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Effek­ti­vität und Effekte der Ämter für "Verfas­sungs­schutz"

vorgängevorgänge 11208/1991Seite 11 - 18

Anmerkungen zur „Neuregelung des Verfassungsschutzes in Niedersachsen“

Vorgänge 112, S. 11 – 18

Aus Anlass der Vorlage eines „Entwurfs zur Neuregelung des Verfas­sungs­schutzes im Lande Nieder­sachsen“ lud die rot-grüne Regie­rungs­ko­a­li­tion Nieder­sach­sens zum 13. Juni 1991 in den Landtag. Dabei wurde bei einer Anhörung zum „Verfas­sungs­schutz“ bundesweit erstmals praktiziert, was bei Anhörungen zu Gesetzen, die Behör­den­praxis regeln sollen, ansonsten längst Usus geworden ist: nämlich auch die Klienten der jeweiligen Behörde um Stellung­nahmen zu bitten. So waren unter anderem die „Huma­nis­ti­sche Union“ sowie die Redaktion „Bürger­rechte und Polizei (CILIP)“ gebeten worden, ihre Positionen zu formulieren – zwei Gruppie­rungen, die immer wieder das Interesse der Ämter für „Verfas­sungs­schutz“ gewonnen haben.[1]

Indes fiel die Anhörung nicht nur aus diesem Grunde aus dem Rahmen, sondern gleichermaßen auch durch das, was nicht angesprochen werden sollte. Sie war, wie dem Fragenkatalog zu entnehmen, als Diskussion über Rechtsfragen des „administrativen Verfassungsschutzes“ angelegt. Eine solche Vorgabe setzt allerdings als Bestandsfest voraus, worüber doch zu aller erst auf dem Hintergrund von nunmehr vierzig Jahren Erfahrungen mit Ämtern für Verfassungsschutz und angesichts eines dramatischen historischen Wandels hätte diskutiert und gestritten werden müssen: Nämlich die Frage, ob das Konzept einer streitbaren Demokratie „von oben“ mit seinem verbeamteten „Verfassungsschutz“, entstanden im Kalten Krieg als Abgrenzung zum Faschismus und zur DDR, als Form des Selbstschutzes einer demokratischen Ordnung überhaupt noch zeitgemäß ist. Während inzwischen selbst hochrangige ‚Verfassungsschützer“ darüber brüten, welche Konsequenzen aus dem Ende des Kalten Krieges und der Spaltung Deutschlands für die „Ämter“ zu ziehen sind und sich auf die Suche nach neuen Aufgaben für ihre Behörde begeben[2], legte der zur Anhörung verschickte Katalog an Fragen die eingeladenen Experten und Klienten des „Verfassungsschutzes“ auf die Diskussion rechtlicher Detailregelungen fest.

Von der enumerativen Aufzählung nachrichtendienstlicher Mittel und der halbwegs gestärkten Stellung des Landtages bei der Kontrolle des Landesamtes für „Verfassungsschutz“ abgesehen, ist der Entwurf Niedersachsens für ein neues „Verfassungsschutzgesetz“ nahezu eine Abschrift des zu Beginn dieses Jahres in Kraft getretenen neuen Bundes-Verfassungsschutzgesetzes.

Der folgende Text ist die leicht überarbeitete Fassung der schriftlichen Stellungnahme der Redaktion „Bürgerrechte & Polizei (CILIP)“. Ihre Bezugspunkte sind, von einer kleinen verfassungsrechtlichen Korrektur abgesehen, die der Effektivität, des Kosten-Nutzen-Kalküls und schließlich intendierte und ungewollte Effekte von Institutionen, die ihre eigene Dynamik entfalten, sind sie erst einmal in die Welt gesetzt.

Grund­ge­setz-Kennt­nisse „mangelhaft“

Bevor über die Effektivität und die Effekte von Ämtern für „Verfassungsschutz“ zu sprechen ist, eine notwendige Korrektur: In der Begründung zum niedersächsischen Verfassungsschutz-Gesetz heißt es, daß Niedersachsen „die Organisation als auch die Arbeitsweise“ eines Verfassungsschutzamtes „auf der Grundlage des Artikels 73 Nr. 10 GG“ zu unterhalten habe. Diese Behauptung verweist auf eine bedenkliche Unkenntnis des Grundgesetzes. Denn bereits ohne eine Verfassungsänderung ist es verfassungsrechtlich möglich, auf entsprechende Ämter zu verzichten. Art. 87, Abs. 1 des Grundgesetzes besagt: „Durch Bundesgesetz können … Zentralstellen … zur Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes … eingerichtet werden“. Ämter für „Verfassungsschutz“ sind also nicht als Pflichteinrichtungen statuiert, sondern ihre Installation ist in Form von Kann-Vorschriften oder Kann-Ermächtigungen nur zugelassen. Zu prüfen ist nur, ob das BVerfSchG angesichts Art.73, Abs. 10 GG (die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes) die Länder so verbindlich zur Vorhaltung von Verfassungsschutzbehörden verpflichtet, daß zunächst dieses Gesetz zu ändern respektive aufzuheben wäre.

Der „büro­kra­ti­sche Teufels­kreis“bei der Behör­den-Re­form

Nach dieser Richtigstellung eine Bemerkung zur Anhörung selbst, die ein exemplarisches Beispiel für das ist, was in der Organisationssoziologie als „bürokratischer Teufelskreis“ bezeichnet wird.[3]

Anders als Unternehmen, die um den Preis des Untergangs ständig auf ihre Umwelt reagieren müssen, besitzen die Behörden der öffentlichen Verwaltung eine Art politische Bestandsgarantie, da sie nicht unmittelbar von der Zufriedenheit ihrer Klienten abhängen. Die Lernunfähigkeit und Leistungsmängel, speziell auch die nicht intendierten Effekte bürokratischen Handelns, führen bei Adressaten und Klienten schließlich zu massiver Kritik und Legitimationsentzug nicht nur gegenüber der Bürokratie, sondern in einem demokratischen System vor allem gegenüber den verantwortlichen Politikern. Entsprechend sehen sich die Politiker ab einem gewissen Zeitpunkt gezwungen, häufig ist dieser Zeitpunkt mit dem Wechsel von Regierungskoalitionen verbunden, auf die Unzufriedenheit ihrer Klientel zu reagieren. Der aus sich selbst heraus reformunfähigen Bürokratie wird per Anweisung eine Reform aufgezwungen, im Normalfall wird das normative Regelungswerk für die Bürokratie stärker formalisiert und ausgebaut. An der Bestandsgarantie der Verwaltung selbst wird im Regelfall nichts geändert. Die nächste Welle von Skandalen und erneuter politischer Druck seitens der Klientel führt dann zur nächsten „Reform per Dekret“. Von außen wirken die derzeit in Niedersachsen von der rot-grünen Koalition eingeleiteten „Reformen“ beim LfV wie eine Illustration dieses bürokratischen Teufelskreises. Denn auch in diesem Bundesland ist es nicht nur das Verdikt des Bundesverfassungsgerichts im Volkszählungsurteil, welches eine politische Befassung mit dem LfV erzwingt. Vielmehr sind es die insbesondere im letzten Jahrzehnt an die Öffentlichkeit gedrungenen „Früchte“ politischer Eigendynamik eines unter konsequentem Ausschluß der Öffentlichkeit operierenden Inlandsgeheimdienstes. Zwei Untersuchungsausschüsse des Niedersächsischen Landtages hatten sich in den letzten Legislaturperioden damit zu beschäftigen.[4]

Das Interesse am Erhalt der Organi­sa­tion beim Wegfall respektive der Reduzierung der Klientel

Im privatwirtschaftlichen Sektor erzwingt die reduzierte Nachfrage um den Preis des ökonomischen Untergangs Anpassungen bis hin zum völligen Kapazitätsabbau. Wir erleben es gerade in den fünf neuen Bundesländern.

Im öffentlichen Sektor, für den es nicht so direkt durchgreifende Mechanismen gibt, die bei reduzierter oder gegen Null gehender Nachfrage zu automatischen Anpassungen führen, wird hingegen der Versuch unternommen, den Kapazitätsabbau möglichst zu verzögern. Denn Organisationen sind mehr als bloßes Handwerkszeug, das man beiseite legen oder verschrotten kann, wenn es nicht mehr benötigt wird oder nicht mehr zeitgemäß ist. Die Organisationsmitglieder identifizieren sich mit den Zielen, vom Erhalt der Organisation hängen Positionen und Berufskarrieren ab. Man beginnt, sich länger und intensiver mit jedem „Fall“ zu beschäftigen – so entlassen Krankenhäuser bei schlechter Bettenauslastung ihre Patienten später – oder man dehnt das eigene Aufgabenfeld aus bis zu dem Punkt, da völlig neue Aufgaben gesucht und beansprucht werden. Die Diskussion um eine mögliche neue Rolle der Ämter für Verfassungsschutz bei der Bekämpfung des Drogenhandels und der Wirtschaftskriminalität, beim internationalen Waffenhandel etc. ist beispielhaft für das, was in der Organisationssoziologie „goal displacement“ genannt wird – d.h. der Austausch von Organisationszielen zum Zwecke des Organisations- / Ämtererhalts. Ob die Organisationsstruktur neuen Organisationszielen angemessen ist, wird nicht gefragt oder trotzig behauptet.

Die Effizienz

Was bei diesen Versuchen meist geflissentlich unterschlagen wird, ist auszuweisen, welche Ursachen dazu geführt haben, daß Aufgaben einer Behörde so schrumpfen, daß auch der gutwilligsten Öffentlichkeit nicht mehr ihr Fortbestand mit alten Aufgaben und Kapazitäten zugemutet werden kann. Konkret gefragt:

—  War die überproportionale Festnahme von Spionen im letzten Jahr – u.a. im niedersächsischen LfV – ein Erfolg der Ämter für Verfassungsschutz?

—  War der Zusammenbruch der DKP und damit der gegen Null reduzierte Einfluß des „orthodoxen Marxismus“ ein Ergebnis gesteigerter Leistungsfähigkeit der LfVs bei der Extremistenbekämpfung?

—  War es die besondere Leistungsfähigkeit der LfVs im Rahmen der Terrorismus-Bekämpfung, die 1990 zu den größten Fahndungserfolgen der letzen zwanzig Jahre führte?

Wenn diese Fragen mit „nein“ beantwortet werden müssen, es also nicht die Leistungsfähigkeit der „Ämter“, sondern externe Faktoren waren, die zu diesen Ergebnissen führten, so spricht nichts dafür, eine so ineffektive Behörde weiterzuführen. Dies umso weniger, nachdem „die Gegner“ ohne Beitrag der Ämter zur quantite negligeable geworden sind, präziser, ausschließlich dem Gegner alle Erfolge des letzten Jahres zu danken sind.

Ob eine Organisation zweckmäßig und leistungsfähig ist, läßt sich umso weniger präzise analysieren, je unspezifischer die Ziele formuliert sind. Daher soll die Leistungsfähigkeit der „Ämter für Verfassungsschutz“ hier zunächst an einem Ziel gemessen werden, das nicht so unspezifisch definiert ist wie die „Sammlung und Auswertung von Informationen … über Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung … gerichtet sind“. Viel-mehr sollen relativ präzise strafrechtliche Tatbestände als Bezugspunkte der Effizienz-Analyse herangezogen werden: Die Staatsschutzdelikte.

Zwar sollen die LfVs gerade im Vorfeldbereich strafrechtlich relevanter Angriffe operieren. Dies soll jedoch auch mit dem Ziel erfolgen, in diesem Bereich sich entwickelnde, auch strafrechtlich relevante Handlungen zu erkennen, um gemäß der vor Inkrafttreten des neuen BVerfSchG geltenden „Zusammenarbeitsrichtlinien“ auch die Strafverfolgungsorgane zu informieren.

Seit 1960 gibt das BKA eine als VS (Nur für den Dienstgebrauch) klassifizierte Sonderstatistik „Polizeiliche Kriminalstatistik: Staatsschutzdelikte“ heraus. Sie erfaßt Staatsschutzdelikte u.a. unter der Frage, wie das erfaßte Ermittlungsverfahren entstanden ist, also wer den Strafverfolgungsbehörden die ersten Informationen geliefert hat, die zu einem Ermittlungsverfahren geführt haben.

Zur Interpretation der Tabelle einige Hinweise: Die hier erfaßten Staatsschutzdelikte umfassen die gesamte Palette der Staatsschutzdelikte, d.h. vom Friedens- und Hochverrat (§§ 80-83 StGB), über die Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates (§§ 84-86a, 88-91 StGB), Verschleppung (§ 234a StGB), politische Verdächtigung (§ 241a StGB), Straftaten gegen ausländische Staaten (§§ 102-104 StGB), Straftaten gegen Verfassungsorgane (§§ 105-108b StGB), Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit (§§ 94-100a StGB), Agententätigkeit zu Sabotagezwecken (§ 87 StGB), Straftaten gegen

Entstehung der Staatsschutzverfahren in Niedersachsen 1975-19855

Jahr Anzahl der Davon auf Hinweis eines Verfahren Nachrichen-Dienstes

 

Absolut

in % aller

Verfahren

1975

285

3

1,1 %

1976

385

 

0,0 %

1977

663

4

0,6%

1978

773

3

0,4 %

1979

785

4

0,5%

1980

1027

5

0,5%

1981

1990

6

0,3%

1982

1797

6

0,3%

1983

1234

7

0,6%

1984

1695

5

0,3%

1985

1603

2

0,1%

die

Landesverteidigung

(§§

109-109h StGB),

Straftaten gemäß 129a StGB (terrorist. Vereinigung) und sonstige Straftaten mit politischem Bezug. In der Spalte „Auf Hinweis eines ND -Dienstes“ sind nicht nur Hinweise des niedersächsischen Amtes für Verfassungsschutz erfaßt, sondern Hinweise „aller ND -Dienste“ der Bundesrepublik.

Unter Gesichtspunkten der Effizienz fällt diese interne Statistik des BKA ein vernichtendes Urteil über die Leistungsfähigkeit nicht nur des niedersächsischen „Verfassungsschutzes“, sondern der bundesdeutschen Geheimdienste insgesamt, was ihren Beitrag zur Entdeckung und strafrechtlichen Verfolgung von Staatsschutzdelikten betrifft. So gibt es für die Ämter verständlichen Anlaß, diese Daten als VS (Nur für den Dienstgebrauch) zu klassifizieren.

In Zahlen: In 11 Jahren wurden in Niedersachsen von den Nachrichtendiensten ganze 45 Hinweise in Staatsschutzangelegenheiten an die Strafverfolgungsbehörden gegeben, d.h. im Jahres-Durchschnitt vier Fälle. Da im selben Zeitraum im Durchschnitt nur zwischen dreißig und vierzig Prozent aller Staatsschutzdelikte von der Polizei aufgeklärt wurden[6], muß dieses bescheidene Ergebnis noch mehr als halbiert werden. Schließlich erweisen sich nur zwischen zehn bis fünfzehn Prozent aller von der Polizei als aufgeklärt erfaßten und an die Staatsanwaltschaft weitergeleiteten Fälle als so „gerichtsfest“, daß sie zu einer Verurteilung führen. Berücksichtigt man diesen sogenannten Kriminalitätsschwund, so leistet daß niedersächsische Landesamt für „Verfassungsschutz“ vermutlich nur alle drei oder vier Jahre einen staatsschützerischen Beitrag, der mit der Verurteilung eines Täters endet.

„Patho­lo­gi­sche Überre­ak­ti­onen“

Die Organisationssoziologie beschäftigt sich schon seit langem mit dem Problem von Kapazitätsüberhängen in öffentlichen Institutionen und hat als eine unter Umständen besonders gefährliche Strategie der Bewältigung von Überkapazitäten „pathologische Überreaktionen“ entschlüsselt.[7] Der Landtag von Niedersachsen hat in seinem Untersuchungsbericht zum „Celler Loch“, ohne sozialwissenschaftlich geschult zu sein, für dieses Phänomen eine exemplarische Studie vorgelegt. Als „pathologische Überreaktionen“ in Erinnerung zu bringen sind schließlich auch die mehr als fragwürdigen Operationen des LfV in der rechtsradikalen Szene. Ich erinnere an den V-Mann Hans-Dieter Lepzien, der sich mit der Hoffnung auf Straferlaß 1980 anläßlich einer Gerichtsverhandlung selbst enttarnte, gleichwohl aber zu 3 1/2 Jahren Haft verurteilt wurde, so daß das LfV die Revision beim BGH betreiben und Anwaltskosten übernehmen mußte. Als dies nicht hinreichende Erfolge für den V-Mann brachte, setzte sich das niedersächsische Landesamt für Verfassungsschutz erfolgreich beim Bundespräsidenten für eine Entlassung auf Bewährung ein.[8] Daran gemessen ist die Tatsache, daß u.a. die „Humanistische Union“ und die niedersächsische Regionalgruppe von „amnesty international“ das freudige Interesse des LfVs gefunden haben – von Kabarettisten ganz abgesehen – vergleichsweise harmlos.

So wenig Erfolge das LfV bei der Entdeckung „gerichtsfester“ Staatsschutzdelikte nachweisen kann, umso erfolgreicher ist es offenbar beim internen Sortieren von Freund und Feind.

Externe Effekte

Bei sonstigen Behörden der Leistungsverwaltung mag es zwar teuer, aber zumindest nicht demokratieabträglich sein, wenn sie sich die Arbeit ständig neu schaffen, die sie zur Rechtfertigung ihrer Existenz benötigen und nachzuweisen haben. Bei Behörden aus dem staatlichen Arkan-Bereich, bei denen der Sicherung und Kontrolle, wird ein solcher Automatismus demokratiebedrohlich. Sie sind gezwungen, in für Demokratien existenzgefährdender Weise zu dramatisieren, Gefährdungen gar zu produzieren, so daß das Instrument der Sicherung zur Gefahr für das zu Sichernde werden kann.

In den vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegebenen „Analysen zum Terrorismus“ hat der Sozialwissenschaftler Neidhardt die Entwicklung terroristischer Gruppen in einem Eskalationsmodell beschrieben, demzufolge sich alle Beteiligten (bei Neidhardt vorderhand die Mitglieder terroristischer Gruppen) in einem Prozeß zirkulärer Interaktionen in Richtung wachsender Abweichung verstärkten.[9] F. Sack, gleichfalls Mitglied dieser Forschergruppe, hat das Modell in einer Fallstudie erweitert als Interaktionsprozeß zwischen Protestgruppen und jenen, die politischen Protest zu kontrollieren und in die rechten Bahnen zu leiten haben, also Polizei und Ämter für Verfassungsschutz. Im analytischen Ergebnis kommt er zu identischen Konsequenzen: alle am Interaktionsprozeß beteiligten Gruppen bestärken sich wechselseitig im abweichenden Verhalten. [10]

Für Niedersachsen zu verweisen ist erneut nicht nur auf das „Celler Loch“, sondern gleichermaßen auf die Entwicklungen im ordinären kriminellen Milieu und dessen professionelle Gegner, also die in diesem Bundeslande besonders kräftigen Spuren eines Herrn Mauss. Die Nicht-Sanktionierung der Rechtsbrüche jener niedersächsischen Beamten von Polizei und LfV, die in diesen Operationen verwickelt waren, bleibt ihrerseits nicht ohne motivstiftende Effekte für jene, die Objekt des Interesses dieser Behörden sind und in ihrer Haltung bestärkt werden. Wer – wie die alte und unlängst die neue Landesregierung in Niedersachsen – öffentlich vorführt, daß Amtsinhaber für ihre Delikte „sanktionsimmun“ gesetzt werden, sollte wissen, daß diese politische Botschaft Effekte zeitigt: innerhalb von Polizei und Verfassungsschutz, aber auch bei der Klientel.

Kontrol­lim­mu­nität als Quelle von Amtsde­likten

Die Gefahr des Abgleitens in kriminelle Überschreitungen eigener Kompetenzen und damit der Gefährdung des zu Schützenden gilt umso mehr, wenn die sichernden Behörden im Dunkel der Geheimhaltung „der Natur der Sache nach“ zu operieren gewöhnt sind, öffentliche Kontrolle mangels sichtbarer Präsenz des „Verwaltungshandelns“ nicht greifen kann und die Kontrollinstitutionen nur ex post informiert werden – wenn überhaupt.

Die Vereitelung der Strafververfolgung und Sachaufklärung im Berliner „Schmücker -Mordfall“ durch die „Ämter für Verfassungsschutz“ – das Niedersachsens eingeschlossen – ist nur ein besonders extremer Fall unter jenen, die bekanntgeworden sind.

Hinzuweisen ist auch auf die Polizeiliche Kontrollkommission Niedersachsens, die „selbstverständlich“ über das Celler Loch nur im nachhinein informiert wurde. Deshalb, und da sie selbst nicht an die Öffentlichkeit gehen darf, ist sie zu einem krypto -bürokratischen Kollegialorgan für das LfV verdorrt und erfüllte nur legitimationsbeschaffende Funktionen für das LfV. Solange Öffentlichkeit aus der Kontrolle bürokratischen Verwaltungshandelns ausgeschlossen ist – und hier schaffen die neuen Kontrollbefugnisse des niedersächsischen VerfSchG-Entwurfes vom Prinzip keinen Durchbruch -, ändert sich die demokratieabträgliche Grundsituation nicht.

Man mag dieses Defizit als Preis einer dadurch besonders hohen Effizienz der Behörde unter Umständen zu zahlen bereit sein. Nur, im Jahresdurchschnitt zwei von der Polizei als aufgeklärt registrierte Staatsschutzdelikte auf Grundlage von Meldungen der LfV stehen jedenfalls so außer Verhältnis zu den Amtsdelikten, die dafür in Kauf genommen werden, daß das Kosten-Nutzen-Kalkül eindeutig ist.

Die obliga­to­ri­sche Paranoia klandes­tiner Bürokratien als Quelle von Amtsde­likten

Die beruflich aufgezwungene Trennung von der Alltagswirklichkeit, das professionelle Mißtrauen in die Lauterkeit der Mitbürger, der Zwang zum ständigen Verstellen führt im Ergebnis dazu, daß die Erwartungen der Geheimdienstler für ihr eigenes Handeln eine größere Rolle spielen als jene Realität, auf die sich die Erwartungen richten. Sie werden lernresistent, empirie„immun“. Erwartungen aber steuern mehr denn rechtliche Kodifizierungen Handlungsbereitschaften und Wahrnehmungsprozesse.

Phillip Knightly, Geheimdienstkenner von internationaler Reputation, hat dies in folgende Worte gefaßt: „Der springende Punkt ist, daß Leute, die beim Geheimdienst arbeiten, immer Gefahr laufen, ein Opfer destruktiver Phantasien zu werden und überall Verschwörungen zu wittern … Der neue Mitarbeiter lernt, keinem Außenseiter zu trauen und stellt bald fest, daß er sich nur noch unter seinesgleichen gehen lassen kann … Die Außenwelt wird immer ferner, ihre Realitäten immer unwichtiger … Gleichzeitig unterliegt die Persönlichkeit des Geheimdienstlers erheblichen Belastungen … Mit der Trennung von der Alltagswirklichkeit geht die, um den Ausdruck der Geheimdienstler zu benutzen, ,obligatorische Paranoia‘ einher.“[11]

Politische Camouflage

Die strukturelle Lernunfähigkeit und die demokratieabträglichen Pathologien von „totalen Institutionen“, die – wie Geheimdienste – von der Gesellschaft radikal sozial isoliert sind, lassen sich in ihren Konsequenzen nicht über neue gesetzliche Normierungen lösen. Ist es schon generell ein Gemeinplatz unter Bürokratiepraktikern wie -forschern, daß stärker als durch den „first code“ formaler Regelungen Bürokratien vorderhand durch den „second code“ informeller Regelungen und Interressen gesteuert werden, so gilt dies umso mehr für Apparate, die nahezu ausschließlich selbst darüber zu entscheiden haben, welche Aspekte ihres Agierens sichtbar und damit kontrollfähig werden.

Der Klientel dieser Ämter neue gesetzliche Regelungen anzudienen, die am strukturellen Status geheimdienstlich operierender Apparate nichts ändern, ist kaum mehr denn Camouflage. Diesen Weg hat auch die niedersächsische Koalition in dieser Frage bisher beschritten. Klientengruppen und als Personen ausmachbare Klienten des LfVs einzuladen, bleibt eine folgenlose Geste, deren Zweck naiv, wenn nicht unterschwellig hinterhältig, in jedem Falle durchsichtig ist: Klienten selbst noch in die Legitimation ihrer Überwachung und Kontrolle einzubeziehen.

Nur: Wenn schon dieser Weg, warum nur mit halber Konsequenz? Von den Gruppen, die bisher die Aufmerksamkeit des niedersächsischen LfV gefunden haben, vermisse ich auf der Liste der Eingeladenen die DKP und Autonome aus Göttingen.

Plädoyer für Bürokra­tie­re­formen

Die sozialwissenschaftliche Organisationsforschung, die sich keine Illusionen macht über den strukturellen Zwang zur bürokratischen Verwaltung unserer hochtechnisierten, komplexen Welt hat gleichwohl tentative Lösungen formuliert, um das Problem von bürokratischer Verwaltung und demokratischen Ansprüchen bearbeitbar zu machen: Lösungen sind anzugehen, die Verwaltungshandeln und Klientenkritik wie Klienteneinflußnahme verbinden.

Bei Institutionen, die – wie ein LfV – ihre Klientel auschließlich kontrollieren und überwachen sollen, ist dieser Weg nicht gangbar. Was aber nicht gangbar ist in einer auf Demokratie und Volkssouveränität sich legitimatorisch beziehenden politischen Ordnung, hat in dieser keinen Platz.

Behörden für „Verfassungsschutz“ lassen sich zwar innerbürokratisch in Grenzen verändern, nicht aber reformieren, lassen sich vor allem nicht kontrollieren. Der einzige Weg zu ihrer effizienten Kontrolle ist der Weg ihrer ersatzlosen Auflösung.

Zur Politikberatung bedarf es dieser Behörden nicht. Es gibt hinreichend wissenschaftliche Einrichtungen (von der Stiftung „Wissenschaft und Politik“ bei Bonn bis zum „Deutschen Jugendinstitut“ in München), die zwar auch ihre professionellen Pathologien entwickeln und diese sich selbst und der Öffentlichkeit zugestehen sollten, die aber gleichwohl dank der die Wissenschaft verpflichtenden immanenten Kritikbereitschaft lern- und aufnahmefähiger sind als geheime, klandestine Verwaltungen. Soweit es also bei den Aufgaben/Zielen der LfVs um Politikberatung geht, ist diese der Wissenschaft zu überantworten.

Von der Weltkriegs-II-Nachkriegszeit, in der das Konzept der „streitbaren Demokratie“ widersprüchlich erfahrungsgesättigt entwickelt wurde, trennen uns heute mehr denn 45 Jahre. Wenn heute überwiegend junge Menschen mit altersgemäßer Radikalität an unserer Wirklichkeit verzweifeln und noch nicht gelernt haben, mit ökonomischem, ökologischen und staatlichem Unrecht so umzugehen, daß sie gleichwohl politisch handlungsfähig bleiben, so steht – anders als vor knapper Zeit – nicht einmal mehr die „Gefahr“ am Horizont, daß ein anderes politisches und bürokratisches System diese Haltung für seine Ziele ausbeuten könnte.

Was meine Töchter – möglichst ohne Spitzelapparate und damit auf jeden Fall leichter – zu erlernen hätten, wäre, mit staatlichem Unrecht so umzugehen und es so erleiden zu können, daß sie politisch handlungsfähig bleiben. Ob sie dies lernen, hängt nicht zuletzt davon ab, ob der Staat darauf verzichtet, zerstörerische Lernprozesse zu befördern. Ihr „Extremismus“ wäre zu erkennen und entsprechend zu achten als Indikator, als Hinweis auf gesellschaftliche Konflikte – und nicht als Rechtfertigung für die Existenzberechtigung bürokratischer Apparate zur Gesinnungsüberwachung. Diese haben nach der Agonie des Kalten Krieges nicht mehr den Hauch einer Existenzberechtigung.

Enden zu wollen, ohne das Problem der Arbeitsplatzangst von „Verfassungsschützern“ anzusprechen, hieße, sich aus dieser Welt mit ihren Zwängen und Realitäten mogeln zu wollen. Sie nicht zu berücksichtigen, wäre allemal für einen Sozialwissenschaftler, der in erster Linie auf Effizienz und Effekte zu achten angemeldet hat, unverzeihlich.

So sei abschließend aus gewerkschaftlicher Perspektive und angesichts der Verantwortung von Politikern für Arbeitsplätze angeregt, Wissenschaftler zu fördern, die „Konversionsprojekte“ für die Beschäftigten der Ämter für „Verfassungsschutz“ entwerfen. So wäre den in ihrer Funktion als nutzlos und demokratieschädlich hier ausgewiesenen Mitarbeitern der Ämter für „Verfassungsschutz“ eine neue, gesellschaftlich nützliche Tätigkeit zu erschließen.

[1]So registrierte das Landesamt für „Verfassungsschutz“ in Berlin den Eintritt in den Landesverband Berlin der HU mit Tag, Monat und Jahr, wie der Autor aus seiner Verfassungsschutzakte erkennen konnte. In Niedersachsen ist noch immer ein Prozeß der HU gegen das Landesamt für Verfassungsschutz anhängig, der die Nennung der HU in einem Geheimpapier des Landesamtes aus Anlaß der Volkszählungsboykottbewegung zum Gegenstand hat (vgl. „Bürgerrechte & Polizei“ ; Nr. 27, Heft 2/1987, 5.63 ff.). Die Redaktion „Bürgerrechte & Polizei (CILIP)“ bekam vom Bundesinnenminister bestätigt, daß sie extremistisch unter-wandert sei und daher über sie Material in Akten gesammelt worden sei (vgl. Deutscher Bundestag, Drs. Nr.: 11 /4294 vom 3.4.1989). Alle bisherigen Versuche der Redaktion, das BMI respektive das Bundesamt für Verfassungsschutz dazu zu bewegen, die Unterwanderer zu nennen, damit sich die Redaktion von ihnen trennen kann, blieben bisher ohne Erfolg.

[2]Siehe etwa Boeden, Gerhard: Vierzig Jahre Verfassungsschutz, in: Bundesamt für Verfassungsschutz (Hg.), Verfassungsschutz in der Demokratie, Köln 1990, S.1 ff.

[3]Siehe Crozier, Michel: The Bureaucratic Phenomenon, Chicago 1964, S.187 ff.

[4]Siehe Landtag Niedersachsen, Abschlußberichte des 10. und 11. Parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Niedersächsischen Landtages, LT Drs. : 10 / 5900 und 11 / 4380

[5]Bundeskriminalamt, Abt. Technische Dienste: Polizeiliche Kriminalstatistik — Staatsschutzdelikte, Bonn-Meckenheim, 1975 ff.

[6]ebenda, Aufklärungsquote nach Straftatengruppen

[7]vgl. z.B. den Klassiker der Organisationssoziologie, Michels, Robert: Zur Soziologie des Parteienwesens in der modernden Demokratie, Stuttgart 1957; Etzioni, Amital: Soziologie der Organisation, München 1978, S.24-29; Mayntz, Renate: Soziologie der Organisation, Reinbek 1977, S.70-80; Türk, K.: Soziologie der Organisation, Stuttgart 1977, S.78-12, 166-175,

[8]siehe Scheub, Ute /Becker, Wolfgang: Verfassungsschutz in der Neonaziszene, in: Bürger-rechte & Polizei (CILIP), H.17 (1 / 1984), S.57 ff.

[9]Vgl. BMI (Hg.), Analysen zum Terrorismus, Bd. 3: Gruppenprozesse, Opladen 1982, S.318 ff.

[10]BMI (Hg.), Analysen zum Terrorismus, Bd. 4,2: Protest und Reaktion, Opladen 1984, S.19 ff.

[11]Knightly, Phillip: Die Geschichte der Spionage im 20. Jahrhundert, Wien 1989, S.324 f.

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