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Kriegs­richter Schwinge

vorgängevorgänge 10506/1990Seite 124-127

Aus: vorgänge Nr. 105, Heft 3/1990, S. 124-127

Erich Schwinge, am 15. 1. 1903 in Jena geboren, ist einer der interessantesten, wenn auch gewiss nicht der erfreulichsten deutschen Juristen dieses Jahrhunderts. Er war vielleicht kein Nationalsozialist, sondern „nur” ein national empfindender konservativer Mann, der sich tief in die Verbrecher des Naziterrors verstrickt hat. Sein Lebensweg ist ein Beispiel für viele seiner Generation, die in der NS-Zeit schuldig geworden sind. Schwinge war gewiss kein Freißler und doch ist er ähnlich Freißler für Leid und Tod vieler Menschen verantwortlich. Wäre er ein Freißler gewesen, so wäre jedes weitere Wort überflüssig.

Aber gerade deshalb, weil Schwinge eben kein Freißler war, ist es zu begrüßen, dass Detlef Garbe nunmehr in einem kleinen Buch seinen Lebensweg nachgezeichnet hat:

Detlev Garbe: „In jedem Einzelfall … bis zur Todesstrafe”. Der Militärstrafrichter Erich Schwinge. Ein deutsches Juristenleben; Köln (Volksblatt Verlag) 1989, 168 S. , DM 18,- .

Während seines Jurastudiums und auch danach ist Erich Schwinge von dem Strafrechtsprofessor Max Grünhut maßgeblich geprägt worden. Grünhut wiederum war ein Anhänger der „List-Schule”, die, die klassische Strafrechtstheorie durch den Gedanken, dass die Strafe nicht nur Sühne für begangenes Unrecht sein dürfe, sondern, dass auch die künftige Gefährlichkeit des Täters in das Strafmaß einbezogen werden müsse, fortentwickeln wollte. Auf diese Tatsache ist deshalb so großes Gewicht zu legen, weil dieser Gedanke auch heute durchaus lebendig ist, vielen sogar die Abwehr künftiger Gefährdungen als einziger vernünftiger Grund des staatlichen Strafens erscheint. Hier leuchtet die Nähe zu Gedanken der Nationalsozialisten, denen das Strafrecht nicht im Recht verankert war, sondern einzig als Waffe gegen gefährliche „kriminelle” Menschen von Bedeutung war, unverkennbar ist.

Schwinge habilitierte sich 1930 an der Universität Bonn mit einer von Grünhut betreuten Habilitationsschrift über die „Technologische Begriffsbildung” im Strafrecht. Er vertrat in ihr die Auffassung, dass bei einem Widerstreit zwischen dem Wortlaut eines Gesetzes und seiner Zielrichtung, die Zielrichtung dem Wortlaut vorzugehen habe, eine auch heute noch als vertretbar geltende Auffassung. Sie lockerte die Bindung des Richters an das Gesetz und stand im Widerspruch zu dem, unter anderem von Radbruch, einem Sozialdemokraten, vertretenen Rechtspositivismus, der die Bindung des Richters an das Gesetz betonte. Radbruch hatte hierbei im Sinn, dass es leichter sei, im Reichstag, also im Bereich des Gesetzgebers, als in der Richterschaft eine Mehrheit für fortschrittliche Rechtspolitik zu gewinnen; Radbruch wollte durch den Rechtspositivismus so ein fortschrittliches Recht gegen eine konservative Richterschaft durchsetzen. Nach dem letzten Weltkrieg ist — auch von Radbruch selbst — dieser Rechtspositivismus mit dafür verantwortlich gemacht worden, dass die deutschen Richter unbedenklich auch nach verbrecherischem Nazirecht entschieden haben. Der Fall Schwinge zeigt indessen exemplarisch, dass auch ein durch seine wissenschaftliche Arbeit ausgewiesener Gegner des Rechtspositivismus dem Unrechtssystem zu dienen bereit war und dass der Positivismus als Entschuldigung für das Versagen der deutschen Justiz wenig taugt.

Das erste „persönliche Ordinariat für Straf recht” erhielt Schwinge zum Wintersemester 1932/33 an der Universität Halle, also noch vor 1933. Bereits am 23. Mai 1933 schwenkte Schwinge in einem Vortrag vor der Gefängnisgesellschaft für die Provinz Sachsen und Anhalt (49. Jahrbuch dieser Gesellschaft, Halle, 1933, 5. 17 – 35) auf die neue Linie in einem Vortrag über die „Gegenwärtige Lage der Strafrechtspflege” ein: „Die Frage, welche Funktion die Strafe hat und wie einzelne Rechtsgüter, als z.B. Nation, Ehre, Religion, Sittlichkeit zu schützen sind, kann nur auf Grund eines bestimmten Welt- und Gesellschaftsbildes sicher und eindeutig beantwortet werden, niemals aber, wenn heterogene Lebens- und Staatsauffassungen miteinander im Streite liegen. Der Richter muss sich als Vollstrecker eines einheitlichen Willens fühlen, er muss einen Rückhalt in der staatsbejahenden Gesinnung der Mehrheit des Volkes haben, er darf sich nicht einem Pluralismus der Standpunkte gegenüber fühlen.”

Vielleicht ist dies ein Kernsatz des Denkens nicht nur von Schwinge, sondern konservativer Juristen überhaupt. Eine Autorität muss die Richtung bestimmen, als ausführende Werkzeuge stehen die Juristen alsdann bereit.

1936 wurde Schwinge als Professor an die Universität Marburg berufen. Hier widersetzte er sich 1937 in einem gemeinsam mit Zimmerl herausgegebenen Buch: „Wesensschau und konkretes Ordnungsdenken im Strafrecht” der sogenannten Kieler Schule (Friedrich Schaffstein und Georg Dahm), die in Konsequenz der Gedanken der List-Schule versuchte, die Bedeutung des Tatbestandes im Strafrecht aufzulösen und nach der „Gesinnung des Täters” zu fragen. Schwinge und Zimmerl erkannten in diesen Lehren das Ende der Rechtssicherheit und die Herrschaft der Willkür. Diese Verteidigung der klassischen Strafrechtsdogmatik war damals ein mutiger Schritt, hatten doch die Kieler Strafrechtsprofessoren bewusst ein Einfallstor nationalsozialistischer Gedanken in Strafrecht zu öffnen versucht.

Schon ein Jahr zuvor hatte Schwinge das Thema seines Lebens gefunden und die erste Auflage seines Kommentars zum Militärstrafgesetzbuch vorgelegt, der in sechs Auflagen erscheinen sollte und vielen Soldaten den Tod gebracht hat. Dieser Kommentar liest sich noch heute mit Gewinn, wenn auch mit Entsetzen und Ekel. Er belegt, dass jede Kriegsgerichtsbarkeit zwar im Bereich der Alltagskriminalität eine mal gute, mal schlechte, aber immer der zivilen Strafgerichtsbarkeit vergleichbare Form der Rechtspflege, im Bereich der militärischen Delikte — Fahnenflucht, Gehorsamsverweigerung, Wehrkraftzersetzung — jedenfalls im Kriege ein Terrorinstrument im Dienste militärischer Zwecke ist. Im Nürnberger Juristenurteil, gefällt in einem der Nachfolgeverfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher, ist deshalb bildhaft von dem „Richter mit dem Dolch in der Robe” die Rede.

Nach Schwinge hatte die Kriegsgerichtsbarkeit wesentlich die Aufgabe, die „Schlagkraft der Truppe”, die „Mannszucht” gegen „Drückeberger” und andere „Psychopathen”, auch gegen „Wehrkraftzersetzung” zu verteidigen. „Mannszucht” ist einer der Lieblingsbegriffe von Schwinge. Der Name klingt zunächst ein wenig romantisierend anheimelnd. Dieses Gehalts entkleidet bedeutet er nichts anderes als unbedingter Gehorsam des Soldaten gegenüber dem Offizier. Am Deutlichsten wird dieses bei der Behandlung der Notwehr des Soldaten gegenüber Angriffen von Offizieren. Hier will Schwinge das Notwehrrecht des Gesetzes einschränken: „Durch die Abwehrhandlung des Untergebenen wird nicht nur die Person des Vorgesetzten, sondern immer auch die in ihr verkörperte Staatsautorität und die militärische Mannszucht getroffen, deshalb geht es nicht an, dass der Angriff seitens eines Vorgesetzten mit aktiver Gegenwehr seitens des Untergebenen beantwortet wird.” … „Ist freilich der Angreifer ein Untergebener oder ein Zivilist, so ist der Angegriffene regelmäßig nicht verpflichtet, sich auf einen Ringkampf einzulassen, besonders wenn er das Ansehen der Wehrmacht mit zu verteidigen hat. Dann kann er sofort von seiner Waffe Gebrauch machen: “ (Kommentar MStGB(5) 1943, S. 105; Hervorhebung im Original)

1940, zu Beginn des 2. Weltkrieges, wechselte Schwinge von der Universität in Marburg an die Universität in Wien und verteidigte dort die Heimat als Kriegsgerichtsrat der Reserve beim Gericht der Division Nr. 177. In Wien verbrachte er mit kurzen Abstechern nach Frankreich, Belgien und die Sowjetunion den Krieg — persönlich ungefährdet.

Erst im März 1944, als die Sowjettruppen auch auf Wien vorrückten, zog es ihn an die Front in Oberitalien. Gegen das Streben, für die eigene Person die Gefahren des Krieges zu meiden, wäre nichts einzuwenden, hätte Schwinge nicht unnachsichtig Härte gegen Soldaten gefordert und selbst praktiziert, denen „Feigheit vor dem Feinde” vorzuwerfen war. Soweit bekannt, hat Schwinge allein zwischen Januar 1944 und Februar 1945 als Ankläger neun Todesurteile beantragt und als Richter sieben Todesurteile verhängt. Schwinge selbst, so beredet er auch nach dem 2. Weltkrieg war, hat sich nie zu der Zahl der Todesurteile geäußert, für die er verantwortlich ist.

Abstrakt hat er jedoch nach dem Kriege die Todesurteile der Kriegsrichter verteidigt: „Die 10000 bis 12000 Todesurteile waren — das darf man nicht vergessen — der Preis dafür, dass Westeuropa vor bolschewistischer Überflutung bewahrt blieb.“ (Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Nation Europa, Heft 30, 1980, S. 44)

Nach dem Weltkrieg kehrte er an die juristische Fakultät der Universität in Marburg zurück. Es soll nicht verschwiegen werden, dass er hier ein hohes Ansehen genoss. Ich habe selbst mit Studentinnen und Studenten gesprochen, die ihn als Hochschullehrer gehört hatten. Sie kannten Schwinges Vergangenheit nicht und konnten sich überhaupt nicht vorstellen, dass die Hände des verehrten Lehrers blutbefleckt waren. Mir ist dieser Punkt deshalb wichtig, weil er beweist, dass Schwinge vielleicht auch ohne die Nationalsozialisten ein Nationalist, aber nicht zur Symbolfigur einer Justiz geworden wäre, die vielen als verbrecherisch erscheint. Das literarische Schaffen von Schwinge nach dem Weltkrieg war durch die Entwicklung nationalistischer Positionen, noch mehr aber durch die Verteidigung der Kriegsgerichtsbarkeit gekennzeichnet. Ich will darauf im einzelnen nicht eingehen. Wichtig ist mir jedoch, dass an keiner Stelle Reue oder auch nur Nachdenklichkeit durchscheint.

So ist Schwinge der Prototyp des bürgerlichen Wissenschaftlers, der zu allem fähig ist, zum Guten, wie zum Bösen und dessen Gefühl und Verstand unfähig sind, Gut und Böse zu unterscheiden. Die Grenzen zwischen einem bürgerlichen Nationalisten und einem Nationalsozialisten verwischen sich; hier steht er nicht allein!

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