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Politik im medialen Wander­zir­kus. Wie Insze­nie­rung die Politik­ver­dros­sen­heit befördert

Aus: vorgänge Nr. 158 (Heft 2/2002), S. 5-9

Politik ist immer auch Inszenierung, manchmal mehr, manchmal weniger, der Tendenz nach aber immer öfter. [1] Schon seit der Antike ist Inszenierung unverkennbar und untrennbar mit Politik verbunden. Im Mittelpunkt praktisch betriebener Politik steht nie der Inhalt von Entscheidungen allein – ein Inhalt übrigens, durch den stets bestimmte Gruppen oder Individuen bevorzugt und andere benachteiligt werden. Immer steht auch die (erstmals von Harold D. Lasswell so formulierte) Frage im Raum: Wie sage ich wann was zu wem – und mit welchem Effekt? Das zu erkennen und entsprechend zu handeln gehörte und gehört zur Kunst der politischen Rede auf der griechischen Agora genauso wie im römischen Senat oder auf dem Forum, in der Versammlung der Schweizer Landgemeinde ebenso wie im britischen Parlament oder der französischen Nationalversammlung. Wo irgendeine Form von Öffentlichkeit eine Rolle spielt, hat Inszenierung von Politik Bedeutung, nicht nur in der Demokratie, sondern gerade auch in Diktaturen.
In der Demokratie ist der Kampf um Wählerstimmen, die Erringung und Erhaltung von Macht, eine notwendige Voraussetzung für die gesellschaftlich verbindliche Entscheidung über die Verteilung knapper Güter (denn nichts anderes ist Politik). Ohne Abstimmungsmacht gibt es keine inhaltliche Entscheidungsmacht. Zyniker sehen die Kausalität manchmal auch umgekehrt: Eine bestimmte inhaltliche Politik werde nicht zuletzt deswegen betrieben (bzw. unterlassen), um an die Macht zu kommen oder an ihr zu bleiben. Ganz falsch ist das sicher nicht. Die Wahrheit liegt wie so oft dazwischen: irgendwo im Niemandsland zwischen Stimmenmaximierung und substanzieller politischer Gestaltung.
Heute existiert eine scheinbar direkte Beziehung zwischen Politikern und Bürgern über den Bildschirm. Scheinbar deshalb, weil das Medium mit seinen Machern, seinen Gesetzmäßigkeiten und Manipulationsmöglichkeiten ja immer dazwischengeschaltet ist. Die Kommunikationswissenschaftler nennen dieses Phänomen parasoziale Interaktion. Die Gesetzmäßigkeiten des Mediums Fernsehen begünstigen wiederum bestimmte Inszenierungsformen der Politik: Schnelle Statements vor laufender Kamera, zwanzigfach wiederholt (was dann zu dieser seltsamen Stereotypensprache vieler Politiker führt), Talkshows in scheinbar wechselnder und doch längerfristig gesehen immer gleicher Besetzung mit 50 bis maximal 75 Gesichtern und bestenfalls zehn verschiedenen Meinungen – das Ganze bekommt immer mehr Wanderzirkuscharakter.

Der Typus des Inszenierungspolitikers

Begünstigt wird durch diese Inszenierungsformen ein bestimmter Politikertypus, zumindest der Tendenz nach. Kurze Zeit schien es so, als würde Angela Merkel diese Regel durchbrechen, doch mittlerweile sind sich die Beobachter da unsicher. Was bekommen wir? Den mediengerechten, immer das scheinbar richtige Wort findenden Staatsschauspieler mit der Begabung zur absolut überzeugenden Unverbindlichkeit und der Tendenz zur Halbwahrheit (weil die ganze nicht ankäme), zum jederzeit dementierbaren oder auslegungsfähigen Statement (der Prototyp für diese Politikerfigur ist Jörg Haider). Einziger Zweck der Übung ist die Bella figura auf dem Fernsehbildschirm, der Versuch, Punkte zu machen in der immerwährenden Auseinandersetzung der Gladiatoren in der politischen Arena, im permanenten Wahlkampf vor den Fernsehkameras. Maßstäbe für Erfolg und Misserfolg sind Einschaltquoten, TED -Umfragen und die Rankings der Meinungsforscher. Die harte Währung, in der gerechnet wird, ist positives Image, die Chance, mal wieder besser dazustehen als die anderen. Der Preis, den wir dafür zahlen, ist allerdings hoch.
Da bleibt kein Raum für schmerzhafte Eröffnungen oder gar die volle, brutale Wahrheit, denn die könnte ja genügend Leuten wehtun. Wer sie dennoch ausspricht, wird umgehend bestraft. Brutalstmögliche Aufklärung wird zwar schon einmal versprochen, aber selten geliefert. Beispiele? Die volle Wahrheit über unser System der Altersvorsorge und das der Gesundheitsversorgung im Lichte der demographischen und wirtschaftlichen Entwicklung; die prekäre Beziehung von unflexiblem, verkrustetem Arbeitsrecht und struktureller wie konjunktureller Arbeitslosigkeit; die Unvereinbarkeit von Quantität und Qualität im höheren Bildungswesen (die jetzige Bildungsministerin scheint das erkannt zu haben und verzichtet daher weise auf den zweiten Teil der Reise); die lang gehegte Fiktion, Deutschland sei kein Einwanderungsland, oder – umgekehrt – wir könnten der Hafen für alle asylsuchenden Schiffbrüchigen der Welt sein, die dann friedlich vereint in einer multikulturellen, fröhlich bunten Gesellschaft konfliktfrei und einander liebend nebeneinander lebten. Die Liste ließe sich fortsetzen. Wer will, kann hieraus einen Teil der politischen Agenda für die nächsten Bundestage und Bundesregierungen ablesen.

Die Halbwertzeit der Mediendemokratie

Nun werden viele Un- und Halbwahrheiten doch irgendwann entdeckt, das ist geradezu unausweichlich; dann aber sind oft schon wieder andere an der Macht. Ein nicht geringer Teil unserer Politik wird von der Hoffnung getragen, dass es so weit in der Zukunft keine zuschreibbare Verantwortlichkeit mehr gebe, so dass die gebrochenen Wahlversprechen den dann Regierenden und nicht mehr einem selbst zugeschrieben würden. Solche Langzeiteffekte wird es bei den Renten geben, bei den Versäumnissen in der Familienpolitik und in der Bildungspolitik sowie auf lange Sicht auch in der Finanzpolitik. Die Konsequenz: Das sich abzeichnende Desaster wird allen angelastet, den Politikern, den Parteien an sich, keineswegs aber denen allein, die tatsächlich die Verantwortung für bestimmte Nicht- oder Fehlentscheidungen tragen. Die geradezu unausweichliche Folge davon ist Parteien- und Politikerverdrossenheit.
Der neue Politikertypus leistet diesem Phänomen Vorschub. Um ja keine Fehler zu machen, keinen potenziellen Wähler zu verprellen, wird immer häufiger der Tagesbefehl ausgegeben: keine Experimente, Veränderungen bloß nicht jetzt, und über die notwendigen Grausamkeiten reden wir später. Denn die wichtigste Aufgabe in einem Wahljahr ist für einen Politiker die Bemühung um Wiederwahl. Viele Zeitgenossen, vom ehemaligen Bundespräsidenten bis zum Generalsekretär dieser oder jener Partei, fordern eine Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre. Dann habe man mehr Zeit zur politischen Gestaltung, und außerdem würden dadurch die Wahlkampfausgaben gesenkt, denn Wahlkämpfe seien bedauerlicher Weise sehr teuer. Dass damit gleichzeitig den Bürgern ein Stück Mitwirkungsrecht genommen wird, will man entweder bewusst in Kauf nehmen, denn Regierungseffizienz ist für manchen wichtiger als demokratische Teilhabe, oder man verspricht gewissermaßen als Ausgleich dazu die Einführung direktdemokratischer Mitwirkungsrechte. Bei denen sollen dann allerdings so sensible Fragen wie Zuwanderung, Todesstrafe, Politikergehälter, die Einführung des Euro oder Probleme der Außen- und Verteidigungspolitik ausgeklammert werden. Denn da könnten die Bürger ja möglicherweise Entscheidungen fällen, die ganz und gar unvernünftig sind, lies: die man selbst für extrem unvernünftig hält.

Wahlkämpfe neuen Stils

Wie das Wahlergebnis am Abend des 22. Septembers aussehen wird, kann kein seriöser Wahlforscher heute sagen, wohl aber wie der Wahlkampf sein wird, nämlich noch amerikanischer als die vergangenen Kampagnen. Schlagwortartig verkürzt zeichnen sich „amerikanisierte Wahlkämpfe” durch eine nahezu vollständige Personalisierung und eine sehr weit gehende Professionalisierung der Wahlkampfführung aus, ferner durch die Ausrichtung der Wahlkampfinhalte an Marketingvorgaben, durch bewusstes Ereignis- und Themenmanagement und „negative campaigning”, also die Verbreitung schlechter Nachrichten über den Kandidaten des anderen Lagers bis hin zur unterschwelligen Verleumdung. Das alles, letzteres hoffentlich nicht so sehr, werden wir in den nächsten Monaten wieder erleben.
Die Tatsache der Personalisierung ist an sich nicht neu, auch in der Bundesrepublik nicht. Streng genommen waren alle Wahlkämpfe, auch die der 1950er und 1960er Jahre, personalisierte Kampagnen. Durch die fast vollständige Zuspitzung des Wahlkampfes auf die Person eines Kandidaten hat dieser Aspekt allerdings mittlerweile eine neue Bedeutung gewonnen. Der Kandidat ist in den Wahlkämpfen neuen Stils „wichtiger als die Partei“ (Peter Radunski). Als Repräsentant bestimmter, untrennbar mit seiner Person verbundener politischer Aussagen ist er sozusagen selbst die Botschaft; seine Auftritte, die Diskussion seiner Stärken und Schwächen sind das eigentliche Medienereignis. Inhalt der Berichterstattung, namentlich in den elektronischen Massenmedien, sind nicht mehr die Wahlprogramme und politischen Richtungsentscheidungen, die mit dem Wahlausgang verbunden sind, sondern das Abschneiden der Spitzenkandidaten in Debatten und Talkshows sowie die neuesten Ergebnisse der Meinungsumfragen darüber. Die Diskussion um Stoibers Abschneiden bei Sabine Christiansen ist ein schöner Beleg dafür: Da waren Versprecher wichtiger als politische Versprechungen, die Fahrigkeit des Kandidaten bedeutsamer als die Substanz seiner Aussagen. Charakterfragen und die medienvermittelte Glaubwürdigkeit der Kandidaten stehen im Mittelpunkt des Interesses, nicht der Inhalt ihrer Reden. Edmund Stoiber, so viel lässt sich ohne jede Parteilichkeit sagen, wird es im Wahlkampf sehr schwer haben gegen den mediengewandten Wahlkampfprofi Gerhard Schröder.
Dass dabei die politischen Inhalte weit gehend auf der Strecke bleiben, versteht sich fast von selbst. Der Kampf um die Mitte führt zu tendenzieller Ununterscheidbarkeit der Parteien, Kandidaten und Konzepte. Wir bemerken das bereits an der Wandlung des Edmund Stoiber, der sich bald des alten Slogans von Gerhard Schröder aus dem Wahlkampf 1998 bedienen kann, wo dieser versprach, nicht alles anders, aber vieles besser machen zu wollen. Nun hat er doch manches anders, aber nicht unbedingt alles besser gemacht als sein Vorgänger, aber das wird er selber wohl etwas anders sehen.
Für welche Regierung und für welche Koalition man letzten Endes stimmt, weiß man in unserem Wahlsystem mit seinem eingebauten Zwang zur Koalitionsbildung ohnehin nie ganz genau. In den „guten alten Zeiten”, als es nur drei politische Richtungen im Bundestag gab und sich die FDP für alle erkennbar bereits vor den Wahlen für einen Partner entschied – schon aus Selbstüberlebensinteresse -, weil man auf die Stützstimmen aus dem Lager des angezielten Koalitionspartners angewiesen zu sein glaubte, war noch einigermaßen klar, welche Koalitionsoptionen bestanden und für welche man mit seiner Stimmabgabe votierte. Heute, mit fünf Fraktionen im Bundestag, ist das ganz und gar unmöglich. Die Chancen stehen gut, dass nach dem 22. September Koalitionen aus zwei Parteien (außer dem Sonderfall der großen Koalition) keine eigene Mehrheit haben werden. Der Wähler, der für die SPD stimmt, um die rot-grüne Koalition fortzusetzen, findet seine Partei möglicherweise als Mehr- oder Minderheitsgesellschafter einer großen Koalition, möglicherweise aber auch als größte Partei einer Ampelkoalition oder gar einer Minderheitsregierung, und welche Farbschattierungen diese aufweist, ist für ihn noch im Wahllokal völlig unabsehbar. Derartige Ergebnisungewissheit entmündigt die Wähler, ist aber unter den gegebenen politischen Umständen eine notwendige Konsequenz des Verhältniswahlsystems, ein Manko, das systemimmanent nicht zu beheben ist. Ein Blick nach Frankreich mit seiner absoluten Mehrheitswahl mit Stichwahlentscheid im zweiten Wahlgang könnte hier vielleicht die Phantasie beflügeln.
Doch was man auch unternimmt, um die Spielregeln zu ändern und dem Wähler eine halbwegs rationale Entscheidungsfindung zu ermöglichen – solange die Politik sich weiterhin so ungeniert ihrer medialen Selbstinszenierung hingibt, muss man sich noch auf so manche Überraschung gefasst machen. Die verbleibenden Monate bis zum 22. September werden hierfür noch den einen oder anderen eindrucksvollen Beleg liefern.

[1] Bearbeitete Fassung der Rede zum Neujahrsempfang von Pomp, Duck and Circumstance, der Berliner Zeitung und des Berliner Kuriers am 26. Februar 2002.

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