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Birgitta Wolf und Denis Pecic fordern vor Genfer UNO-Kongreß humanen Straf­vollzug

vorgängevorgänge 1810/1975Seite 105-108

Aus: vorgänge Nr. 18(Heft /1975),Seite 105-108

(bg) Vom I. bis 12. September 1975 tagte in Genf der 5. Kongreß der Vereinten Nationen über die Verhütung von Verbrechen und die Behandlung von Straftätern. Birgitta Wolf, die an diesem Kongreß teilnahm, und der Strafgefangene Denis Pecic, Hamburg, legten dem Kongreß einen Antrag an die Generalversammlung der Vereinten Nationen vor, in dem die UNO aufgefordert wird, Initiativen für eine weltweite Humanisierung des Strafvollzugs zu ergreifen. Der Antrag wurde zuerst veröffentlicht in: „Santa fumagazin”, Gefangenenzeitung in der Strafanstalt II, Hamburg-Fuhlsbüttel. Er hat folgenden Wortlaut:

I.
Die Kriminalität ist ein Weltproblem der Menschheit wie die Krankheit. Wie die Weltgesundheitsorganisation WHO die Krankheit in der Welt bekämpft, wäre auch die Kriminalität mit den modernen Erkenntnissen empirischer Humanwissenschaften durch eine „Internationale Kriminologie- und Menschenrechtsorganisation IKMRO / WCHRO” in der Welt zu bekämpfen.

II.
Den von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 angenommenen und verkündeten Menschenrechten ist nach deren Präambel auch für straffällig gewordenen Personen im Strafrecht und Strafvollzug weltweite Geltung zu verschaffen.
Kein Mensch kommt als Krimineller zur Welt. Demzufolge ist jedes Opfer eines Täters in gleichem Maße Opfer der Gesellschaft, in welcher der Täter straffällig geworden ist. Keine Tat ist nur ein situationsbedingtes Geschehen des Augenblicks, sondern die Folge einer Entwicklung in der Gesellschaft, die sie mitzuverantworten hat. Diese moralische Mitverantwortung der Gesellschaft gebietet Aufklärung der Bürger über die Entstehung
der Kriminalität, Möglichkeiten zur Verhinderung der Entstehungsfaktoren schon als Schulfach, wo — wie zum Beispiel in Schweden — neben theoretischem Wissen auch praktisches Üben von Konfliktlösungen in den Klassen geübt wird. Da die Strafe im „Namen des Volkes” ausgesprochen wird, muß die Bevölkerung aufgeklärt werden über das, was sich im jetzigen Strafvollzugssystem als kriminalitätsfördernd, persönlichkeitszerstörend und menschenunwürdig erwiesen hat.
Diese Mitverantwortung unserer Gesellschaft verbietet jede Form von Vergeltungsstrafen im Strafrecht, jede Form unmenschlicher Behandlung inhaftierter Personen und jede Entziehung bzw Einschränkung von Menschenrechten bei straffällig gewordenen Personen und ihren Angehörigen sowie Bezugspersonen, die das für die Behandlung und Resozialisierung sowie für die Sicherheit der Mitmenschen erforderliche Maß an Freiheitsentzug überschreiten.
Das heute noch vorherrschende Schuldstrafrecht muß durch den Begriff „Konsequenzrecht” ersetzt werden. Ein Recht zu Strafen hätten wir nur, wenn es beweisbar wäre, daß der Mensch in einer scheinbaren Wahlsituation mit den Alternativen „gut” und „böse” in der letzten Entscheidung die gleichen Möglichkeiten wie der ihn anklagende Staatsanwalt und der ihn verurteilende Richter und Mitbürger hätte. Da aber der Wille jedes Einzelnen, seine Erkenntnis und die Fähigkeit diese Erkenntnis in die Tat umzusetzen, immer an sein spezifisches Persönlichkeitsbild gebunden sind, und dieses Persönlichkeitsbild wiederum aus Erbanlagen, Erziehung, Umwelteinflüssen, evtl. Krankheiten und einer Unmenge innerer und äußerer Faktoren geprägt wird, wissen wir inzwischen, daß er in der Sekunde der Entscheidung jeweils nur in der Art und Weise handeln kann, in der er letztlich handelt. Und da er selbst weder seine Erbanlagen, noch seine Erziehung, noch das Land und das politische und strafrechtliche System wählen konnte, in das er hineingeboren wurde, haben wir, die vielleicht eine glücklichere Konstellation mitbekamen, kein Verurteilungsrecht. Das Wissen darum nimmt uns das moralistische Strafrecht aus der Hand.
Was uns aber bleibt, ist das Recht zur Konsequenz — ein Konsequenzrecht. Wir haben nicht nur dieses Recht, sondern auch die Pflicht, wenn ein Mensch zu einer Gefahr für sich selbst und seine Mitmenschen wird. Wir haben auch das Recht, die Tat zu verdammen — aber nicht den Täter.
Das Kennzeichen des Konsequenzrechts ist, daß es frei von jedem Vergeltungsgedanken urteilt, daß es die Würde des Menschen auch in seiner tiefsten Entwicklungsstufe achtet, eine emotionsfreie Analyse der Täterpersönlichkeit voraussetzt und als Folge logische Maßnahmen anordnet. Diese Maßnahmen sollen nicht den Menschen diskriminieren, aber darauf ausgerichtet sein, eine Wiederholung der Tat zu verhindern und – wenn es möglich ist — eine Wiedergutmachung zu erreichen.
Alles an Menschenbehandlung, was außerhalb des Strafvollzuges strafbar ist, müßte innerhalb des Strafvollzuges strafbar werden. Wir fordern die Einhaltung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und eine strengere Kontrolle zur Realität der einzelnen Artikel der

Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen:
1. Art 3: Abschaffung der Todesstrafe und Beschränkung jeder von einem Gericht verhängten Sanktion auf eine für die Resozialisierung beziehungsweise Sozialisation erforderliche Behandlungszeit im Vollzug oder außerhalb des Vollzuges. Beschränkung der Zahl der Inhaftierten auf ein Minimum nach holländischem Vorbild und der Erklärung des schwedischen Justizministers im Februar 1975 zur Abschaffung der Gefängnisse in Schweden bis auf sichere Verwahrung für eine kleine Anzahl Gefangener (geschätzt zwischen 300 bis 600). Aufhebung der lebenslangen Freiheitsstrafe — es sei denn, der Täter ist abnorm, gewalttätig, gefährlich und psychisch so deformiert, daß er bei Freilassung eine Gefahr für seine Mitmenschen bedeutet. Diese Fälle gehören aber nicht in einen Regelvollzug, sondern in psychiatrische Kliniken. Regelmäßig wiederholte Überprüfung, wann der Vollzug in einer geschlossenen Anstalt gegen den Vollzug in einer offenen Anstalt oder in Freiheit umgewandelt werden kann. Nach der Anfangszeit Regelurlaub für jeden Gefangenen — auch für Langstrafige und Lebenslängliche.
2. Art 4: Volles Arbeitsentgelt und Sozialversicherung für alle inhaftierten Personen und damit soziale Sicherheit und persönliche Verantwortung für ihre Angehörigen. Der Gefangene bezahlt selbst seine Steuer, seinen Anteil an der Sozialversicherung und kommt für die reinen Lebenskosten in der Anstalt auf.
3. Art 5: Abschaffung der Arreststrafen und sonstigen psychisch und physisch gesundheitsschädigenden Maßnahmen sowie vermeidbarer sensorischer Deprivationen und Beschränkung der Isolationshaft bis höchstens 4 Wochen in Untersuchungs- und Strafhaft. Menschenwürdige Unterbringung in 1- oder 2-Mann Wohnräumen.
4. Art 7: Einführung eines Bundesbeauftragten für den Strafvollzug zum Rechtsschutz inhaftierter Personen gegen Übergriffe der Behörden und ihrer Bediensteten in Untersuchungs- und Strafhaft sowie bei der Polizei.
5. Art 8: Rechtsschutz für Opfer von Fehlurteilen durch ein auf erstinstanzlichem Gesetz beruhendes Wieder-aufnahmerecht und volle Entschädigung für die Opfer.

6. Art 9: Verbot von Abschiebungshaft über die Dauer von 48 Stunden gegen nicht vorbestrafte Ausländer, bei Straffälligen auf Wunsch Rückführung in ihre
Heimatländer — jedoch nicht gegen ihren Willen. Gleichbehandlung mit inländischen
Straffälligen solange Aufenthalt im Gastland.
7. Art 10: Verbot tendenziöser Veröffentlichungen, die unsachlich den Angeklagten inkriminieren, Zeugen zu seinem Nachteil beeinflussen und gerichtliche Urteile präjudizieren. Verbot der vollen Namensnennung vor dem Urteil, vor einer absehbaren Entlassung und in Büchern mit Beschreibung der Kriminalfälle.
8. Art 11 (1): Verbot von Indizienurteilen durch Umgehung der Beweislast.
9. Art 12: Allgemeine Pflicht zur Resozialisierung inhaftierter und straffälliger Personen durch Behandlung mit den modernen Erkenntnissen empirischer Humanwissenschaften, Förderung sozialer und familiärer Kontakte durch freizügige Besuche und Urlaub sowie Arbeitsferien. Bei der Entlassung Gefangener muß für Unterkunft, Arbeit oder soziale Unterstützung gesorgt sein.

III.
Die Bundesrepublik Deutschland (BRD) ist Mitglied der Vereinten Nationen (UNO) und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), erfüllt jedoch ihre durch diese Mitgliedschaft übernommenen Verpflichtungen im Strafrecht, Untersuchungshaft und Strafhaft teilweise nicht voll, teilweise überhaupt nicht:
Die Vernichtung von Millionen unschuldiger Menschen hat nach dem II. Weltkrieg zur Abschaffung der Todesstrafe im Grundgesetz der BRD geführt. Dennoch verletzt die BRD die in den 9 Punkten des Abschnitts II erfaßten Menschenrechte und Grundfreiheiten. Der Vergeltungsgedanke der preußischen idealistischen Philosophie ist noch im deutschen Strafrechtsdenken — nicht am wenigsten bei der Bevölkerung — fest verankert. Das Wiederaufnahmerecht verhindert in unzähligen Fällen berechtigte Anträge auf Neuprüfung von Fehlurteilen. Unzählige Anträge und Beschwerden aus den Gefängnissen sind von Staatsanwaltschaften und Gerichten ohne gebotene Sorgfalt geprüft und abgewürgt worden. Dadurch konnten wehrlose Gefangene von ungeeigneten und psychologisch schlecht geschulten Bediensteten brutal mißhandelt und geschlagen werden (zur Öffentlichkeit trotz Vertuschungsmanövern gedrungene Fälle in der Hamburger „Glocke”, im Kölner „Klingelpütz”, in Mannheim, um Beispiele zu nennen). Die Selbstschädigungs- und Selbstmordversuche in den Gefängnissen sind ungezählt und die Selbstmordquote in den deutschen Anstalten liegt bei 1,6% — Vergleichszahl Selbstmordquote im Bundesdurchschnitt: 0,2%. Rund 80% der Inhaftierten werden rückfällig — bei weitem der Europarekord und eindringliches Beispiel des Bankrotts des Strafvollzuges und der Entlassenenhilfe in der Bundesrepublik.

Diese Rückfalltäter gefährden die innere Sicherheit und bringen dem Steuerzahler neue Kosten durch Fahndung, Polizeiapparat, Urteil und Vollzug. In den Gefängnissen erleiden Langstrafige und Lebenslängliche den grauen Tod mit Aussicht auf Begnadigung im Schnitt erst nach 23 Jahren, während sie andere Nationen in Europa nach 6 bis 15 Jahren begnadigen und Deutsche im Ausland spätestens nach 8 Jahren begnadigt werden, wenn man von NS-Verbrechern absieht. Die Gesetzentwürfe der Regierung der Bundesrepublik und vernünftige Alternativentwürfe zu einem Strafvollzugsgesetz drohen in wichtigen Punkten wahltaktischen Gründen zum Opfer zu fallen. Damit werden zu einem entscheidenden Teil das erfolgversprechende Engagement progressiver Juristen, Politiker, Akademiker, Anstaltsleiter, Vollzugsbediensteter und Journalisten sowie Privatinitiativen aus der Bevölkerung zunichte gemacht. Noch ist trotz Weisung des Bundesverfassungsgerichtes der Zustand in den bundesrepublikanischen Gefängnissen gesetzlos und die Behandlung stützt sich auf das sog. „Gewohnheitsrecht des besonderen Gewaltverhältnisses”. Die Durchführung ist verschieden von Bundesland zu Bundesland. Noch ist es möglich, die menschenzerstörende Isolationshaft über Jahre hinaus zu verhängen (zum Beispiel Fall 17 Ks 4/67: über 3 Jahre totaler Isolation, 6 Jahre Untersuchungshaft, 9 Jahre Einzelhaft). Noch wird in Rheinland-Pfalz der verschärfte Arrest mit hartem Lager und Kostentzug durchgeführt, was nicht nur eine psychische, sondern auch eine physische Form von Tortur bedeutet. In Bayern ist es den Gefangenen mit mehr als 1 Jahr Strafe verboten, an Landtags- und Kommunalwahlen teilzunehmen. Das Gleiche gilt für die Gruppe der Sicherungsverwahrten, die bereits ihre Strafe verbüßt haben, sich aber weiterhin auf unbestimmte Zeit in den Gefängnissen befinden.
Die Mißachtung der Bedingungen des Internationalen Übereinkommens Nr.

29 sowie die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen (Nrn. 57, 72—74) durch Ausbeutung der Arbeitskraft der Gefangenen macht diese zu Sklaven des Staates und beraubt ihre Angehörigen des vom Familienvater verdienten Lebensunterhalts. Darunter haben besonders ausländische Familien sowohl in ihren Heimatländern als auch in der Bundesrepublik zu leiden. Ist eine ausländische Familie durch die Inhaftierung des Familienvaters des Lebensunterhalts beraubt und auf die Sozialhilfe angewiesen, dann ist das ein Grund, die Familie in ihr Heimatland auszuweisen, was für die meisten Familien Not, Elend und noch schlimmere Trennung vom Familienvater bedeutet. Dieser muß dann erbarmungslose Vergeltung ohne Resozialisierungsmaßnahmen erleiden: kein Urlaub und kein Besuch von Familienangehörigen, aber Strafverbüßung wie die inländischen Insassen, bis er dann völlig mittellos in seine Heimat ausgewiesen wird.
In solchen Fällen stiehlt der Staat vom Dieb und betrügt den Betrüger.
Mit aller Eindringlichkeit bitten wir die Vereinten Nationen, dafür zu sorgen, daß auch bei unpopulären Minderheiten, die entmündigt in staatlichen Institutionen gehalten werden, die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen durchgeführt werden und daß die letzte Form der Sklaverei in Europa aufgehoben wird. Darüber hinaus hoffen wir auf ein Umdenken in der Rechtsphilosophie, die zu einer Abschaffung des Strafrechtes und zu einer Einführung des Konsequenzrechtes führt, und somit zu einem nicht diskriminierenden Vollzug von logischen Maßnahmen.

„Keine wirkliche Installierung der Menschenrechte ohne Ende der Ausbeutung, kein wirkliches Ende der Ausbeutung ohne Installierung der Menschenrechte.” (Ernst Bloch)

Birgitta Wolf — Vorsitzende einer deutschen Rehabilitations-Organisation; Ehrenmitglied der Deutschen Kriminologischen Gesellschaft und der Humanistischen Union.
Denis Pecic — Ein Lebenslänglicher als Repräsentant der Gefangenen in der BRD — 24 Jahre in Haft; Verfasser eines Alternativentwurfs zum Strafvollzugsgesetz der BRD (AVollzG).

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