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Die Gustav Heine­mann-I­n­i­tia­tive und die Friedens­be­we­gung.

aus Vorgänge Nr. 158 (2/2002), S.135-139

Ende der 1970er Jahre formierte sich in der Bundesrepublik Deutschland, wie in den meisten anderen westeuropäischen Staaten und auch in der DDR, die Friedensbewegung, weil sich das politische Klima zwischen Ost und West in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts deutlich verschlechterte. Den unmittelbaren Anlass zur Formierung der westdeutschen Friedensbewegung gab der Mitte Dezember 1979 verabschiedete „Nachrüstungsbeschluss“ der NATO. Dieser sah die Stationierung neuer atomarer Kurz- und Mittelstreckenwaffen in der Bundesrepublik und weiteren westeuropäischen Staaten vor, wenn zwischen den USA und der Sowjetunion keine Vereinbarung über einen beiderseitigen Verzicht auf derartige Waffensysteme erzielt würde. Damit war jedoch nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan Ende Dezember 1979 kaum noch zu rechnen. So wuchs besonders in der Bundesrepublik die Besorgnis, die Führung in Moskau könne versucht sein, dem Vollzug der Nachrüstung durch einen Angriff in Mitteleuropa zuvorzukommen. Denn die zur Stationierung vorgesehenen US-amerikanischen Waffensysteme waren angeblich in besonderer Weise geeignet, die militärischen Kommandostrukturen des Warschauer Paktes zu zerstören, und spielten deshalb eine zentrale Rolle in Überlegungen US-amerikanischer Militärs und Politiker. Sie wollten einen bewaffneten Konflikt zwischen Ost und West nicht zum globalen Atomkrieg eskalieren lassen, sondern auf Mitteleuropa begrenzen, das dabei allerdings vollständig zerstört und auf unabsehbare Zeit unbewohnbar gemacht worden wäre.
Für die eben gegründete GUSTAV HEINEMANN-INITIATIVE (GHI) ergab es sich unter diesen Vorzeichen im Grunde von selbst, dass die in der Bundesrepublik aufflammende Nachrüstungsdiskussion eine Zeitlang zu ihrem vorrangigen Betätigungsfeld wurde. Denn solch Engagement in der Friedensbewegung lag auf der Linie der politischen Tätigkeit Gustav Heinemanns in den 1950er und frühen 1960er Jahren. Heinemann wies damals unbeirrt von Anfeindungen und Verleumdungen darauf hin, dass der von Bundeskanzler Adenauer verfolgte Kurs der unbedingten Eingliederung der Bundesrepublik in das westliche Bündnissystem und das von ihm befürwortete Konzept einer „Politik der Stärke“ gegenüber der Sowjetunion weder die Position des“freien Westens“ gegenüber dem Ostblock verbessern, noch die baldige Wiedervereinigung des geteilten Deutschland ermöglichen würden, wie Adenauer behauptete, sondern das genaue Gegenteil bewirkten. Zugleich entsprach die Friedensarbeit der GHI jenem Diktum aus Heinemanns Antrittsrede als Bundespräsident, dass nicht der Krieg, sondern der Frieden der Ernstfall sei, weil es hinter dem Frieden keine Existenz mehr gäbe. Auf der dritten Jahrestagung der Initiative im Mai 1980 wurde das Thema „Rüstung und Frieden“ erstmals in einer Arbeitsgruppe diskutiert, die u.a. den Entwurf einer Erklärung ausarbeitete, die anschließend vom Plenum gebilligt und unter dem Titel Deutsche Friedenspolitik veröffentlicht wurde. In einer zweiten, im Oktober des Jahres publizierten Erklärung Wettrüsten gibt nicht mehr Sicherheit erinnerte sie daran, dass Gustav Heinemann dreißig Jahre zuvor aus Protest gegen die von Adenauer betriebene Wiederbewaffnung der Bundesrepublik vom Amt des Bundesinnenministers zurückgetreten war, und wies auf die Aktualität der damals von Heinemann gegebenen Begründung hin: Das geteilte Deutschland legitimierte sich selbst zum Schlachtfeld, wenn sich die Bundesrepublik und die DDR aktiv an den jeweiligen Aufrüstungsmaßnahmen des westlichen und des östlichen Militärbündnisses beteiligten.
In der westdeutschen Öffentlichkeit galt die GUSTAV HEINEMANN-INITIATIVE schnell als eine der respektabelsten Gruppierungen der Friedensbewegung, bei der es sich ja nicht um eine homogene, organisatorisch klar strukturierte Vereinigung, sondern um einen häufig spontanen und regional in seiner Zusammensetzung wechselnden Zusammenschluss autonomer Gruppen handelte. Diesen Ruf verdankte die GHI zu einem guten Teil der Tatsache, dass mehrere Mitglieder ihres Trägerkreises aus anderen Zusammenhängen über gute Kontakte zu den Medien verfügten und die Medien ihrerseits die GHI mit gesteigerter Aufmerksamkeit beobachteten. Denn einige ihrer führenden Mitglieder waren prominente Amtsträger der damaligen Regierungsparteien SPD und FDP oder Richter an obersten Bundesgerichten, sie lehnten die von Bundeskanzler Schmidt und den Spitzen der sozialliberalen Regierungskoalition wie auch von der Opposition vertretene Position ab, dass der Nachrüstungs-Beschluss der NATO und ggf. auch die Stationierung neuer Atomwaffen in Mitteleuropa im Interesse der Sicherheit der Bundesrepublik unumgänglich seien. Besonderes Interesse galt dabei dem ehemaligen Bundesminister und damaligen baden-württembergischen SPD-Landesvorsitzenden Erhard Eppler, der als intellektuell führender Kopf der innerparteilichen Opposition gegen den Nachrüstungsbeschluss angesehen wurde und Veranstaltungen der Initiative wiederholt als öffentliche Plattform zur Darlegung seiner Auffassungen nutzte. Hinzu kam schließlich, dass die GHI im Unterschied zu anderen Gruppen in der Friedensbewegung keine Schuldzuweisungen vornahm, in denen die Rüstung der einen Seite als aggressiv und bedrohlich verteufelt, die der anderen Seite jedoch als rein defensiv und zum eigenen Schutz notwendig gerechtfertigt wurde.
In den Jahren 1981, 1982 und 1983 stand das Engagement in der Friedensbewegung nicht nur im Mittelpunkt der jeweils im Frühjahr in Rastatt durchgeführten Jahrestagungen der GHI, sondern auch fast aller ihrer sonstigen Aktivitäten. So trafen sich z.B. im Juni 1981 dreißig Politiker und Wissenschaftler auf Einladung der Initiative und erarbeiteten eine Erklärung zur Nachrüstung. Im Juli des Jahres forderte der Vorstand der GHI den Rat der EKD und die Leitungen ihrer Gliedkirchen auf, nach dem Vorbild des holländischen Interkirchlichen Friedensrates Beauftragte und Ausschüsse für Fragen von Frieden, Rüstung und Abrüstung einzusetzen. Ende Oktober 1981 organisierte die Initiative eine Konferenz zur Diskussion alternativer sicherheitspolitischer Konzeptionen. Außerdem rief die GHI zusammen mit rund 800 weiteren Gruppierungen zur Teilnahme an der legendären Friedensdemonstration in Bonn am 10. Oktober 1981 auf, die mit rund 250.000 Teilnehmern zur bis dahin größten Protestkundgebung in der Geschichte der Bundesrepublik wurde. Im Frühsommer 1982 unterstützte die GHI das vom KOMITEE FÜR GRUNDRECHTE UND DEMOKRATIE verbreitete Friedensmanifest 1982 und forderte zur Teilnahme an einer weiteren Friedensdemonstration in Bonn anlässlich der dort abgehaltenen Gipfelkonferenz der NATO auf. Ebenso wichtig wie diese in die Öffentlichkeit gerichteten Aktivitäten war die Zugehörigkeit von Vertretern der GHI zum zentralen Koordinierungsausschuss der Friedensbewegung, weil sie hier mehrfach erfolgreich vermitteln konnten, als Meinungsverschiedenheiten zwischen einzelnen Gruppierungen nicht nur die Durchführung „großer“ Aktionen gefährdeten, sondern sogar ein offener Bruch in der Friedensbewegung möglich schien.
Zusätzlich zu diesen Aktivitäten, die vorwiegend vom Vorstand der Initiative getragen wurden, kamen aus einigen der Regionalgruppen der GHI eigenständige Impulse für die Friedensarbeit. So stellte beispielsweise die Regionalgruppe Hamburg für die Jahrestagung 1980 ein umfangreiches Thesenpapier zusammen, das die Grundlage für die vom Plenum verabschiedete Entschließung bildete. Die Regionalgruppe Bremen erarbeitete im Herbst 1981 die Ausstellung Es geht ums Leben! – Abrüstungsbemühungen und Aufrüstungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1945 bis 1981, die im Anschluss an die Präsentation in Bremen an mehr als zwanzig über das gesamte Bundesgebiet verteilten Standorten zu sehen war. Die Regionalgruppe Tübingen produzierte einen Film zur Nachrüstung, und die Regionalgruppe Stuttgart wirkte in einem süddeutschen Koordinierungsausschuss an der Vorbereitung und Durchführung einer Menschenkette zwischen Stuttgart und Ulm im Herbst 1983 mit. Außerdem beteiligten sich mehrere prominente Mitglieder der GHI an Sitzblockaden von Atomwaffendepots und legten es dabei gezielt darauf an, zusammen mit „einfachen“, unbekannten Mitgliedern der Friedensbewegung festgenommen und vor Gericht gestellt zu werden, um gegen die Einschränkung des Grundrechts auf Demonstrationsfreiheit und die Unverhältnismäßigkeit der strafrechtlichen Ahndung der Teilnahme an solchen Blockadeaktionen zu protestieren.
In der westdeutschen Öffentlichkeit fand die Friedensarbeit der GHI Anfang der 1980er Jahre große Resonanz. Sie kam u.a. darin zum Ausdruck, dass Fernsehen, Rundfunk und die meisten überregionalen Tages- und Wochenzeitungen über die Rastatter Jahrestagungen berichteten. Außerdem ließ sie sich daran ablesen, dass zu den Jahrestagungen 1981, 1982 und 1983 jeweils mehrere hundert Teilnehmer nach Rastatt kamen, unter denen Mitglieder der GHI nur eine Minderheit bildeten. Besonders auffällig war die große Zahl junger Menschen, die von den Rastatter Tagungen offenkundig Anregungen und eine Bestätigung ihres persönlichen Engagements in der Friedensbewegung erwarteten und für erheblichen Andrang in den Massenquartieren sorgten, die von der Rastatter Stadtverwaltung in einer neben der Tagungsstätte gelegenen Schule bereitgestellt wurden. In Verbindung mit dem ganz eigenen Flair der Fruchthalle, die als zentraler Tagungsort diente, erhielten die Jahrestagungen so trotz kontroverser Diskussionen einen ausgeprägt freundschaftlichen Charakter, der sie in den Augen vieler Teilnehmer zu einem gerne besuchten ,“Familientreffen“ der Friedensbewegung werden ließ.
Nach der Ablösung von Bundeskanzler Schmidt durch das konstruktive Misstrauensvotum, der Amtsübernahme von Helmut Kohl und der Bestätigung der CDU/CSU-FDP-Koalition bei der Bundestagswahl im Frühjahr 1983 erreichten die Aktivitäten der Friedensbewegung im zweiten Halbjahr 1983 ihren Höhepunkt. Denn die im Herbst 1981 aufgenommenen INF – Verhandlungen zwischen den USA und der UdSSR blieben ohne greifbares Ergebnis, und die Regierung Kohl ließ keinen Zweifel daran, dass im Falle des Scheiterns dieser Verhandlungen neue amerikanische Atomwaffen und Trägersysteme in der Bundesrepublik stationiert würden, obwohl den Ergebnissen mehrerer repräsentativer Umfragen zufolge eine klare Mehrheit von mehr als 60 Prozent der wahlberechtigten Einwohner der Bundesrepublik dies ablehnte. Ihre Jahrestagung im Mai 1983 stellte die GHI unter das Motto Recht zum Widerstand – Entscheidungsjahr 1983 und beschäftigte sich in Referaten und Diskussion ausführlich mit der Thematik Gewaltloser Widerstand – Ziviler Ungehorsam. Anschließend unterstützte die Initiative eine vom KOMITEE FÜR GRUNDRECHTE UND DEMOKRATIE initiierte Massenpetition für eine konsultative Volksbefragung zur Nachrüstung und startete Anfang November 1983 noch eine eigene Aktion, die Bundestagsabgeordneten in persönlichen Briefen aufzufordern, einem Mitte des Monats im Bundestag zur Abstimmung stehenden Entschließungsantrag die Zustimmung zu verweigern, in dem der Vollzug der Nachrüstung ausdrücklich befürwortet wurde.
Die Ankunft der ersten neuen Waffensysteme in der Bundesrepublik am 26. November 1983, nur drei Tage nach dem Abbruch der INF-Verhandlungen, bedeutete einen schweren Rückschlag für die Friedensbewegung. Versuche, die Aufstellung der neuen Waffen durch Sitzblockaden vor den betreffenden Militäreinrichtungen zu verhindern, waren zwar des öfteren spektakulär, blieben aber letztlich doch hilf und erfolglose Formen des Protests. Der Vorstand der GHI hatte diese Entwicklung offensichtlich erwartet und Mitte November 1983 angeregt, die Jahrestagung 1984 unter das Leitthema Bürgerrechte zu stellen, der Komplex Rüstung und Frieden sollte nur noch in einem Arbeitskreis sowie im Programm einer Kabarettgruppe thematisiert werden. Im Frühjahr 1984 betonte er ausdrücklich, dass die GHI weiterhin in der Friedensbewegung aktiv bleiben wolle, was nun vor allem in Form der Unterstützung von Aufrufen und Aktivitäten befreundeter Gruppierungen sowie der Bekanntmachung neuer Publikationen zum Thema in den Rundschreiben an die Mitglieder erfolgte. Zudem arbeitete die GHI im zentralen Koordinierungsausschuss für den Friedensherbst 1984 mit und trat in diesem Zusammenhang als Mitveranstalter für mehrere größere Aktionen auf.
Im Frühjahr 1985 erklärte der Vorstand, dass die Friedensbewegung keineswegs tot sei, wie häufig behauptet würde, sondern die politische Landschaft in der Bundesrepublik verändert habe. Deshalb müsse auch der Schwerpunkt der Friedensarbeit neu gesetzt werden und solle zukünftig bevorzugt auf kleinere örtliche Veranstaltungen und Initiativen anstelle „großer“ Aktionen liegen. Ungeachtet der Aktivität einzelner Gruppen und Personen war nämlich die Resonanz auf die Aktivitäten der Friedensbewegung in der westdeutschen Bevölkerung und die Bereitschaft, sich an entsprechenden Aktionen zu beteiligen, merklich zurückgegangen. Sie ließen noch weiter nach, als die INF -Verhandlungen Anfang Februar 1985 wieder aufgenommen wurden und sich Gorbatschow und Reagan bei ihrem Gipfeltreffen in Reykjavik im Herbst 1986 grundsätzlich über eine „Null-Lösung“ verständigten. Unter diesen Vorzeichen konzentrierte sich das Engagement der GHI in der Friedensbewegung fortan darauf, an der Vorbereitung und Durchführung besonderer Aktionen mitzuwirken, wie z.B. der Friedenskampagne im Herbst 1986 oder einem Kongress Wege zur sozialen Verteidigung im Sommer 1988. Auf den Jahrestagungen der Initiative kam die Friedensarbeit dagegen nicht mehr als selbständiges oder gar übergeordnetes Thema zur Sprache, und auch in den Mitgliederbriefen wurde ihr weniger Platz eingeräumt.
Wenn auch die Grundorientierung auf eine friedliche Konfliktlösung und den Abbau militärischer Rüstung nach wie vor ein zentrales Element des Selbstverständnisses der GHI bildet, ist das Engagement in der Friedensbewegung seit Anfang der 1990er Jahre noch weiter in den Hintergrund getreten. Dafür war ausschlaggebend, dass die große Zahl drängender Probleme, die durch die deutsche Vereinigung und den fortschreitenden Ausbau der Europäischen Union aufgeworfen werden, aus Sicht der Initiative gesteigerte Aufmerksamkeit verdienen. Zudem führten die Auflösung des Ostblocks und die damit zumindest vorläufig beendete unmittelbare gegenseitige Bedrohung mit Atomwaffen dazu, dass der Kreis derjenigen kontinuierlich kleiner wird, die sich in Deutschland weiterhin aktiv mit Friedensfragen beschäftigen. Bei der Aktion Stoppt den Krieg am Golf Anfang 1991 und der im Frühjahr 1994 gestarteten Kampagne gegen die Entwicklung und den Bau eines neuen europäischen Kampfflugzeugs, die jeweils von der GHI mitgetragen wurden, gelang es zwar noch, eine größere Anzahl Friedensgruppen zu gemeinsamem Handeln zusammenzubringen. Aber die öffentliche Resonanz auf diese Aktionen war wenig ermutigend, so dass die Friedensarbeit der GHI derzeit vor allem darin besteht, aus aktuellem Anlass mit eigenen, nicht mit anderen Gruppen abgesprochenen Erklärungen klar gegen den Einsatz von Militär zur Lösung politischer Konflikte und die fortschreitende Militarisierung der deutschen Außenpolitik Stellung zu nehmen.

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