Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 200: Digitale Demokratie

Digitale Insze­nie­rungen in der multiplen Agora

Parteien im Internet

aus: Vorgänge Nr.200 ( Heft 4/ 2012) S. 27-35

„Twitter is like a tragically hip New York night club. It is a cool, easy way for companies to engage customers in social media. But the experience can be loud and crowded.“ (Bob Warfield)

Die Mitgliedschaft in und Organisation von politischen Parteien wird nicht nur durch den Verlust traditionaler Vergemeinschaftungen oder die Individualisierung der Gesellschaft verändert, sondern nicht zuletzt durch medialen Wandel. Was moderne Menschen über die Welt wissen, wird ihnen von Massenmedien vermittelt, so Niklas Luhmann in seinem Buch „Realität der Massenmedien” (1996). Was aber, wenn sich im Medialen ein revolutionärer Wandel vollzieht, der nicht zuletzt den Begriff der Massenmedien selbst prekarisiert? Nichts anderes bedeutet die Entwicklung von Social Media, welche die Idee eines allgemeinen und vorderhand passiven Zeitungspublikums zu Gunsten der echtzeitlichen Interaktion unter Anwesenden zurückstellt. Wie ändern sich im Zusammenspiel mit Medienevolution die traditionellen politischen Organisationen? Bleiben sie vom medialen Wandel unberührt? Werden sie irritiert oder gar obsolet? Wie funktioniert Wahlkampf unter digitalen Bedingungen? Im Folgenden will ich im Anschluss an eine Begriffsklärung des Wahlkampfs und der Politik anhand von Beispielen aus empirischen Studien zeigen, welche Veränderungen der politischen Inszenierung sich aus der Evolution des digitalen Mediums ergeben.

Internet und politische Kommu­ni­ka­tion

Wie alle Medien erzeugen die verschiedenen Nutzeroberflächen des WWW eigene Ästhetiken. Im Anschluss an Marshall McLuhans Diktum, dass das Medium die Botschaft sei (1964), lässt sich vereinfachend formulieren: Jedes Medium schafft sich „seine” Nutzerinnen und Nutzer, die sich der Ästhetik des jeweiligen Mediums angleichen müssen, um dieses erfolgreich bedienen zu können. Von „dem” Internet als einem Sammelbegriff zu sprechen ist aus dieser Perspektive dann nicht mehr sehr sinnvoll, vielmehr geht es darum, verschiedene Oberflächen (wie Blogs, Facebook, Youtube, twitter u. v. m.) nach ihrem jeweiligen Eigensinn und ihren Restriktionsbedingungen zu befragen. Dann gerät beispielsweise in den Blick, dass Facebook die politische Kommunikation zu einer Politik der Freundschaft verpflichtet und um die Konfliktdimension bringt oder dass Twitters Oberfläche gewissermaßen zur Vereinzelung der Nutzerinnen und Nutzer beiträgt. In der politischen Debatte freilich redet man häufig allgemein von „dem Internet” als einem Sammelbegriff und diskutiert, ob „es” „demokratisch(er)” sei, ob „es” sich für den Wahlkampf eigne und ob „es” dazu dienen könne, Verdrossenheiten an der etablierten Politik zu bearbeiten.

Aus einer soziologischen Perspektive sind diese allgemeinen Fragen nicht beantwortbar. Es gerät eher in den Blick, dass neue Medien neue Formen der politischen Performanz und Inszenierung herstellen. Empirisch kann man sich dann dafür interessieren, wie unterschiedliche digitale Oberflächen dies jeweils tun. Empirische Untersuchungen zeigen, dass jedes Medium eine eigene Art hat, politische Selbstdarstellungen von Politikerinnen und Politikern aber auch der politischen Organisationen und ihrer Kampagnen sichtbar zu machen. In der Konsequenz gibt es eine Multiplizierung der politischen Darstellungen, je nachdem, wie viele Nutzeroberflächen, zum Beispiel wie viele unterschiedliche Social Media, in den Blick genommen werden. Ich beziehe mich im Folgenden auf empirisches Material zu drei Studien zu Parteiorganisationen (Siri 2012), zur politischen Kommunikation auf Facebook (Siri, Melchner & Wolff 2012) und eine bisher noch nicht publizierte Studie über politische Kommunikation auf Twitter. Ich werde weniger auf die konkreten Studien eingehen, sie bilden aber die Grundlage der Erörterungen und sollen daher nicht unerwähnt bleiben. Alle drei Studien interessieren sich dafür, wie etablierte politische Organisationen mit der Emergenz des digitalen Mediums umgehen und ob, bzw. wie sie durch dieses Medium praktisch herausgefordert werden.

Wahlkampf und Politik: Eine begriff­liche Klärung

Blickt man in die Literatur zu Social-Media-Kampagnen oder spricht man mit Parteimitgliedern über Online-Wahlkampf, so geraten Mythen wie die Obama-Kampagne und der idealen Partizipation in den Blick. Ich komme anhand von Beispielen darauf zurück. Aus einer soziologischen Perspektive muss aber zunächst danach gefragt werden, was genau der Eingrenzungsbereich des Begriffs „Wahlkampf” ist und was eigentlich Politik. Denn Wahlkampf ist aus soziologischer Perspektive ein unscharfer Begriff und Politik bedeutet je nach theoretischer Perspektive auch ganz unterschiedliches.

Zunächst zum Begriff des Wahlkampfs: Während eine herkömmliche politikwissenschaftliche Perspektive Wahlkampf bspw. als eine zeitlich abgegrenzte Phase im Wettbewerb der Parteien bezeichnen könnte, die über den Politikalltag hinausgeht, ist eine solche Abgrenzung aus einer organisationssoziologischen, an der Wahlkampfpraxis interessierten Perspektive weniger überzeugend (vgl. auch Roessing 2007, Schoen 2007). Denn erstens findet immer irgendwo Wahlkampf statt und zweitens ist das Mobilisierenund das Überzeugen von potentiellen Publika aus soziologischer Perspektive ein zei stabiles Ziel der politischen Arbeit in Parteien. Ähnlich wie also Parteiorganisatione stets damit befasst sind, sich zu reformieren, so sind sie auch permanent damit beschä tigt, Wahlkampf zu organisieren. Die Sichtbarkeit, das „Jetzt ist Wahlkampf” oder „di heiße Phase” müssen dementsprechend auch durch Auftakt Veranstaltungen eingeläultet, also konkret als organisationaler Akt symbolisiert werden. Es ist daher soziologisch nicht plausibel, zwischen der Wahlkampfkommunikation als einem „Spezialfall” der politischen Kommunikation und davon abgrenzbaren, quasi alltäglichen politische Kommunikationen zu unterscheiden. Vielmehr weist der Begriff des Wahlkampfes darauf hin, wie sehr Politik und Publikum darauf angewiesen sind, den politischen Allta mit Schneisen für Rituale und Symbole zu durchschlagen, an die Organisationen un Individuen andocken können.

Wie lässt sich außerdem Politik soziologisch fassen? Ich werde mich im Folgende auf eine systemtheoretische Lesart des Begriffs beziehen, die ich von Niklas Luhman übernehme. Mit Luhmann kann die Aufgabe der Politik in der modernen Gesellscha als Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen beschrieben werden (2000), Die moderne Gesellschaft ist „eine Gesellschaft ohne Sprecher und ohne innere Repräsentanz” (Luhmann 1981: 19). Das bedeutet, es gibt keinen Ort mehr in der Gesellschai der aus sich heraus für alle sprechen kann. Stattdessen gibt es systemische Eigenlog ken, die von einander entkoppelt wirken. Politik hat nun die paradoxe (denn praktisch unlösbare) Aufgabe, so zu tun, als könne sie für die gesamte Gesellschaft sprechen und  entscheiden. Sie kann daher in einer modernen Gesellschaft immer nur enttäuschen. Ein aktuelles Beispiel hierfür wäre, dass die Finanzmärkte sich eben nur wenig für politische Kritik interessieren und ihrer Eigenlogik der Profitmaximierung folgen. Krisend agnosen und Diagnosen der Politikverdrossenheit sind die Formate, in denen sich die Enttäuschung über den Verlust des politischen Primats dann äußert. Der Soziologe Armin Nassehi hat außerdem gezeigt, dass, weil Politik nicht mehr für die gesamte Gesel schaft sprechen kann, auch die Herstellung von Kollektiven und Publika, denen eine politische Entscheidung zugerechnet werden kann, besonders wichtig wird. Nasse] argumentiert, dass politische Kommunikation sich nicht schlicht an ein gegebenes Pul likum richte, sondern die Leistung politischer Kommunikation gerade in der Herstellun des Publikums bestehe. Politik, so Nassehi, steuere weniger die Gesellschaft als ihr Publikums (Nassehi 2006: 345£). Hierzu ein Beispiel aus der Empirie. Ein Mitarbeiter in  einer Parteizentrale formuliert im Interview:

„Früher hat man sich relativ sicher sein können, wie die Basis auf ein Thema reagieren  wird. Heute wissen wir das nicht mehr. Selbst ausführliche Befragungen, die X gi das auch nicht her. (..,) Mit dem Wähler verhält es sich ähnlich und wir sind eben dazu da, das auszugleichen, und für Basis und Wähler gleichsam die Gedanken zu mache und abzuschätzen, wie die Reaktion auf einen Issue erfolgt.”

Es bildet sich also in der Parteiorganisation eine Rolle des Spurensuchers heraus, das  sich in Basis und Wähler einfühlen soll. Selbst was die eigenen Mitglieder denken, ist nicht mehr klar. Denkt man dies weiter, so wird deutlich, wie wichtig es für die War kampfkommunikationen der Parteien ist, welche Vorstellungen sich Menschen wie dieser Mitarbeiter von der ,Basis‘ und dem Elektorat machen. Politische Reden, politiscche Bilder und Symbole, die Performanz der Darstellung von Rollenträgern u. v. m. können also daraufhin untersucht werden, wie sie mit der Paradoxie umgehen, die „ganze Gesellschaft” in der politischen Gegenwart herzustellen oder die Identität einer Organisation zu symbolisieren. Wörter wie Symbolisierung und Inszenierung verlieren übrigens anhand dieser theoretischen Betrachtung den Generalverdacht der Unaufrichtigkeit. Denn sie beschreiben keine unaufrichtige oder entfremdende Praxis, sondern die Realität politischer Arbeit in einer modernen Gesellschaft, die ihre Individuen nicht mehr „von der Wiege bis zur Bahre” an einem gesellschaftlichen Ort und in einem Stand verortet. Daher kann auch Politik diese Verortung nicht mehr leisten und ist darauf angewiesen, Angebote für Kollektivitätsvorstellungen zu entwerfen, an denen sich die Bürgerinnen und Bürger orientieren können. Besonders deutlich wird dies am Beispiel von Wahlkämpfen, in welchen die politischen Organisationen ihr Verhältnis zum Publikum über mediale Kommunikation zu gestalten suchen.

Politische Kommu­ni­ka­tion im Internet: Der Zwang zur Insze­nie­rung

Wenn man den oben stehenden Politikbegriff nutzt, kann man Wahlkämpfenden schwerlich vorwerfen, dass sie „nur” eine Inszenierung der Politik abliefern würden. Vielmehr gerät in den Blick, dass (jedenfalls in einer modernen Demokratie) nichts anderes möglich ist, weil die Voraussetzung des totalisierenden Sprechens für alle oder für große Gruppen endgültig entfallen sind und Politikerinnen und Politiker in jeder sozialen Situation versuchen müssen, sich ein unbekanntes Publikum vorzustellen und möglichst gut zu erreichen. Was sonst sollten sie tun? Insofern sind Vorwürfe gegen die Inszeniertheit von Politik im Web und Web 2.0 nicht fruchtbar, sondern naiv. Weder stellt Politik im Web 2.0 bloß eine weitere Repräsentation im negativen Sinne symbolischer Politik im Sinne Murray Edelmans (2005) dar, noch eine Revolution, die gar zur Abschaffung politischer Organisationen führen könnte. Während die erste Perspektive daran vorbeisieht, dass Symbolisierung alles ist, was Politikerinnen und Politikern in einer Demokratie übrig bleibt, unterschätzt die zweite Perspektive, welch wichtige Stablisierungsleistung Organisationen (in all ihrer Behäbigkeit und Langweiligkeit) für die moderne Gesellschaft erbringen. Was sich soziologisch hingegen zeigen lässt, ist, wie Politikerinnen und Politiker sowie ihre Angestellten praktisch mit den neuen Möglichkeiten und Unsicherheiten umgehen, die sich aus dem neuen Verhältnis von Organisation, politischem Aktivismus und Medienevolution ergeben. Dabei kann nicht allgemein von „der” Politik im Internet gesprochen werden, da sich das Internet als Hypermedium wie auch schon das politische Publikum der Einheitszuschreibung entzieht. Im Folgenden werde ich daher stets Auskunft darüber erteilen, über welche Nutzeroberfläche die Interviewten sprechen. Zunächst sollen aber zwei Abklärungen erfolgen, die für das Verständnis des Feldes recht wichtig sind.

Mythos Obama vs. Realität des Wahlkampfs in der BRD

Eine noch immer erfolgreiche Diagnose der Wahlkampfforschung ist die einer irgend-wie gearteten ,neuen‘ Personalisierung und medialen Inszenierung der Kandidaten. Da-bei wird in der Literatur häufig auf amerikanische Wahlkämpfe Bezug genommen, besonders oft auf die erste Clinton-Kampagne und die Inszenierung von Barack Obama. Gerade hinsichtlich der Darstellung Obamas wird dabei deutlich, wie sehr Medien, politische Praxis aber auch die Forschung an der Mythenbildung beteiligt sind. Viele Autorinnen und Autoren versuchen ungeachtet der unterschiedlichen Wahlsysteme und Gepflogenheiten, eine Übertragung der Obama-Kampagne auf die BRD und andere Länder zu leisten. Dies kann zum Problem für die praktische politische Arbeit werden, So er-zählt ein Wahlkampfmanager im Interview:

„Ja, also der Punkt is ja der, viele haben ja immer versucht, den Wahlkampf von Obama zu kopieren. Und haben gesagt, „der hat das mit’m Internet auch geschafft, der hatte Millionen von Spenden gesammelt, und machen wir mal ne Seite und dann sind wir Millionäre”. Das war so bei einigen Leuten so die Ansicht, ne. So nach dem Motto wenn Obama das kann, können wir das auch. So, und da musste man dann leider Gottes, immer Knüppel zwischen die Beine werfen, und dann die Leute auf den Boden wieder runter holen, und sagen Leute: Ja das ist ja schön, wenn Obama das super konnte, aber in den USA, was da funktioniert, funktioniert bei uns in Deutschland noch lange nicht, weil das Internetsurfverhalten ein ganz anderes ist, und auch das Wählerverhalten ein ganz anderes ist. Und auch das Verhalten der Parteimitglieder ganz anders ist.” (Herr B, Wahlkampfmanager einer im Bundestag vertretenen Partei)

Herr B ist genervt, weil er ständig mit den übertriebenen Erwartungen seiner Parteimitglieder und Kandidaten hinsichtlich des Wahlkampfs in Social Media konfrontiert wird. Er ist als Zuständiger für Onlinewahlkampf auch davon entfernt, eine konzertierte New-Media-Strategie auszuloben. Deutlich wird an diesem Beispiel, wie der erste Obama-Wahlkampf als Mythos die Erwartungen ganz unterschiedlicher Akteure formt, die an der Realität der Nutzung von Social Media für Wahlkämpfe in der BRD gemessen, deutlich zu hoch gesteckt sind.
Mythos Strategie vs. Spielwiese.  Auch im folgenden Interviewauszug wird der Mythos Obama wieder auftauchen, wenn es um einen weiteren gepflegten Mythos geht: Den Mythos der elaborierten New-Media-Strategie, der ungefähr lautet, dass die Parteien nach Vorbild der USA genau ausgearbeitete Strategien für den Internetwahlkampf besäßen und die Internetkommunikation von Berufspolitikerinnen und Berufspolitikern infolgedessen genau gemonitored würde. Die Studien meiner Kolleginnen und mir kommen zu einem anderen Ergebnis. Die Strategien der Parteizentralen sind unterschiedlich professionell aber eher rudimentär und die meisten Politikerinnen und Politiker finden sich in Social Media so gut (oder schlecht) zurecht wie andere Menschen auch. Eine Abgeordnete formuliert:

„Also ich, wie stark man das am Ende wirklich nutzen kann, finde ich ist irgendwie noch nicht raus. Ich mein das ist jetzt halt grad die Generation würde ich sagen. Und, ähm, ja, jetzt machen das halt sozusagen relativ viele. Deswegen mache ich’s auch. Ja und wie sehr das aber tatsächlich, also es gab am Anfang ja son paar herausragende Politikerbeispiele auch, die ich glaube die das so ganz gut genutzt haben. Man wusste irgendwie immer, dass Obama seinen Wahlkampf so gemacht hat. […] Ja und dann hat man sich natürlich gedacht dann probiert man das auch mal. (…) Also ich probiers jetzt, ich seh mich son bisschen als Testgeneration. Ich probiers jetzt einfach mal aus und schau, inwieweit sich damit Politik machen lässt […] Also ich kann, und wie, was ich auch einfach schwer sagen kann is, wie intensiv die überhaupt meine Sachen lesen.”(Frau A, MdB)

Weil es viele machen, mache sie es auch, sagt Frau A und auch, dass sie ja nicht so genau wisse, was es bedeute, auf Facebook mit Leuten befreundet zu sein und sie sich frage, ob die Leute ihre Posts überhaupt lesen. Statt einer professionalisierten und konzertierten Medienstrategie sehen wir, dass die Politiker, wie alle anderen User auch, damit beschäftigt sind, sich das Medium anzueignen. So lässt es sich übrigens auch erklären, dass immer wieder kleine Skandälchen entstehen, die aus einer nicht geschulten Nutzung von Social Media resultieren.

Authen­ti­zität und Insze­nie­rung

Mit einem letzten empirischen Beispiel möchte ich darauf eingehen, wie eine Inszenierung als Spitzenpolitiker in Social Media funktionieren kann. Ist hier alles anders und neu? Und ist es wirklich so, dass die Politiker unbedingt selbst in das Medium eintauchen müssen, um authentisch zu wirken? Ich habe zuvor argumentiert, dass jedes Medium seine eigene Logik einbringt und es wird am folgenden Beispiel deutlich werden, wieso das so wichtig ist. Als Beispiel dient die Inszenierung der Privatheit von Frank Walter-Steinmeier aus 2011, kontrastiert mit einem Bild des Kanzlers Helmut Kohl, seiner Ehefrau und einem kleinen Reh.

Während wir zur rechten eine Inszenierung der Privatheit im Stile der deutschen Unterhaltungsfilme der 1970er Jahre betrachten, sehen wir zur linken einen Facebook-Post; der dieselbe Funktion, eine Darstellung der Privatheit, zum Ziel hat. Die Intention ist dieselbe, die ästhetische Form differiert je nach Medium. Weiterhin ist der Post Steinmeiers, der hoch beliebt war (152 Menschen gefällt das) kein von Steinmeier selbst angefertigter Post sondern ein Zitat aus einem verlinkten Interview im Tagesspiegel. Das scheint aber den Erfolg im Medium Facebook nicht zu beeinträchtigen. Die Userinnen und User antworten, als hätte „Frank” selbst gepostet und nicht sein Team, die Inzenierung ist in diesem Falle gelungen.

Die Plura­li­sie­rung von Wahlkampf­kom­mu­ni­ka­ti­onen

Die Parteipolitik im Intemet und in Social Media steckt in der BRD noch in den Kinderschuhen, auch wenn manche Literatur und Protagonisten von Parteien einen gegenteiligen Eindruck erwecken. Statt einer hoch strategischen und „amerikanisierten” Kampagnenführung gerieten bei den hier angesprochenen Studien eher eine Pluralisierung von ästhetischen Formen der politischen Kommunikation, viele Missverständnisse und — abseits von Einzelpersonen — ein langsames „learing by doing” in den Blick. Social Media und das Internet sind eben nun da und werden demgemäß auch für Wahlkämpfe genutzt, gleichzeitig wird gerade in den etablierten Parteien deswegen beileibe nicht alles anders. Parallel finden sich Wahlkampfformen, die auch die von den Parteizentralen als traditionell eingeordneten Schichten ansprechen sollen, sowie personalisierte Strategien einzelner Kandidaten. Und es scheint, dass diese Kandidaten und ihre Mitarbeiter nicht unbedingt stets eine ausgefeilte Strategie vor Augen haben, sondern beispielsweise auf Facebook Erfahrungen machen, die auch durchschnittliche Nutzer machen. Gemein ist den Wahlkämpfenden, dass ihre Idee einer politischen Öffentlichkeit, die sie zu adressieren suchen, prekär und uneindeutig wird. Das hat das erste Interviewbeispiel gezeigt. Was beobachtbar wird, ist die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Kommunikationsstrategien und die Eigenlogiken der jeweiligen Werbepraxen. Gleichzeitig bleiben viele traditionelle Themen eines Wahlkampfes, wie die Darstellung des männlichen Politikers als glücklicher Partner in einer heterosexuellen Ehe, erhalten.

Plura­li­sierte Öffent­lich­keit, empfind­liche Organi­sa­ti­onen

Die Tatsache, dass es nicht mehr ein Publikum und eine politische Öffentlichkeit gibt, hat Jürgen Habermas bereits in den 1960er Jahren umgetrieben. Im „Strukturwandel der Öffentlichkeit” beschrieb er den Verfall der öffentlichen Sphäre am Ende der bürgerlichen Gesellschaft und argumentierte, dass neue zivilgesellschaftliche Akteure das leisten müssten, was organisierte Massenmedien nicht mehr zu leisten in der Lage seien. Die Entstehung der Piratenpartei hat er wohl eher nicht imaginiert. Und doch scheint diese in aller Naivität einige Forderungen Habermas‘ umsetzen zu wollen: Der Zugzwang des besseren Arguments soll sich in Liquid Democracy Verfahren beweisen, jeder und jede soll mitreden dürfen und vor allem größtmögliche Transparenz herrschen. Inwiefern diese neue Bewegung als Partei Erfolg haben wird, wird die Zeit zeigen. Sie artikuliert jedoch den der politischen Organisierung inhärenten Widerspruch zwischen Repräsentation und Partizipation. Denn Organisation bedeutet eben, dass wenige die Kollektivität der Vielen organisieren.

Ich fasse zusammen: Bereits in den 1960er Jahren hat Jürgen Habermas gezeigt, dass das Ideal einer politischen Öffentlichkeit sich in der modernen Massendemokratie mit ihren etablierten Medien nicht mehr verwirklichen lasse. Frei nach Luhmann lässt sich ergänzen, dass die Idee der „einen” Öffentlichkeit die Einheitszumutung eines politischen Beobachters an eine Gesellschaft darstellt, die keine Einheit mehr kennt. Radikalisiert scheint sich dies dort zu vollziehen, wo Social Media all jene ausschließen, die nicht online sind. Social Media sind nicht schlicht vorhanden, sondern emergieren echtzeitlich aus Praktiken ihrer Nutzung und zerfallen im Moment des Nichtgebrauchs, in dem Moment in dem nicht gelesen und geschrieben wird (Lessig 2008). Dies macht sie so interessant für eine Beobachtung moderner Politik und entfernt sie von den politischen Organisationen, deren Zeitperspektive eine ganz andere ist und die ihrer Entwicklung daher stets hinterherzuhecheln scheinen. Die Idee der Massengesellschaft und ihrer Massenmedien wird angesichts Social Media auf die Probe gestellt. Social Media bestehen auf Präsenz und verschließen sich der Organisation, wie sich besonders auf Twitter gut beobachten lässt, einem Medium, dass sich aufgrund seiner Geschwindigkeit allen entzieht, die nicht ad-hoc online sind. Für Organisationen hat diese Echtzeitlichkeit der Social Media den Effekt, dass sie sie nur schlecht beobachten und einschätzen können. Diese latente Unbeobachtbarkeit macht sie gewissermaßen auch unerheblich für traditionelle politische Organisationen. Gleichzeitig gibt es in den Parteien eine kleine Zahl an Personen, die als Heavy User durchaus die Social Media in die Organisation hereinbringen und so Nervosität, Irritationen und Handlungsbedarf erzeugen. Was es nun politisch bedeutet, wenn jede Nutzeroberfläche sich „ihre eigenen Politiker herstellt”, darüber lässt sich bisher nur spekulieren. Vielleicht könnte es so sein, dass sich die Bürgerinnen und Bürger auch aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen als Netzbürgerinnen und Netzbürger daran gewöhnen, in unterschiedlichen Medien unterschiedliche politische Performances zu beobachten, ohne eine Heilung dieser „Zersplitterung” und Multiplizität zu erwarten.

Literatur

Edelman, Murray 2005: Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns. Frankfurt/M: Campus.
Lessig, Lawrence 2008: Remix. London: Penguin Books.
Luhmann, Niklas 1981: Politische Theorie im Wohlfahrtstaat. München: Olzog Verlag. Luhmann, Niklas 2000: Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas 2004: Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden: VS Verlag.
McLuhan, Marshall 1964: Understanding Media. The extensions of men. New York: Mentor. Nassehi, Armin 2006: Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Roessing, Thomas 2007: Wahlkampf und Wirklichkeit – Veränderungen der gesellschaftlichen Realität
als Herausforderung für die empirische Wahlforschung. In: Jackob, Nikolaus (Hg.), Wahlkämpfe in
Deutschland. Fallstudien zur Wahlkampfkommunikation 1912-2005. Wiesbaden: VS-Verlag: S.
46-56.
Schoen, Harald 2007: Ein Wahlkampf ist ein Wahlkampf ist ein Wahlkampf? Anmerkungen zu Konzepten und Problemen der Wahlkampfforschung. In: Jackob, Nikolaus (Hg.), Wahlkämpfe in Deutschland. Fallstudien zur Wahlkampfkommunikation 1912-2005. Wiesbaden: VS-Verlag: S. 34-45.
Siri, Jasmin 2012: Parteien. Zur Soziologie einer politischen Form. Wiesbaden: Springer VS.
Siri, Jasmin/Melchner, Miriam/Wolff, Anna 2012: The Political Network – Parteien und politische Kommunikation auf Facebook. In: Kommunikation @ Gesellschaft –„Phänomen Facebook“, Hg. von Christian Stegbauer, Jan-Hinrik Schmidt, Klaus Schönberger & Nils Zurawski. 29 Seiten. Online abrufbar unter: http://www.ssoar.info/ssoar/View/?resid=28273.
„Twitter is like a tragically hip New York night club. It is a cool, easy way for companies to engage customers in social media. But the experience can be loud and crowded.“ (Bob Warfield)

nach oben