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Eine neue Verfassung für Deutschland

Aus: vorgänge Nr. 105, Heft 3/1990, S 87-88

Der bevorstehende Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten bietet die einmalige Chance, in freier Selbstbestimmung nach Art. 146 Grundgesetz eine gemeinsame neue Verfassung für den entstehenden Bund Deutscher Länder zu schaffen, die den Bedürfnissen mündiger Bürgerinnen und Bürger in einem demokratischen Rechtsstaat Rechnung trägt.

Die Humanistische Union lehnt einen Anschluss der Deutschen Demokratischen Republik an die Bundesrepublik nach Art. 23 Satz 2 des Grundgesetzes ohne Schaffung einer neuen Verfassung ab. Dies würde ein Überstülpen der Rechtsordnung der BRD auf die DDR bedeuten, die sich in 40 Jahren eigenständig entwickelt hat. Die Bevölkerung der DDR hat einen Anspruch auf Respekt vor ihren selbst entwickelten Vorstellungen. Die wirtschaftliche Überlegenheit der BRD darf nicht dazu missbraucht werden, die hiesige Rechtsordnung der DDR rücksichtslos aufzuzwingen; die DDR ist keine Kolonie der BRD.

Vielmehr gilt es, die Gelegenheit der Bildung eines einheitlichen föderalen deutschen Staates zu nutzen, um Bewährtes aus beiden deutschen Teilstaaten zu übernehmen und demokratische, soziale und rechtsstaatliche Defizite abzubauen.

Die Humanistische Union fordert die Wahl zu einer verfassunggebenden Bundesversammlung, in der Männer und Frauen je zur Hälfte vertreten sind. Dies ist auch der vom Grundgesetz in Art. 146 selbst vorgezeichnete Weg für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten und der alleinige Weg, auf dem die Bürgerinnen und Bürger der DDR ihre in der sanften Revolution entwickelten politischen Überzeugungen in den neuen deutschen Gesamtstaat einbringen können. Eine an die Bundesversammlung anschließende Abstimmung der gesamten Bevölkerung würde einen wirklich demokratisch legitimierten Gesamtstaat schaffen. Diese neue Verfassung darf nicht hinter das Grundgesetz zurückfallen, sondern muss einen auf Toleranz, Sozial- und Rechtsstaatlichkeit gegründeten Staat weiterentwickeln. Sie muss insbesondere folgenden zusätzlichen Anforderungen entsprechen:

  1. Friedensstaatlichkeit und Umweltschutz müssen als Grundlagen des Staates zusätzlich in die Verfassung aufgenommen werden.
  2. Niemand darf zu Wehr- oder Ersatzdienst verpflichtet werden.
  3. Die Grundlage eines jeden demokratischen Staates ist der Wille der Bevölkerung. Deshalb müssen ihre Gestaltungsrechte gestärkt und Volksbegehren sowie Volksentscheid in der Verfassung verankert werden, Das Wahlrecht steht allein im Staatsgebiet lebenden Männern und Frauen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit zu.
  4. Der Staat hat in allen Meinungs- und Glaubensfragen neutral zu sein. Die Trennung von Staat und Kirche muss daher ebenso gewährleistet werden wie die freie vom Staat unbeeinflusste Religionsausübung; Religion ist Privatsache.
  5. Der Schutz der Privatheit muss ausgebaut werden. Hierzu ist auch die Erweiterung des Datenschutzes erforderlich. Verfassungsschutz- und Staatssicherheitsbehörden haben in dem neuen deutschen Staat keinen Platz. Nicht der Bürger muss kontrolliert werden, sondern die Ausübung öffentlicher Gewalt. Die Humanistische Union fordert eine gläserne Verwaltung, soweit die Privatheit keine Einschränkungen erfordert.
  6. Zum Schutz der Privatheit gehört auch die Achtung vor der Entscheidung der Frau, ob sie eine Schwangerschaft austragen will oder nicht. Gerade hier ist jede Bevormundung durch Staat und Kirchen unerträglich. Der Staat hat geborenes Leben zu schützen – nicht aber dafür zu sorgen, dass möglichst viel Leben geboren wird.
  7. Ein demokratischer Rechtsstaat lebt vom Engagement seiner kritischen Bürger und nicht von einem verfassungsrechtlich garantierten Beamtentum. Für seine Amts- und Funktionsträger gelten Verfassung und Gesetze wie für die gesamte übrige Bevölkerung.
  8. Die Möglichkeit jedes einzelnen, gegen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt unabhängige Gerichte anzurufen, muss uneingeschränkt wiederhergestellt werden (Rückkehr zu Art. 19 Abs. 4 GG in der ursprünglichen Fassung).
  9. Der schon heute im Grundgesetz angelegte Sozialstaat ist so auszubauen, dass Staatsziel auch die Verschaffung eines Arbeitsplatzes, von ausreichendem Wohnraum und von gleichen Bildungschancen für jeden wird.
  10. Der neue deutsche Staat beschränkt sich auf die heutigen Grenzen von BRD und DDR und setzt sich eine Überwindung der Grenzen in einer gesamteuropäischen Friedensordnung zum Ziel.
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