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Das Revisi­ons­ur­teil gegen Dr. Theissen

Aus: vorgänge Nr. 116, Heft 2/1992, S. 5-8

Am 5. Mai 1989 war der Frauenarzt Dr. Theissen durch das Landgericht in Memmingen wegen Abbruchs der Schwangerschaft (§ 218 StGB) in 36 Fällen, wegen versuchten Abbruchs der Schwangerschaft (§218,22 StGB) in vier Fällen und wegen Abbruchs der Schwangerschaft ohne ärztliche Feststellung (§ 219 StGB) in 39 Fällen, davon ii, 37 Fällen in Tateinheit mit Abbruchs einer Schwangerschaft ohne Beratung (§ 218 b StGB), verurteilt worden. Sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung hatten gegen das Urteil Revision eingelegt, über die der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs am 3. Dezember entschied. Inzwischen liegt die 46 Seiten umfassende schriftliche Begründung des Revisionsurteils vor.

Faktisch stellt das Urteil einen großen: Erfolg für Dr. Theissen dar, weil es ihn in 20 Fällen (jeweils Verurteilungen nur nach § 218 b, 219 StGB) wegen Verjährung freigesprochen und deshalb den Strafausspruch aufgehoben hat. Es müssen die Einzelstrafen und die Gesamtfreiheitsstrafe neu bestimmt werden. Die entscheidende Gesamtfreiheitsstrafe könnte – muss aber nicht! — unter der Grenze von zwei Jahren liegen, so dass eine Strafaussetzung zur Bewährung rechtlich möglich, jedoch nicht zwingend wäre. Erfahrungsgemäß zieht der Angeklagte aus dem Zeitgewinn oft einen Vorteil, hier auch vor dem Hintergrund einer Neuordnung des Rechts des Schwangerschaftsabbruchs.

In der Sache selbst allerdings bedeutet das den Schuldspruch bestätigende Revisionsurteil — soweit kein Freispruch wegen Verjährung erfolgte – für den Angeklagten und alle, die sich für eine Liberalisierung des Rechts des Schwangerschaftsabbruchs einsetzen, eine schwere Niederlage. Indes lässt es sich auch andere interpretieren: Das Revisionsurteil zeigt die Unmöglichkeit, mit der Indikationenregelung den Schwangerschaftsabbruch angemessen gesetzlich zu regeln und könnte die Neuordnung dieses Rechtsgebiets günstig beeinflussen. Das Urteil war beim 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs zu erwarten. Nur unter Einfluss – vielleicht unbewusster – ideologischer Prägung bekennt sich ein Gericht so ungeniert an den entscheidenden Stellen eine Auslegung zu wählen, die eine Verurteilung ermöglicht. Selbst das Urteil des so gescholtenen Landgerichts Memmingen wirkt im Vergleich zwar holpriger, aber doch auch verständnisvoller: „Die Bedeutung des ungeborenen Lebens verlangt eine Auslegung (der §§ 218 ff., U.V.), die seinen Schutz soweit wie möglich gewährleistet.” „Nähme man nur die angedrohte Höchststrafe (ein Jahr Freiheitsstrafe) zum Maßstab, so stände § 219 StGB allerdings in einer Reihe mit Hausfriedensbruch („§ 123 StGB), Verstrickungsbruch (§ 136 StGB), Beleidigung (§ 185 StGB) und ähnlichen Vorschriften minderen Gewichts. Indes wäre ein solches Vorgehen verfehlt …” „Wenn die Vorschriften der §§ 218 ff StGB insgesamt mit vergleichsweise niedrigen Strafdrohungen bewehrt sind, so beruht das darauf, dass die Strafe neben den sonstigen lebenserhaltenden Maßnahmen überhaupt nur ,ultima ratio‘ sein sollte … Dies ändert aber nichts daran, dass es sich insgesamt um ,Straftaten gegen das Leben‘ handelt … Andererseits ist der Abbruch der Schwangerschaft nach § 218 StGB ein Delikt von erheblichem Gewicht; die beschriebenen Widrigkeiten der Aufklärung dürfen nicht dazu führen, dass verbotener Schwangerschaftsabbruch faktisch nicht verfolgt wird”

Das Strafverfahren gegen Dr. Theissen war durch eine anonyme Anzeigen bei der Steuerfahndungsbehörde ausgelöst worden, die Anlass zur Durchsuchung der Praxis des Arztes und der Beschlagnahme der Patientinnenkartei gab, in der die Schwangerschaftsabbrüche registriert waren. Da die Einnahmen aus diesen Behandlungen von Dr. Theissen nicht versteuert worden waren, ist er insoweit inzwischen rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe mit Bewährung verurteilt worden. Die Steuerbehörden hatten alsdann das Material der Staatsanwaltschaft zur Verfolgung der Schwangerschaftsabbrüche übergeben. Der Bundesgerichtshof billigte diese Durchbrechung des Steuergeheimnisses wegen des „zwingenden öffentlichen Interesses”.

Die Verwertung der Kartei im Strafverfahren wegen Schwangerschaftsabbruchs wird damit gerechtfertigt, „dass das Wissen des Arztes nur im Interesse der Patientin, nicht in seinem eigenen Interesse geschützt” sei und dies sich dahin auswirke, dass die „eignen Geheimnisse des Arztes … sowenig geschützt sind wie die schriftlich niedergelegten Geheimnisse anderer Personen; die Grenze (bilde) die Unverwertbarkeit von Tagebuchaufzeichnungen.” Somit sei — bei Einwilligung der Patientin — die Beschlagnahme ihrer ärztlichen Karteikarte oder jedenfalls deren Verwertung zulässig. Obwohl jedermann weiß, dass zumindest die Mehrzahl der Patientinnen nicht zugestimmt haben, wird die Revision insoweit mit der Begründung — juristisch vielleicht korrekt — zurückgewiesen, die Revisionsschriften der Verteidiger haben vergessen, ausdrücklich vorzutragen, die Patientinnen hätten nicht zugestimmt. „Quod non est in actis, non est in mundo” — was nicht in den Akten steht, existiert nicht, hieß es im überwunden geglaubten Aktenprozess früherer Jahrhunderte.

Die juristische Logik sollte es gestatten, den Satz von der Zustimmung der Patientinnen umzukehren: Ohne Einwilligung der Patientin keine Verwertung der Karteikarte in dem Verfahren gegen den Arzt. Und: Ohne Einverständnis der Patientin keine Verwertung der Karteikarte in ihrem eigenen Strafverfahren. Doch kann ich leider nicht raten, sich auf diese Logik zu verlassen, denn gerade an dieser entscheidenden Stelle gerät die Urteilsbegründung des Bundesgerichtshofs ins Schlingern.

Das Urteil geht auf Gegenkurs: „Jedenfalls ist die Rüge unbegründet” Es sei anerkannt, dass die Wahrheitsermittlung im Strafverfahren die privaten Geheimhaltungsbelange des Patienten überwiegen könnten, habe das Bundesverfassungsgericht „anerkannt”. Der Einblick in die Kartei sei der zuverlässigste und zugleich schonendste Weg der Ermittlung. Sonst müsste im unmittelbaren persönlichen Umfeld der Patientinnen ermittelt werden. Und dann folgt der schon oben wiedergegebene fatale Satz: „Andererseits ist der Abbruch der Schwangerschaft nach § 218 StGB ein Delikt von erheblichem Gewicht; die beschriebenen Widrigkeiten der Aufklärung dürften nicht dazu führen, dass verbotener Schwangerschaftsabbruch faktisch nicht verfolgt wird. Eben darauf liefe aber letztlich die Auffassung des Angeklagten hinaus, auf die Karteikarten dürfe generell nicht für Zwecke des Strafverfahrens zurückgegriffen werden.“

Dann schlingert das Urteil abermals. Die Karteikarten dürften jedenfalls in dem Strafverfahren gegen einen Arzt verwandt werden, dem so zahlreiche Schwangerschaftsabbrüche zur Last gelegt würden. Die Frage, wie gegen einen Arzt zu verfahren ist, der nur einzelner Schwangerschaftsabbrüche beschuldigt wird, bleibt indes offen. Ich möchte aus den Ausführungen schließen, dass die Karteikarten in Verfahren gegen Patientinnen auf keinen Fall ohne ihr Einverständnis verwandt werden dürfen.
Bei der Verwertung der Karteikarten scheiden sich die Geister. Allerdings ist einzuräumen, dass die Patientinnenkartei oft ein Beweismittel darstellt, ohne das eine Verurteilung nicht möglich ist. Doch betrachtet man den Schutz des Arztgeheimnisses gerade in diesem überaus sensiblen Bereich als einen Teil des Schutzes der Würde des Menschen, muss man dem Bundesgerichtshof entgegenhalten: Die Menschenwürde geht dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse vor!

Der Bundesgerichtshof räumt dem Arzt einen gewissen Ermessensspielraum bei der Indikation ein, hält aber daran fest, dass diese Entscheidung durch die Gerichte inhaltlich überprüfbar sei, weil der „Rahmen (der Überprüfung, U.V.) dem Gesetz mit hinreichender Sicherheit zu entnehmen” sei. Alsdann folgt ein Angriff auf die Notlagenindikation, wie ich ihn härter kaum kenne: „Der objektiv am ehesten zu erfassende Begriff ist der der ,Notlage`. Sie wiegt, vom Gesetz her gesehen, schwerer als die ,besondere Bedrängnis‘ in § 218 Abs. III Satz 2 StGB und bedeutet auch nach allgemeinem Sprachgebrauch eine Extremsituation, die, wenn keine Änderung eintritt, kaum mehr zu ertragen ist. Nicht jede Notlage genügt; sie muss nach dem Gesetz ,so schwer wiegen, dass von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann‘. Hinzu kommt die verfassungsrechtliche Vorgabe, dass die hier in Betracht zu ziehenden außergewöhnlichen Belastungen ,ähnlich schwer‘ wiegen müssen wie die bei medizinischer Indikation geforderten, also wie die für die Schwangere bestehende Gefahr, das Leben zu verlieren oder eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes zu erleiden … Gemessen an diesen Grundsätzen, ergibt sich in vielen Fällen, dass ein Schwangerschaftsabbruch nicht vertretbar ist. Dass etwa nichteheliche Erzeugung, ablehnende Haltung des Vaters, Verzögerung der Berufsausbildung der Mutter und andere — keinesfalls leichtzunehmende — Umstände für sich allein nicht ausreichen, ist anerkannt. Ausgeschlossen ist auch, die Zahl der von der Schwangeren schon geborenen Kinder für sich allein zum Maßstab zu nehmen.”

Es ist sicherlich kein Zufall, dass der Bundesgerichtshof an dieser Stelle kein Beispiel anführt, in dem ein Schwangerschaftsabbruch gerechtfertigt wäre. Wer jetzt erwartet hätte, der Bundesgerichtshof werde die von dem Landgericht in Memmingen entschiedenen Fälle durcharbeiten und die jeweils getroffene Entscheidung des Landgerichts entweder billigen oder missbilligen und so Farbe bekennen, sieht sich enttäuscht: „Ob die vom abbrechenden Arzt getroffene Entscheidung nach ärztlicher Erkenntnis vertretbar war, hat in erster Linie der Tatrichter (also nicht der Bundesgerichtshof als Revisionsgericht, U.V.) zu entscheiden … Der Senat sieht davon ab, alle Einzelfälle zu erörtern.” Der Senat macht sich die Hände nicht schmutzig. So hat der Tatrichter, nicht aber der Arzt, weitgehend freie Hand.

Der Senat hat alsdann vier Fälle einzeln abgehandelt, und zwar je zwei, in denen nach Auffassung des Landgerichts Memmingen ein Schwangerschaftsabbruch vertretbar und in denen dies nicht der Fall war. Es ist nicht ersichtlich, unter welchen Gesichtspunkten diese vier Fälle ausgesucht worden sind. So ist man versucht, an das Strickmuster „zwei links, zwei rechts” zu glauben. In keinem der vier Fälle hat der Strafsenat den Entscheidungsspielraum des Arztes angesprochen, sondern sich sehr ausgeprägt auf den des Landgerichts zurückgezogen und betont, dieses habe den unmittelbaren Eindruck gewonnen. So wird im Ergebnis aus der „ärztlichen Erkenntnis” eine solche des Tatrichters.

Das Urteil des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs ist ebenso wie das des Landgerichts in Memmingen von einem ausgeprägt konservativen Geist geprägt. Das kann kein Vorwurf sein, auch wenn ich eine auf breiterer Grundlage konsensfähige Entscheidung gewünscht hätte. Niemand hat einen Anspruch darauf, dass die Gerichte den Auslegungsspielraums des Gesetzes zugunsten der schwangeren Frau nutzen. Trotzdem bietet das Urteil Grund zu erheblicher Kritik. `

Es lässt jede Sensibilität für das zerbrechliche Vertrauensverhältnis von der Patientin zum Arzt vermissen. Alle Sachverständigen heben auf dieses Vertrauensverhältnis und das Vertrauensverhältnis zu den Beratungsstellen, für die dasselbe gilt, ab. Ohne ein solches Vertrauensverhältnis, und dies übersieht der Senat, kann auch keine Beratung zum Austragen der Schwangerschaft erfolgen. Der Senat hat dem hier zweifelhaften Strafverfolgungsinteresse des Staates den Vorrang vor dem Vertrauensverhältnis zum Arzt gegeben. Jede Frau ist gut beraten, einem deutschen Arzt kein Vertrauen entgegenzubringen. Es ist eine Frage des Wohnortes und des finanziellen Spielraums, ob die schwangere Frau einen Arzt im Ausland aufsuchen kann.

Die Beurteilung durch den Arzt, die „ärztliche Erkenntnis”, ist deutlich abgewertet. Das im Gesetz vorgeschriebene Gutachten durch einen zweiten Arzt ist mittelbar ebenfalls fast wertlos geworden. Die schwangere Frau soll sich vorbehaltlos ihrem Arzt anvertrauen; die Gerichte misstrauen ihm.

Das Ermessen des Tatrichters, hier des Landgerichts Memmingen, ist weitgehend gegen eine Überprüfung durch die Revisionsgerichte abgeschirmt worden. Das ist gerade bei diesem Delikt, das so wie in der Bevölkerung natürlich auch von Richter zu Richter sehr unterschiedlich gesehen wird, gefährlich. Es wird sich zwangsläufig eine unterschiedliche Urteilspraxis mit einem Süd-Nord-Gefälle herausbilden, wie wir es heute bereits bei der Verfolgungsbereitschaft von Polizei und Staatsanwaltschaften kennen.

Welche Gedanken mögen die Richterinnen und Richter in den neuen Bundesländern bewegen, wenn sie morgen verurteilen sollen, was bei ihnen gestern straffrei war und nach dem Einigungsvertrag noch heute straffrei ist?

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