-Biografie, der mit Akribie und Sorgfalt auch die Frühgeschichte der NSDAP erforscht hat, enttäuscht mit diesem voluminösen Buch, das seinen früheren Werken in keiner Weise gleichkommt.
Nicht dem Autor anzulasten freilich ist der schlampige Satz (es wurde offenbar keine Fahnenkorrektur gelesen), der ebenso ärgerlich ist wie das klotzig-häßliche Econ-Layout.

Einen besseren Eindruck von der inneren Verfassung der vor dem IMT Angeklagten als bei Maser gewinnt man in dem soeben in Neuauflage erschienenen Taschenbuch
Gustave M. Gilbert: Nürnberger Tagebuch. Fischer Taschenbuch Verlag, Nr. 1885, August 1977. 456 Seiten, DM 7,80.
Es enthält die täglichen Aufzeichnungen des amerikanischen Gerichtspsychologen Gilbert über seine Gespräche mit den als Hauptkriegsverbrecher Angeklagten in der Zeit vom 20.10.1945 (Zustellung der Anklageschrift) bis 1.10.1946 (zweiter Tag der Urteilsverkündung), jeweils mit einer kurzen Zusammenfassung des Prozeßgeschehens des Tages. Man erhält Einblick in die Bildung von Cliquen und ihren Verfall, in die Machtstrukturen, die unter den Angeklagten selbst noch im Gefängnis und während des Verfahrens bestanden und deren Veränderungen, in die innere Verkrustung oder in die Flucht in andere Glaubensinhalte (Hans Frank, der zum Katholizismus konvertierte und Zeichen religiösen Wahnes erkennen ließ). Der bei einigen Angeklagten bis zum Schluß anhaltende Fanatismus, wie die moralische und charakterliche Niveaulosigkeit anderer, wirft ein letztes makabres Licht auf die Führungsschicht Deutschlands in seiner unwürdigsten Zeit.

Ebenfalls als Neuauflage ist der authentische Text des vollständigen Urteils des IMT in deutscher Sprache erschienen:
Das Urteil von Nürnberg 1946. dtv Nr. 2902, München, August 1977, 309 Seiten, DM 6,80.
Das Bändchen enthält eine Vorbemerkung von Professor Herbert Kraus, einem ehemaligen Verteidiger beim IMT. Es ist ein unerläßliches Dokumentar- und Nachschlagewerk neben den anderen angezeigten Büchern.

Verweise

1 Staat und Moral. Zum Werden eines neuen Völkerrechts. Die Anklagereden von R.H. Jackson, München 1946, S 68.
2 Nürnberg. Die Rede des englischen Hauptanklagevertreters Sir Hartley Shawcross, Hamburg 1946, S 5.
3 Vgl zur Problematik: Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Band Kriegsrecht, § 50, mit ausführlichen Nachweisen; für völkerrechtliche Unbedenklichkeit z.B. Hoffmann in Evangelisches Staatslexikon, 2. Auflage, Sp 1042ff.

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