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Strategien für eine Reform der §§218ff. StGB

vorgängevorgänge 10506/1990Seite 105- 112

Aus: vorgänge Nr. 105 (Heft 3/ 1990), S. 105- 112

Lebens­schützer auf dem Rechtsweg

Der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts wird demnächst über den Normenkontrollantrag Bayerns, dem sich Baden-Württemberg teilweise angeschlossen hat, zu entscheiden haben. Legt man die Rechtsprechung des 1. Senats(1) zugrunde, wäre der Antrag aussichtslos. Da aber die beiden Senate unterschiedlichen verfassungspolitischen Maximen folgen, sind Überraschungen oder Patt-Entscheidungen nicht auszuschließen. Es könnte sein, daß mit Blick auf die Fristenlösung der DDR in Zukunft die Bereitschaft wächst, quasi im Vorgriff auf künftige Entwicklungen die restriktiven Schwangerenberatungsgesetze, wie sie insbesondere in Bayern und Baden-Württemberg praktiziert werden, mit verfassungsrechtlichen Weihen auszustatten. Liberale Regelungen in der DDR wären dann im Falle einer Angleichung der politischen Systeme bereits im Vorfeld erschwert. Es wird sich zeigen, ob diese Strategie erfolgreich sein kann. Rückblickend kann man jedenfalls feststellen, daß der Angriff gegen das Beratungs- und Feststellungsverfahren sowie gegen die Finanzierung legaler Abbrüche durch die Krankenkassen, Teil einer umfassenden Strategie ist, das geschriebene Bundesrecht schrittweise durch ein Richterrecht zu ersetzen, das Frauen nur nach einem umständlichen Verfahren und in seltenen Ausnahmefällen einen legalen Schwangerschaftsabbruch ermöglicht. Die Antragsteller interpretieren die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahre 1975 einseitig und verlangen einen mit der Verfassung unvereinbaren Lebensschutz um jeden Preis. Sie verkennen, daß das Bundesverfassungsgericht den Ermessensspielraum der Gesetzgebung nicht nur widerstrebend hinnimmt, sondern ausdrücklich als wesentliches Element einer parlamentarischen Demokratie garantiert: „Wie der Staat seine Verpflichtung zu einem effektiven Schutz des sich entwickelnden Lebens erfüllt, ist in erster Linie vom Gesetzgeber zu entscheiden … Dabei wird es hauptsächlich darauf ankommen, die Bereitschaft der werdenden Mutter zu stärken, die Schwangerschaft eigenverantwortlich anzunehmen ..” (BVerfGE 39, 48).

Verfolgen wir den Gang der Gegenreformer durch die Instanzen. 1981 klagte eine Redakteurin der katholischen Zeitschrift „Neue Bildpost” gegen ihre Krankenkasse, da diese Notlagenindikationen finanzierte. Das angerufene Sozialgericht setzte das Verfahren aus und legte die Frage dem BVerfG vor. Der erste Senat lehnte 1984 die Normenkontrolle ab (BVerfGE 67, 26). Zwei weitere Entscheidungen des 1. Senats des BVerfG belegen, daß es gewillt ist, den Ermessensspielraum der Gesetzgebung zu akzeptieren.

Seit 1987 verweigert die Landwirtschaftliche Krankenkasse Unterfranken die Zahlung von Notlagenindikationen. Aus dem juristischen Gutachten der Krankenkasse geht hervor, daß man geradezu darauf hofft, eine der abgewiesenen Frauen würde klagen. Dann — so wird erwartet — könnte das angerufene Gericht die Frage dem BVerfG vorlegen, das in diesem Fall unmittelbar zur Verfassungsmäßigkeit der Notlagenindikation Stellung nehmen müßte.(2) 1988 wiederholte sich derselbe Vorgang bei einer badischen Krankenkasse. Nach heftigen Auseinandersetzungen mit der Sozialministerin wurde der Streit beigelegt.(3)

1985 wurde ein Nürnberger Arzt wegen fahrlässiger Tötung zu einer hohen Freiheitsstrafe verurteilt. Eine seiner Patientinnen war nach einem Schwangerschaftsabbruch gestorben. Das Gericht nahm den Tod dieser Frau zum Anlaß, etwa vierzig Notlagenindikationen zu überprüfen. Es legte dabei Maßstäbe an, die darauf hinauslaufen, die Notlagenindikation im Wege der Auslegung abzuschaffen, also nur noch eine weit gefaßte medizinische Indikation zuzulassen. In einem weiteren Verfahren wurde der Arzt, der die Indikationen gestellt hatte, wegen Beihilfe zum unerlaubten Schwangerschaftsabbruch angeklagt. Die Nürnberger Richter gelangten, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, ans Ziel. Der angeklagte Arzt wollte kein Aufsehen erregen und legte deshalb ein „Geständnis” ab. Nach seiner Verurteilung verzichtete er auf Rechtsmittel. Damit war die Legalisierung der Notlagenindikation, jedenfalls in Bayern, rückgängig gemacht worden. Die Memminger Massenverfahren haben lediglich deutlich gemacht, mit welcher Militanz die Landespolitik durchgesetzt wurde und wird.

Am 9.2.1987 verweigerte ein Vormundschaftrichter des Amtsgerichtes Celle einem 16jährigen Mädchen die Einwilligung zu einem Schwangerschaftsabbruch. Ebenso wie die Nürnberger Strafrichter hielt er die ärztlich festgestellte Notlagenindikation für rechtswidrig und ersetzte sie durch einen extrem restriktive Maßstäbe anlegenden Beschluß. Zur Rechtfertigung verwies er auf seine Lebenserfahrung: „Erfahrungsgemäß (weicht) eine im Frühstadium einer Schwangerschaft vorhandene psychische Verweigerungshaltung bei fortschreitender Schwangerschaft in vielen Fällen deren innerer Akzeptanz”. Dem Mädchen sei daher trotz des Vorliegens gravierender Umstände das Austragen der Leibesfrucht zuzumuten. Zur Bekräftigung des Verbots wurden alle in Betracht kommenden Ärzte mit einem Zwangsgeld belegt.(4)

Die Entscheidungsgründe laufen darauf hinaus, die §§ 218 ff. StGB zivilrechtlich zu unterlaufen. Der Beschluß erging nämlich nach § 1666 BGB: Die Untersagung einer Abtreibung sei eine „erforderliche Maßnahme”, um eine „Gefährdung des Kindeswohls” abzuwenden. Der Richter setzte also rechtstechnisch gleich, was das Bundesverfassungsgericht allenfalls metaphorisch gleichgesetzt hatte: „Kind” i.S. des § 1666 BGB sei auch das „gezeugte, aber noch ungeborene Leben”. Ins Strafrecht übertragen bedeutete dies, daß Abtreibung ein spezielles Tötungsdelikt sei.

Der Embryo — ein Grund­rechts­trä­ger?

Es ist üblich geworden, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1975 zu zitieren als Beleg für die Schutzpflicht des Staates gegenüber dem werdenden Leben und einer grundsätzlich anzuerkennenden Pflicht einer schwangeren Frau, die mit einer Schwangerschaft „normalerweise” verbundenen Belastungen auf sich zu nehmen. Aber diese Lesart übersieht einen in der Entscheidung angelegten zweiten, zum ersten in Widerspruch stehenden Begründungsstrang .(5) Verfassungsrechtlich geschützt ist nach Ansicht der damaligen Mehrheit der Richter nicht nur das werdende Leben, sondern auch die Gewissensentscheidung der Frau. Diese wird — systematisch wenig einleuchtend — nicht schon im Tatbestand (Fristenlösung), sondern erst bei der Rechtfertigung wegen einer Notlage (Indikationenlösung) berücksichtigt.

Um den doppelten Boden der Entscheidung des BVerfG zu verstehen, empfiehlt es sich, die Bedeutung der auf den ersten Blick lediglich rechtstechnischen Ausdrücke „Rechtsgut” und „Grundrechtsträger” oder „Rechtssubjekt” deutlicher zu machen als dies die unklare Sprache der Güterabwägung zuläßt. Der Embryo ist im Gegensatz zur werdenden Mutter unstreitig weder rechtsfähig noch grundrechtsfähig. „Jeder” im Sinne der Art. 1 und 2 GG sind nur geborene Menschen. Grundrechte sind zunächst einmal Bürgerrechte. Zwar wird der Embryo als „selbständiges Rechtsgut” (BVerfGE 39, 36) bezeichnet, nicht aber als Rechtssubjekt. Präzisiert man also die „Interessen” hinter der Interessenabwägung, die das BVerfG vornimmt, dann wird deutlich, daß es wenig Sinn macht, das Selbstbestimmungsrecht der Frau als „Rechtsgut” zu bezeichnen und auf dieselbe Ebene zu stellen wie das „Rechtsgut” des werdenden Lebens. Die Gewissensentscheidung einer Frau für oder gegen die Mutterschaft betrifft vielmehr den Kern ihrer Rechtssubjektivität. Sie berührt ihr künftiges Leben so zentral, daß es schon sehr gewichtige Gründe geben müßte, um ihr eine eigenverantwortliche Entscheidung zu versagen.

Das BVerfG versucht nun, das Rechtsgut des „werdenden” oder „ungeborenen” Lebens, philosophisch gesprochen, den „moralischen Status” des Embryos, dadurch aufzuwerten, daß es ihn in den Begriff „jeder” in Art. 2 II S. 1 GG einbezieht und ihn als selbständiges, menschliches Wesen unter den Schutz der Verfassung stellt. Aber bei aller Ambiguität solcher Zuschreibungen macht doch der Kontext der Begründung deutlich, daß die gewählte Interpretation nicht zwingend aus dem Wortlaut der Verfassung folgt, sondern aus einem sehr umstrittenen Vorverständnis einer „objektiven Wertordnung” (BVerfGE 39, 41) resultiert. Methodisch heißt dies, daß „Menschenwürde” und „Lebensschutz” wertende Attribute sind, die den hohen Rang des streitigen Rechtsguts umschreiben sollen. Aber selbst wenn man — wogegen nichts spricht — im werdenden menschlichen Leben ein besonders schützenswertes Rechtsgut sieht, so vermag doch diese Bewertung den qualitativen Unterschied zwischen Rechtsgut und Rechtssubjekt nicht zu beseitigen. Sie taucht immer wieder auf.

Verfolgen wir die Begründung für die letztlich unbestimmbare Notlagenindikation. Die Lösung schwerwiegender Konflikte durch eine Strafdrohung erscheine „im allgemeinen nicht als angemessen”, da sie „äußeren Zwang einsetzt, wo die Achtung vor der Persönlichkeitssphäre des Menschen volle Entscheidungsfreiheit fordert”. Formulierungen wie diese zeigen, daß selbst in dieser nach wie vor umstrittenen Entscheidung, die den Rang des werdenden Lebens sehr hoch ansetzt, eine strafrechtliche Intervention Grenzen haben muß, jenseits derer die betroffene Frau selbst eigenverantwortlich, d.h. moralisch, entscheiden kann und muß, in der Diktion des Gerichts eine „achtbare Gewissensentscheidung” (BVerfGE 39, 48) treffen kann. In welche Richtung auch immer der immanente Widerspruch dieser beiden Argumentationsstränge aufgelöst wird: Es bleibt eine grundlegende Differenz zwischen dem eine Gewissensentscheidung fällenden „Rechtssubjekt” und dem davon betroffenen „Rechtsgut”. „Mensch” und „Leibesfrucht” sind asymmetrisch und können nicht im Wege der Güterabwägung verrechnet werden. Strafrechtsdogmatisch folgt daraus die Interpretation des Merkmals „nach ärztlicher Erkenntnis” (218a a StGB) als einer normativen Ermächtigung. Notlagenindikationen können nach dieser Ansicht von Gerichten nur begrenzt überprüft werden.(6) Rechtspolitisch bedeutet dies, neue Initiativen zu starten um die unklare Indikationslösung durch klarere Normen zu ersetzen.

Stand der Recht­spre­chung

Der Streit zwischen dem Bayerischen Obersten Landgericht und dem 6. Zivilsenat des BGH ist noch offen. Anfang Oktober wurde Revision gegen die Verurteilung von Dr. Theissen eingelegt. Unter anderem geht es dabei auch um die Frage der strafgerichtlichen Überprüfung einer ärztlich festgestellten Notlagenindikation. Theoretisch also könnte ein Richterspruch aus Karlsruhe die erforderliche Klärung bringen. Aber bekanntlich sind Richter nur dann entscheidungsfreudig, wenn sie Mehrheiten auf ihrer Seite wissen. Zur Zeit ist es wenig wahrscheinlich, daß die BGH-Richter vorpreschen. Sie können sich nämlich des Problems auf einfache Weise entledigen: Das Urteil der drei Memminger Richter ist grob fehlerhaft. Im Eifer des Gefechtes berechneten sie die Verjährungsfristen unübersehbar falsch. Sie haben wegen der bloßen Formverstöße nach § 219 und §218b StGB (d.h. der Pflicht zur Sozialberatung und Indikationsfeststellung durch einen zweiten Arzt) verurteilt, obwohl die Verjährung von nur drei Jahren — im Gegensatz zu fünf Jahren bei § 218 StGB — bereits verstrichen war. Sollte der BGH eine „kleine Lösung” vorziehen und das Urteil wegen dieses Mangels aufheben, geht das Verfahren weiter. Es kann noch Jahre dauern, bis ein rechtskräftiges Endurteil ergehen wird.(7)

In der Zwischenzeit wird die Diskussion nicht abbrechen, da es zu neuen Strafverfahren kommen wird. Die Staatsanwaltschaft Koblenz hat im Sommer 1989 vor dem Landgericht Anklage gegen einen Arzt erhoben(8), dem sie nicht nur zahlreiche Verstöße gegen § 218 StGB vorwirft, sondern auch ein Vergehen nach § 219 StGB, weil er Indikationen nicht ausführlich genug begründet habe. Die Konstruktion einer Begründungspflicht hat weitreichende Folgen, da sie das gesamte Verfahren bürokratisiert und Datenschutzgesichtspunkte vollkommen ignoriert.(9) Aber damit hat es nicht sein Bewenden. Die Anklage konstruiert in zahlreichen Fällen eine versuchte Abtreibung. Sie wird damit begründet, daß der abbrechende Arzt sich auf die von anderen Ärzten festgestellten Notlagenindikationen verlassen habe. Nur spezialisierte Strafrechtsdogmatiker können diesen Einfall würdigen. Der Versuch kann einzig bejaht werden, wenn man einer Mindermeinung folgt, die Dogmatik als Mittel zur Schließung von „Strafbarkeitslücken” benutzt. Er (der Versuch) sei zu bejahen, weil der Handlungsunwert erhalten bleibe, wenn lediglich der Erfolgsunwert zu verneinen sei (da in dubio pro reo von einer „objektiv” vorliegenden Indikation auszugehen sei), aber ein subjektives Rechtfertigungselement (pflichtgemäße Prüfung) fehle.(10)

Offenkundig hat die Staatsanwaltschaft Koblenz einerseits das Memminger Verfahren kopiert, andererseits aus den Reaktionen taktisch gelernt. Sie will vermeiden, daß die Verurteilung des Arztes von der Überprüfung der jeweiligen Notlagenindikation abhängig sein wird. Aber es ist ihr nicht gelungen, derartige juristische Feinheiten öffentlich plausibel darzustellen.

Krimi­nal­po­li­ti­sche Forderungen

Minimalforderung: Bundeseinheitliche Zulassung von ambulanten Einrichtungen zur Beseitigung der gegenwärtigen Rechtsungleichheit.

Abtreibungstourismus ist eine beschönigende Formulierung für das Elend der Frauen, die das Pech haben, in einem Bundesland zu leben, das sich eine pharisäische Politik auf ihre Kosten leisten zu können meint. Einen sofort gangbaren Weg zur Beseitigung dieser unerträglichen Rechtsungleichheit zeigt der Deutsche Juristinnenbund. Auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung im September 1989 beschlossen die dort Versammelten fast einstimmig ein umfassendes Sofort-Programm zur Sicherung der Reform der § 218 ff. StGB. Die Landesministerien stützen sich auf Art. 3 Strafrechtsreformgesetz und vertreten die vom Bundesverwaltungsgericht bestätigte Rechtsansicht, sie könnten nach reinen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten, also willkürlich, ambulante Einrichtungen genehmigen oder nicht (Lehre von der sogenannten Entschließungsfreiheit der Länder). Nichts liegt näher, als diese Bestimmung durch ein zustimmungspflichtiges Bundesgesetz zu ändern. Die Chancen für eine Mehrheit sind günstig. Schließlich genehmigen CDU-regierte Bundesländer wie Hessen und Rheinland-Pfalz ambulante Einrichtungen. Die Bedingungen für eine fraktionenübergreifende Initiative der jeweiligen PolitikerInnen sind also günstig. Sie haben es schon jetzt in der Hand, die drei Hardliner (Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen) ins Abseits zu stellen. Was ist zu tun? Statt der vagen Formulierung (i.d.F. 1978): „Der Schwangerschaftsabbruch darf nur in … einer hierfür zugelassenen Einrichtung vorgenommen werden”, sollte es heißen: „Der Schwangerschaftsabbruch darf nur in einer Einrichtung vorgenommen werden, in der die notwendige medizinische Nachbehandlung gewährleistet ist” (so auch die ursprüngliche Fassung aus dem Jahre 1974). Die kleine Änderung hätte große Folgen: Alle Länder, auch Bayern, müßten ambulante Einrichtungen zulassen. Sie hätten nicht mehr wie bisher eine „Entschließungsfreiheit”, ob sie zulassen wollen oder nicht, sondern nur das Recht, die medizinischen und technischen Anforderungen an eine adäquate Nachbehandlung zu normieren.

Rückzug des Strafrechts: Die gegenwärtige Diskussion zwingt zu der Unterscheidung zwischen programmatischen Grundsatzdebatten und pragmatischen Forderungen. Beginnen wir mit der Programmatik. Eine Streichung der §§ 218 ff. StGB verlangen die autonomen Frauen, die Humanistische Union, die Grünen und der Arbeitskreis sozialdemokratischer Frauen (ASF). Etwas vorsichtiger formulieren die Juristen in der SPD (Arbeitskreis sozialdemokratischer Juristen). Die Gewichte verschieben sich zur Zeit deutlich zugunsten eines generellen Rückzugs des Strafrechts. Aber die Argumente für die Streichung der §§ 218 ff. StGB lassen sich auch auf einen zeitlich begrenzten Rückzug des Strafrechts übertragen, d.h. eine Fristenlösung, die nicht wie 1974 im wesentlichen auf die fehlende Effektivität von Strafdrohungen abstellt, sondern die deren Illegitimität begründet. Repressiver Zwang in Gewissensfragen ist unangemessen. Unklare Strafnormen,die wie die Notlagenindikation auf einem Formelkompromiß basieren, fördern eine Verlagerung der rechtspolitischen Auseinandersetzung auf Justiz und Landesrecht. Aus diesem Grund gibt es innerhalb der SPD Befürworter für eine erneute Fristenlösung. Sie sehen spätestens seit Memmingen die Prognosen des Jahres 1976 als widerlegt an. Bundesverfassungsrichter könnten heute einen vergleichbaren Übergriff in die Sphäre der Politik nicht mehr legitimieren. Sollte es zu einer sozialdemokratischen Initiative kommen, dann ist die FDP gefordert. Die Hamburger Liberalen haben bereits einen entsprechenden Vorschlag der Öffentlichkeit vorgelegt.

Doch jenseits der unüberbrückbaren weltanschaulichen Differenzen existieren ganz konkrete Gegenstrategien gegen eine Politisierung der Abtreibungsfrage. Gangbar sind folgende Wege: Hamburg und Berlin könnten sofort einen Bundesratsentwurf einbringen, der zum einen die Entschließungsfreiheit der Länder bei der Zulassung ambulanter Einrichtungen beseitigt (Art. 3 StrRG) und zum anderen eine anders als 1974 begründete Fristenlösung vorsieht. Darüber hinaus kann in der nächsten Legislaturperiode im Bundestag eine Fristenlösung eingebracht werden. Schließlich ist eine Verbesserung des Datenschutzes in Strafverfahren (allgemein, nicht nur bei § 218 Verfahren) überfällig. Die Regelung der beschlagnahme freien Gegenstände in § 97 StPO regelt kein eigenes Recht der von der Beschlagnahme betroffenen Personen, sondern flankiert lediglich das Zeugnisverweigerungsrecht der Geheimnisträger (Ärzte, Geistliche, Rechtsanwälte, Steuerberater). Diese Regelung ist unzureichend. Das BVerfG hat zwar anerkannt, daß das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient grundrechtlich geschützt ist, aber die Praxis unterläuft diese Entscheidung.(12) Daher sind die §§94ff StPO zu reformieren.(13)

(1) Abgelehnt wurde die Verfassungsbeschwerde gegen die Finanzierung durch die Krankenkasse durch Beschluß des 1. Senats vom 15.6.1988 — 1 BvR 1301 / 86 NJW 1988, 2 289. A.A. Isensee, NJW 1986, 1645; abgelehnt wurde ferner die Verfassungsbeschwerde gegen die Lohnfortzahlung durch Beschluß vom 5.4.1989 — 5 AZR 495/87. A.A. Tröndle, NJW 1989, 2290. Ungeklärt blieb die Verpflichtung der Sozialhilfeträger. Vgl. hierzu Gudrun Doering-Striening, Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, — Nr. 4/69. Jg. 1989, S. 139 (Sozialhilfeträger in Fulda). Ein geplantes Schwangerenberatungsgesetz scheiterte an der extremen Position der CSU, die die bayerische Lösung bundeseinheitlich durchsetzen wollte, vgl. hierzu die Kritik des Deutschen Juristinnenbundes, in: Streit 1988, 74. Zustimmend Tröndle, ZRP 1989, 54.

(2) Vgl. das Gegengutachten (Monika Frommel, August 1988), Geschäftsstelle der GRÜNEN in Bayern (Frauenreferat).

(3) SZ v. 26.9.1989; TAZ v. 26.10.1989.

(4) AG Celle, FamRZ 1987, 738.

(5) Neuere Aufsätze zur verfassungsrechtlichen Problematik betonen — stärker als früher — den Aspekt der Gewissensfreiheit, stellen also nur in zweiter Linie auf die fehlende Effektivität von Strafdrohungen ab: Thilo Ramm, JZ 1989, 861; Michael Köhler, GA 1988, 435; Günther Jerouschek, JZ 1989, 279.

(6) Vgl. hierzu den Beschluß des DJB, Streit 1989, 132. Für einen Beurteilungsspielraum plädiert der 6. Zivilsenat des BGH im Jahre 1975, BGH Z 95, 199), ebenso Eser in: Schönke/ Schröder, Strafgesetzbuch, 23. Aufl. 1988, Rdnr. 16 zu § 218 a; Köhler, Fn.S; in dieselbe Richtung zielen die Stellungnahmen von Klaus Bernsmann, Arbeit und Recht 1989, 10. A.A. BayrObLG, MDR 1978, 951; aber Wortlaut und Entstehungsgeschichte sprechen gegen diese teilweise auch in der Kommentarliteratur vertretenen restriktiven Meinung. Die Kritik von Kluth an der Meinung des 6. Zivilsenats (NJW 1986, 2 348) ignoriert den gesetzgeberischen Willen, ebenso die ablehnende Kommentierung von Lackner (18. Aufl., 1989, §218a, 2 c/ bb). Die Kritiker übersehen, daß §218a kein Unterfall des rechtfertigenden Notstandes ist, bei dem es auf das objektive Vorliegen der Notstandslage ankommt (Rettung eines überwiegenden Rechtsguts). Die Notlagenindikation ist ein spezieller Rechtfertigungsgrund, basierend auf der Achtung vor der Gewissensfreiheit der schwangeren Frau. Die normative Ermächtigung an die „ärztliche Erkenntnis” ist ein Kompromiß, da man sich an einer Fristenlösung gehindert sah. Im Gegensatz dazu gibt es beim rechtfertigenden Notstand nach § 34 StGB keinen Grund, den Betroffenen einen Beurteilungsspielraum einzuräumen. § 218 a StGB weicht also von der Regel ab, daß die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes objektiv gegeben sein müssen. Zur Entstehungsgeschichte vgl. den Gesetzentwurf der SPD/FDP BT-Dr. 7/4 128; Bericht des Sonderausschusses BT-Dr. 7/4696. Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich eindeutig, daß die damalige Koalition den Spielraum, den das BVerG gelassen hatte, voll ausschöpfen wollte. Aus diesem Grund ersetzte man die für die stärker objektivierbare medizinische, eugenische und kriminologische Indikation sinnvolle Formulierung der Fristenlösung, wonach eine Indikation „nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft” vorliegen müßte (so noch im S. StrRG vom 18. Juni 1974), durch die offene Formulierung „nach ärztlicher Erkenntnis”. Der Grund für die sprachliche Änderung ist das Prinzip der Rechtssicherheit. Wenn man einen ärztlichen Beurteilungsspielraum einräumt, vermeidet man widersprechende Entscheidungen und garantiert Rechtssicherheit. Spätere Entscheider (Krankenkasse, Strafverfolgungsbehörden) sind an die einmal getroffene Entscheidung gebunden. An die Stelle einer materiellen Wertentscheidung durch Gerichte tritt ein prozedurales Verfahren.

Letztlich waren diese Zusammenhänge allen am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten klar. Niemand dachte an eine gerichtliche Überprüfung von Indikationen. Umstritten waren lediglich die inhaltlichen Anforderungen an das Verfahren. Man verhandelte darüber, ob nur ein Arzt oder zwei Ärzte (so der Vorschlag der CDU/CSU BT-Dr. 7/4 211) zu einer eigenverantwortlichen Entscheidung ermächtigt werden sollten Nach Erlaß des Gesetzes versuchten die im Ergebnis Unterlegenen durch offensive Rechtsmeinungen zu verschleiern, daß auch sie ursprünglich von der Notwendigkeit einer normativen Ermächtigung der ÄrztInnen ausgegangen waren. Der Unterschied bestand lediglich darin, daß nach Ansicht der CDU/CSU statt zweier unabhängiger ÄrztInnen ein Gutachtergremium vorgesehen war (so auch Krauss, in: Deutsches Ärzteblatt, Heft 28/ 1978, S.1649 gegen Hiller/ Hiersche a.a.O., S.781).

(7) Urt. vom 5.5.1989 -1 Kls 23 Js 9443 / 86. Zum Memminger Verfahren vgl. Gisela Friedrichsen, Abtreibung, Orelli-Füssli 1989; ferner Pro Familia / Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.), Abtreibung vor Gericht, Dokumentation, G.J. Holztmeyer-Verlag 1989.

(8) Presseinformation der Staatsanwaltschaft Koblenz vom 28.8.1989. Am 21.3.1990 wurde Ergüven zu einer Geldstrafe wegen Betruges verurteilt. Es handelte sich um einen sog. deal zwischen allen Beteiligten, um umfangreiche Zeuginnenvernehmungen zu vermeiden, die den Angeklagten wegen der langen Prozeßdauer wirtschaftlich ruiniert und das Gericht dem Zorn der Öffentlichkeit ausgesetzt hätten. Sachlich konnte in der Hauptverhandlung nur festgestellt werden, daß sich der Angeklagte zu etwa gleichen Teilen bei Abrechnungen zu seinem eigenen bzw. zum Nachteil der jeweiligen Krankenkassen geirrt hatte. Eigentlich hätte er also wegen fehlenden Schadens (Fortsetzungstat — wirtschaftlicher Schadensbegriff / Differenzmethode) freigesprochen werden müssen. Es ist zu vermuten, daß das Abtreibungsverfahren auch im Wege des deals enden wird, was zeigt, welchen Tiefstand die Rechtskultur mittlerweile erreicht hat. Strafverfahren werden nach reinen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten eingeleitet und beendet.

(9) Eine Begründungspflicht wird vertreten von Rudolphi, SK §219 Rd. 5: „ausführliche und begründete Stellungnahme”. A.A. Lackner. In der Praxis würde dies dazu führen, daß intime Daten Personen zugänglich würden, die mit der technischen Abwicklung legaler Schwangerschaftsabbrüche beschäftigt sind, ohne allerdings befugt zu sein, Kenntnis von der Privatsphäre der betroffenen Frau zu erhalten. Diese Konsequenzen werden in den rein dogmatischen Konstruktionen der Kommentarliteratur nicht bedacht.

(10) Die Konstruktion eines subjektiven Rechtfertigungselements der „sorgfältigen Prüfungspflicht” wurde in einem Fahrerfluchturteil vom OLG Stuttgart, MDR 1959, 508, erfunden, um einen Irrtum über den Verzicht des anderen Unfallbeteiligten auf Feststellungen als unbeachtlichen Verbotsirrtum qualifizieren zu können (zum mittlerweile überholten Hintergrund vgl. die aufschlußreiche Urteilsanmerkung von Dahm, MDR 1959, 509).

(11) BVerwG, Urt. v. 15.1.1987, DöV 1987, 546; gegen VGH-Baden-Württemberg, MedR 1985, 232. Eine Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des BVerwG scheiterte Anfang 1988 am Dreier-Ausschuß des VBerfG. Die Folge ist die, daß von den insgesamt 370 zugelassenen Einrichtungen nahezu alle in Hessen, NRW, Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein und Berlin sind, gefolgt von Rheinland-Pfalz und dem Saarland. Bayern, Baden Württemberg; Niedersachsen genehmigen ambulante Einrichtungen nicht.

Im Bayerischen Landtag wurde am 25.11.1988 ein Gesetzentwurf der SPD-Fraktion eingebracht — Dr. 11 / 8 893 (abgelehnt von der CSU-Mehrheit im Ausschuß Sozial-Gesundheitsund Familienpolitik), der sich gegen die aufgezeigten Mißstände richtet. Abhilfe aber kann nur ein Bundesgesetz bringen.

(12) 1972 entschied das BVerG über die Beschlagnahme und Verwertbarkeit von Daten, die die Privatsphäre betreffen, BVerfGE 32, 373. Danach hat das ärztliche Vertrauensverhältnis einen hohen Rang (Verhältnismäßigkeitsprüfung). Betreffen Daten nicht nur die Privatsphäre, sondern die Intimsphäre, können sie nicht beschlagnahmt werden, auch wenn die Ausnahmevorschrift des §97 Abs. 2 S. 2 (Teilnahmeverdacht des Geheimnisträgers) dem Wortlaut nach eingreift, so das LG Saarbrücken in einem BtMG-Fall, Strafverteidiger 1989, 480. Unklar ist allerdings die Rechtsprechung des BVerfG bei Tötungsdelikten, vgl. Kritik an den sich widersprechenden Tagebuchentscheidungen von Amelung, NJW 1988, 1002. Am 23.11.1989 erging eine Patt-Entscheidung des 2. Senats des BVerfG, vgl. SZ v. 24.11.1989 (AZ: 2 BvR 1062/87).

Bei §218-Verfahren ist die Beschlagnahme unzulässig, da es sich nicht um schwere Kriminalität handelt. Bei Verfahren gegen die Frauen ergibt sich dies schon wegen des Eingriffs in die Intimsphäre. Handelt es sich um Verfahren gegen Ärzte ist eine Beschlagnahme von Patientinnenkarteikarten unverhältnismäßig. Aber in der Praxis werden die verfassungsrechtlichen Anforderungen ignoriert bzw. es wird Maßnahmen der Strafverfolgung ein grundsätzlicher Vorrang eingeräumt. Vgl. hierzu G. Bandisch, Mandant und Patient — schutzlos bei Durchsuchung von Kanzlei und Praxis, in: Anwaltsblatt 1987, 436; vgl. ferner J. Wasmuth, Beschlagnahme von Patientenkarteien und Krankenscheinen im Strafverfahren wegen Abrechnungsbetruges beim Arzt, NJW 1989, 2 297; R. Lamprecht, Wieviel ist das Arztgeheimnis noch wert? ZRP 1989, 291.

(13) So der DJB, a.a.O. (Synopse). Interessant ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag von Theissen-Anwalt Dr. Wolfgang Kreuzer, das Beratungsgeheimnis zu schützen, indem man den beratenen Personen — in Umkehrung des Beichtgeheimnisses — ein Zeugnisverweigerungsrecht einräumt, um auf diese Weise beide Seiten gegen inquirierende, Persönlichkeitsrechte mißachtende Strafverfolgungsmaßnahmen zu schützen, vgl. Kreuzer, Brief an die SPD-Fraktion vom 2.10.1989.

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