Publikationen / vorgänge / vorgänge 112

Zum Justi­z­ent­las­tungs­ge­setz: Ein Lob der Langsamkeit

Aus: vorgänge Nr. 112, Heft 4/1991, S. 23-25

Während des ganzen Jahrhunderts gehört das Wort von der Justizkrise zum Repertoire. Nur in der Zeit, in der sich die Justiz wirklich in einer Krise befand, in der Zeit von 1933 bis 1945, sprach niemand von einer Krise. Der Blick zurück gemahnt zur Gelassenheit.

Jetzt haben unsere Justizministerinnen und Justizminister wieder die Krise entdeckt. Zwar kennt fast keiner von ihnen die Justiz von innen, sie lesen aber Statistiken und Haushaltspläne und schöpfen aus ihnen ihr Wissen. Als Richter könnte ich nur von einer Krise sprechen, wenn die Güte richterlicher Arbeit nachlassen oder das Ansehen der Richterinnen und Richter bei den Bürgern sinken würde.

Davon kann jedoch so allgemein nicht die Rede sein. Oder spöttischer: Die Justiz war nie besser, vielleicht noch nie so gut, wie heute. Und doch glaube ich Indizien dafür — auch bei meiner eigenen Arbeit — zu sehen, dass die Güte der Arbeit unter dem Druck der Zahl der Verfahren nachlässt. Noch dringen die ersten Anzeichen nicht nach außen. Wenn dies geschehen sollte, wird die Lage kritisch, und wir müssten wahrhaftig von einer Justizkrise sprechen. Deshalb gilt es, schon auf erste Anzeichen sorgfältig zu achten.

Gegenwärtig handelt es sich noch um nichts anderes, als banale finanzielle Schwierigkeiten. Diese sind, wie man heute sagt, strukturbedingt. Richter leisten „Handarbeit”, das heißt, sie entscheiden Fall für Fall nach seinen individuellen Besonderheiten. „Handarbeit” aber können wir uns der hohen Lohnkosten wegen in Europa und Amerika kaum noch leisten; sie ist ein teurer Luxus geworden.

Die auf den Einzelfall ausgerichtete Arbeit des Richters ist in den letzten Jahrzehnten zwar nicht schwieriger, aber gesellschaftlich wichtiger und stetig mühsamer geworden. Die Gründe lassen sich verkürzt dahin zusammenfassen,

— dass die Lebensentwürfe der Bürgerinnen und Bürger sich pluralistisch auseinanderentwickelt haben (Beispiele: multikulturelle Gesellschaft, nichteheliche Lebensgemeinschaft),

— dass das Recht in der Wirtschaft immer differenzierter und von den gesetzlichen Normen abweichend eingesetzt wird (Beispiele: Leasingverträge, Ratenkreditverträge),

— dass die Bürger immer nachdrücklicher auf ihrem „Recht” bestehen (Beispiele: Heizkostenabrechnung, Reisevertragsrecht, Nutzungsausfall nach Kraftfahrzeugunfall), und nicht zuletzt,

— dass die Parlamente immer weniger in der Lage sind, auf drängende Fragen der Zeit eine in Gesetzesform gegossene Antwort zu finden (Beispiele: Persönlichkeitsrecht und Recht auf informationelle Selbstbestimmung) oder sich in Generalklauseln flüchten (Beispiel: Kündigungsrecht des Vermieters).

Es ist vor diesem Hintergrund bewundernswert, dass unsere Gerichte gewiss nicht in jedem Einzelfall, aber doch in der großen Linie, immer wieder akzeptable Lösungen finden. Nur der Weg zur Lösung ist oft ein verschlungener Pfad durch die Instanzen. Die Lösung erfordert vom Richter auch den stetigen Abgleich seiner vorläufigen Meinung mit den in der juristischen Literatur veröffentlichten Gegenmeinungen. Wie überall ist Universitätswissen rasch veraltet.

Die Schwierigkeiten richterlicher Arbeit werden durch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten erheblich wachsen, weil nicht nur zwei konträre Wirtschaftsordnungen aufeinander gestoßen sind, sondern sich auch die Lebensanschauungen in den Köpfen der Menschen in Ost und West unterscheiden.

Es wäre sicher überheblich, zu behaupten, dass unser gegenwärtiger Justizaufbau eine „richtige” Entscheidung optimal wahrscheinlich macht und gleichzeitig keine Ressourcen verschwendet. Nur: Der von der Mehrheit der Justizminister jetzt vorgelegte Entwurf eines Justizvereinfachungsgesetzes sagt mehr über diese Justizminister, als über die Justiz aus. Hinter dem Entwurf — so inkohärent er im einzelnen ist — steht die Vorstellung, Aufgabe des Justizapparates sei es lediglich, möglichst schnell eine Entschließung herbeizuführen, die mit dem Etikett einer richterlichen Entscheidung versehen ist. Das Ringen um die Richtigkeit der Entscheidung, der Kampf um’s Recht (Jhering) ist den Justizministern fremd. Hier haben wir die Folge der Tatsache vor Augen, dass von den jetzigen Befürwortern des Entwurfs kein einziger je Richter gewesen ist und es ist sicher kein Zufall, dass der einzige frühere Richter unter den Befürwortern vom 24.4. 1991 (Klingner) auch als einer der ersten von dem fahrenden Zug abgesprungen ist. Es ist sicher auch kein Zufall, dass der Entwurf von sämtlichen Berufsverbänden des Justizbereichs abgelehnt wird.

Als Richter müssen wir uns auf die Möglichkeit einstellen, dass der Entwurf, wenn auch vielleicht in geänderter Fassung, zum Gesetz wird. Das braucht keine Katastrophe zu werden, wenn wir richtig reagieren. Wir müssen uns nur der Tatsache bewusst sein, dass wir jetzt in einer Instanz ein Ergebnis finden müssen, an dem bis jetzt mehrere Instanzen mitgewirkt haben und dass der Einzelrichter allein ein Ergebnis erarbeiten muss, das bis jetzt im Gespräch mit mehreren Kolleginnen und Kollegen gefunden worden ist.

Das bedeutet: Es darf keine schnellen Entscheidungen mehr geben, sondern jeder Fall muss wieder und wieder bedacht werden, das informelle kollegiale Gespräch muss bewusst gesucht und immer erneut muss die gesamte Literatur auf Meinungen und Gegenmeinungen durchgearbeitet werden, damit kein Gesichtspunkt übersehen wird. Nur durch die Tugend der Langsamkeit lassen sich die Fehler des im Entwurf vorliegenden Gesetzes ausgleichen. Natürlich würde bei der alsdann notwendigen Langsamkeit des Entscheidungsweges der Justizapparat insgesamt wesentlich weniger Fälle zu entscheiden vermögen als bisher. Mich würde dies nicht stören. Habe ich den Justizministern den jetzigen Entwurf des Justizvereinfachungsgesetzes anempfohlen?

Natürlich müssten vergleichbar auch die Rechtsanwälte schon in die erste Instanz die Arbeit investieren, die bisher auf mehrere Instanzen verteilt geleistet worden ist — und bezahlt bekommen, auch in den Verfahren, die von der Prozesskostenhilfe gestützt werden.

Gibt es andere Lösungen? Gewiss! Nur vor jeder sinnvollen Lösung steht die für den Justizhaushalt schmerzhafte Erkenntnis, dass die Kosten einer jeden dem Einzelfall gerecht werdenden richterlichen Entscheidung in Zukunft in den alten Bundesländern und noch mehr in den neuen Bundesländern mit ihren großen Problemen überproportional steigen werden. „Handarbeit” mag anderweit ein Luxus sein, in der Justiz ist sie eine Notwendigkeit.

Es gibt allerdings auch Billiglösungen, die den von mir vorgeschlagenen Ausweg versperren. Ob sie gegen die Richter- und Anwaltschaft und gegen das Bundesverfassungsgericht durchsetzbar sind, steht auf einem anderen Blatt.

Die Justiz zählt heute zu jenen kulturellen Institutionen, „die den gewaltsam-repressiven Zug der bürgerlichen Herrschaft“ abschwächen und einen „Konsens zwischen Volk und regierender Klasse” schaffen (vgl. C7ramsci:, Note sul Machiavelli, S. 87ff.). In der Sprache unserer Tage: Die Justiz vermittelt unablässig zwischen den politischen Parteien des Parlaments, den von ihnen beschlossenen Gesetzen einerseits und den Bürgerinnen und Bürgern andererseits. Das mechanische Weltbild der den Entwurf tragenden Justizminister ist blind für diese Funktion der Justiz. Dieses Weltbild kann unseren Staat gefährden.

nach oben