Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 200: Digitale Demokratie

Konstruk­tive Kohabi­ta­tion oder Konflikt der Kulturen

Internet-Governance im Spannungsfeld verschiedener Regulierungsmodelle

aus: Vorgänge Nr. 200 ( Heft 4/2012), S.54-66

Das Internet und die Art und Weise, wie es „regiert” wird, entwickelt sich zu einer der großen politischen Kontroversen der kommenden Jahre. Mehr als drei Milliarden Menschen sind jetzt online und fordern im Cyberspace die gleichen universellen Rechte ein, die sie offline haben. Das Netzwerk unterstützt jährlich Geschäfte von mehreren Billionen Dollar und ist aus der Weltwirtschaft nicht mehr wegzudenken. Das Internet spielt eine immer größere Rolle für die innere und äußere Sicherheit von Staaten. Damit ist das Netz zu einer kritischen Infrastruktur und strategischen Ressource geworden, die zunehmend in nationale und internationale Auseinandersetzungen hineingezogen wird, bei denen es um Macht und Geld und Menschenrechte geht. Das Internet, so wie wir es aus der Vergangenheit kennen, gerät dabei selbst immer stärker unter Druck und es ist offen, wie es sich weiter entwickeln wird.

Um es zuzuspitzen und einfach zu sagen: Entweder das Internet bleibt ein freies, offenes und grenzenloses Netzwerk, das Innovation, Wirtschaftswachstum, soziale Entwicklung und ungehinderte Kommunikation ermöglicht oder es findet eine Kehrtwende in Richtung eines verregelten, beschränkten, zensierten und fragmentierten Internet statt wo nationale Politiken von Regierungen und kommerziellen Interessen von Unternehmen individuelle Rechte und Freiheiten von Milliarden Internetnutzern einschränken oder gänzlich strangulieren.

Regierungen entdecken das Internet

Schon vor dem „Arabischen Frühling”, vor allem aber danach haben Regierungen das bislang weitgehend von nicht-staatlichen und privaten Organisationen gemanagte Internet als ein „politisches Problem” entdeckt und angefangen nach Wegen zu suchen, das Internet unter ihre Kontrolle zu bekommen. Auf der Agenda der Treffen der G-8, der G-20 und der Vereinten Nationen tauchen jetzt Internet-Fragen als Themen mit hoher Priorität auf. Die Europäische Kommission, OECD, Europarat, die Shanghai-Gruppe mit China und Russland, die IBSA-Gruppe mit Indien, Brasilien und Südafrika, ITU, UNE-SCO, WIPO, WTO und andere zwischenstaatlichen Organisationen fangen an, sich intensiv mit dem Internet zu beschäftigen und geraten damit zunehmend in Konflikt mit dem bereits existierenden und gut funktionierenden Internet Governance Eco-System. Dieses globale Internet Governance Eco-System konstituiert sich heute aus:

  • nicht-staatlichen Netzwerken wie dem Internet Governance Forum (IGF), der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN), den Regional Internet Registries (RIRs), der Internet Engineering Task Force (IETF), der Internet Assigned Numbers Authority (IANA), dem Intemet Architecture Board (IAB), der Internet Society (ISOC), dem World Wide Web Consortium (W3C) sowie dem Institute for Electrical and Electronic Engineers (IEEE);
  • weltweit aufgestellte private Unternehmen wie Google, Yahoo, Amazon, Apple, eBay, Facebook, Twitter, Wikipedia, Microsoft, Cisco, YouTube, Grokster, VeriSign, Neustar, Afilias etc.
  • zivilgesellschaftliche Organisationen wie Transparency International (TI), Human Rights Watch (HRW), Association for Progressive Communication (APC), Electronic Frontier Foundation (EFF), Non-Commercial User Organisation (NCUC), At Large Advisory Committee (ALAC), Electronic Privacy Införmation Center (EPIC), Global Internet Governance Academic Network (GIGANET) und Wikileaks kritisch die Internet Welt begleiten und 
  • Zehntausende von individuellen Blogs die für ein globales Publikum publizieren und Mailing Listen managen.

Jahrelang war das Internet ein mehr oder minder separater Raum für Geeks und Freaks. Das Intemet entwickelte sich zwar nicht in einem rechtsfreien Raum, aber weitgehend im Schatten staatlicher Regulierung. Niemand kam nach der Erfindung des TCP/IP- oder des HTTP-Protokolls auf den Gedanken, das Internet politisch zu regulieren und ein nationales Internet-Gesetz zu verabschieden oder eine internationale Internet Konvention zu verhandeln. Die sogenannte Internet Community, bei der die Entwickler, Anbieter und Nutzer von Internetdiensten aller Art auf vielfältige Weise kommunizieren und kollaborieren, gab sich ihre eigenen Regeln, schuf sich ihre eigenen (Regierungs-) Organisationen und entwickelte selbständig Politiken in einem offenen, transparenten von unten angeschobenen Verfahren, das auf den Erhalt und die Entwicklung eines of fenen, freien, grenzenlosen und sicheren Internet zielte. Der Erfolg sprach für sich: Binnen 20 Jahren vertausendfachte sich die Zahl der Internetnutzer.

Das Internet als globales Medium

Eine ganz entscheidende Rolle spielt dabei der Fakt, dass das Internet sich von Anfang an global konstituierte. Es entwickelte sich nicht, wie z.B. Telegraphie und Rundfunk im 19. und 20. Jahrhundert, zunächst als nationales Medium. Es gab und gibt kein Internet für die USA oder ein Intemet für Deutschland oder ein Internet für Brasilien. Das Internet ist ein Netz von Netzwerken das Computer weltweit miteinander über ein System von Servern und Routern verbindet und wo eine Kommunikation wie das Versenden einer E-Mail oder der Zugang zu einer Website mehrfach Ländergrenzen über-schreitet, ohne dass das den Sender oder den Empfänger der Kommunikation interessiert.

Das Internet ist zwar immer als eine „Kommunikationstechnologie” bezeichnet worden, aber tatsächlich kann man das Internet nicht mit anderen Kommunikationstechnologien wie Telegraphie oder Rundfunk vergleichen. Telegraphie und Rundfunk sind hierarchisch organisierte Medien mit einer „Zentrale” (Fernmeldeamt oder Rundfunksender), die innerhalb einer territorial definierten Jurisdiktion operieren. Ihre Tätigkeit wird durch nationale Telekommunikations- und Rundfunkgesetze geregelt. Zur Lösung grenzüberschreitender Probleme verhandelten und verhandeln Regierungen völkerrechtliche Verträge wie die Internationale Telegraphen Konvention von 1865 und deren Nachfolger, den Genfer Rundfunkfriedenspakt von 1936 oder die Urheberrechtsverträge, die im Rahmen der WIPO abgeschlossen werden.

Das Internet hat aber keine Zentrale, die man in einem politisch kritischen Moment besetzen oder abschalten könnte. Es gibt keine Hierarchie, keinen „killing switch” und es ist nicht an ein physisches Territorium gebunden, wenn man mal davon absieht, dass ein Server natürlich einen physischen Ort braucht von dem aus er operiert. Fällt aber ein Server aus (oder wird von einer Regierung abgeschaltet) dann sucht sich die E-mail oder der Request nach einer Website eine andere Route und gelangt in aller Regel ans Ziel, vielleicht mit einer Verzögerung von wenigen Sekunden.

Es war und ist gerade diese dezentrale Netzwerkarchitektur, das sogenannte end-to-end Prinzip (e2e), die diese nie zuvor in der Menschheitsgeschichte gekannte explosionsartige Verbreitung einer Technologie ermöglicht hat, die Individuen und Institutionen befähigt hat, jederzeit von jedem Ort mit jedermann in Schrift, Ton, Bild und Video zu kommunizieren.

Die Verall­täg­li­chung des Internet

Mit den zu erwarteten fünf Milliarden Internet Nutzern bis zum Jahr 2020 ist das Internet aber gleichzeitig nun endgültig aus dem Schatten staatlicher Regulierung herausgetreten und wird zunehmend zum Gegenstand einer Diskussion, die partiell darauf ab-zielt, den Geist der Internet-Freiheit zurück in die Flasche zu regulieren aus der er schon vor Jahrzehnten entwichen ist. Das Internet ist in der Tat heute nicht mehr ein Feld für Geeks und Freaks, es ist Teil der realen Politik und Wirtschaft, ja der gesamten Gesellschaft geworden. Es gibt nicht mehr ein „reales Leben” hier und ein „virtuelles Leben” dort. Das Internet ist nicht nur ein Teil unseres Alltags, es bestimmt diesen Alltag mehr und mehr.

Da das Internet alle Lebensbereiche durchdringt ist es unvermeidlich, das nahezu alle öffentlichen gesellschaftspolitischen Fragen wie Menschenrechte, nationale Sicherheit, Schutz des geistigen Eigentums, Wettbewerb, Meinungsäußerungsfreiheit, Daten-und Konsumentenschutz etc. vermischt werden mit technischen Aspekten wie die Zuordnung und Verwaltung von Domain-Namen, IP-Adressen, Root-Servern, Intemet Pro-tokollen, Codes und Standards. Das Problem für die traditionelle Politik ist, dass viele der technischen Internet Spezifikationen politische, wirtschaftliche, kulturelle und soziale Implikationen haben, die ihrerseits zwangsläufig in den Bereich der öffentlichen Politik eingreifen.

Das hat erhebliche Konsequenzen. Die „Veralltäglichung” des Internet provoziert einen „Clash of Cultures”, einen gesellschaftlichen Kulturkonflikt, bei dem zwei unterschiedliche Politikmodelle aufeinanderprallen. Unser gegenwärtiger politischer Alltag wird von dem traditionellen Modell geprägt, in dem Regierungen eine entscheidende Rolle spielen und Politik weitgehend „von oben” gemacht wird. Im besten Fall wählt sich das Volk seine eigene Regierung in demokratischen Wahlen. Im schlechtesten Fall regiert ein Diktator. Im Internet hat sich aber eine andere Kultur, eine „Politik von unten” entwickelt, bei der die unmittelbar Betroffenen und Beteiligten in die Ausarbeitung von Politiken, die sich in Codes, Protokollen, Standards und Best Practice Richtlinien äußern, direkt mit einbezogen werden. Die dabei in den verschiedenen Communities entstehenden partizipativen, liquiden, fluiden oder deliberativen, offenen und transparenten Diskussionsforen stehen zwar nicht im fundamentalen Gegensatz zu den Prozeduren einer repräsentativen Demokratie, aber sie unterscheiden sich schon erheblich.

Solange die realen und virtuellen Welten weit voneinander entfernt waren, war dies kein IProblem. In dem Moment aber, wo sich diese Welten vermischen, beginnt eine zwangsläufig heftiger werdende Auseinandersetzung über das bessere Zukunftsmodell. Während nun Regierungen versuchen, das Internet in ihr bestehendes nationales und internationales Normen-, Werte- und Organisationssystem zu integrieren und die technischen Eigenständigkeiten des Internet unter politische Kontrolle zu bekommen, will die Internet Community ihr weitgehend funktionierendes Politikmodell erhalten, stellt ihrerseits die real existierenden Politikmechanismen in Frage und fordert sie heraus.

Dieser „Clash of Cultures” ist weit mehr als der aus der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts bekannte Konflikt zwischen Demokratien und Diktaturen. Der „Clash of Cultures” in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhundert ist ein Konflikt zwischen einer „Politik von oben” und einer „Politik von unten”. Dabei verschwindet die Auseinandersetzung zwischen Demokratien und Diktaturen nicht, der Gemengelage aber wird erheblich komplizierter, weil mehr „stakeholder” als nur die Regierungen der 190 UN Mitgliedstaaten in die Auseinandersetzung involviert sind und es alle möglichen Formen von „Regenbogenkoalitionen” gibt bei der zu den zahlreichen Einzelfragen sich unterschiedliche Partner aus Regierungen, der Wirtschaft, der technischen Community und der Zivilgesellschaft zu „Bündnissen auf Zeit” zusammenfinden. Es ist also nicht nur eine Auseinandersetzung über die bessere inhaltliche Lösung eines Problems, sondern auch über das Prozedere, das „Wie” der Politikentwicklung und um das „Recht des letzten Wortes”.

Regierungspolitik findet in der Regel hinter verschlossenen Türen statt – im besten Fall auf der Basis von vorherigen Konsultationen mit der Wirtschaft, der Zivilgesellschaft und technischen Experten – und wird mit Hilfe einfacher Mehrheiten im Parlament „top down” durchgesetzt. Internet-Politik – z. B. bei ICANN, im IGF oder in der IETF – wird in einem offenen und transparenten Prozess von unten unter Beteiligung aller betroffenen und beteiligten Stakeholder entwickelt mit dem Ziel eine grobe Einigung (rough consensus) zu erreichen. „Rough Consensus” ist nicht „Full Consensus”, erfordert also nicht eine hundertprozentige Zustimmung aller Betroffenen und Beteiligten. Aber er ist weit mehr ist als die einfache Mehrheit in einem Parlament. Regierungen sind in diesen „multistakeholder bottom up policy development process” (PDP) dort, wo nötig (wie z. B. über das Governmental Advisory Committee bei ICANN), einbezogen, sie haben aber eben nicht das letzte Wort.

Auf ihrem 2. Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS) hatten die Vereinten Nationen im November 2005 in Tunis daher für das globale Management des Internet ein sogenanntes „Multistakeholder Internet Governance Modell” vereinbart bei dem die jeweiligen Stakeholder – Regierungen, Privatwirtschaft, Zivilgesellschaft und technische Community – in ihren „jeweiligen Rolle” (respective roles) eng zusammenarbeiten sollen. Dieses Multistakeholder Modell hat sich seither bewährt, nicht aber die Konflikte befriedet, die mit dem oben beschriebenen „Clash of Cultures” zusammenhängen.

Die Frage, die sich nun stellt ist die, ob wir am Vorabend eines neuartigen Machtkampfes zwischen den aufstrebenden nichtstaatlichen Intemet Netzwerken und den traditionellen Regierungshierarchien stehen oder ob sich ein fruchtbares Zusammenwirken zwischen allen Stakeholdern, eine Art „friedliche Koexistenz” oder eine „konstruktive Kohabitation” entwickelt, bei dem die Stärken des einen Modells die Schwächen des anderen Modells kompensieren.

Bevor man diese Fragen beantworten kann ist es aber sinnvoll, einen kurzen Blick zurück in die Geschichte des Internet zu werfen.

Internet als selbst­re­gu­lie­render Mechanismus

Die Geschichte des Internets geht zurück in die späten 1950er Jahre. Dennoch war das Internet bis weit ins Jahr 2000 hinein kein Thema für die große Politik. Das hat vielfältige Ursachen, war doch das Netzwerk zunächst ein Forschungsprojekt und später eine Spielwiese für Akademiker. Zu den Mythen der frühen Tage des Internet gehörte u. a. auch die Ansicht, das „Netz der Netze” sei ein eigenständiger „virtueller Raum” der von den „realen Orten” der Alltagspolitik getrennt ist und von der „Netiquette” selbstreguliert wird.

William Gibson, der in seiner Erzählung „Burning Chrome” (1982) den Begriff „Cyberspace” prägte, oder John Perry Barlow, Manuel Castells, John Negroponte, Tim Barners-Lee, Dave Tapscott, Francis Cairncross und andere hingen mit unterschiedlicher Intensität der Vision einer neuen universellen und vernetzten Welt an, bei der es keiner klassischen Regierungen mehr bedürfe, da der „Netizen”, der „Netzbürger”, sein Schicksal in die eigene Hand nimmt. In der „Davos-Declaration of Cyber-Independence“ (1998) oder dem „Cluetrain Manifesto“ (2001) fanden diese Visionen wortgewaltigen Ausdruck. Diese Ideen förderten zwar einerseits das Bewusstsein, dass das Internet tatsächlich eine Art unsichtbare Revolution bewirkt bei der keine Molotow-Cocktails über Barrikaden fliegen, sondern wesentliche Teile der Gesellschaft quasi „von unten” in sublimer und partiell subversiver Art und Weise radikal verändert werden, sie trugen aber andererseits auch bei zu Verwirrung, Missverständnissen und Illusionen.

Der DotCom Boom der späten 1990er Jahre, das Platzen dieser Internet-Blase, das Anwachsen der Internet Community auf über drei Milliarden Nutzer, die Auseinandersetzungen um das Management der kritischen Internet-Ressourcen und der Siegeszug von Suchmaschinen und sozialen Netzwerken haben nicht nur zu einer Ernüchterung beigetragen, sondern auch viel intellektuellen Spreu vom Weizen getrennt und damit den Weg geebnet für eine mehr realistische Betrachtungsweise. Diese praktischen Erfahrungen haben die Erkenntnis befördert, das das Internet zwar tatsächlich einer neuen innovativen Regierungsform bedarf – es ist einfach zu anders, zu groß und zu komplex um es mit traditionellen Mitteln in den Griff zu bekommen oder es den Regierungen bzw. dem privaten Sektor allein zu überlassen –, dass dieses noch zu erfindende „Govemance Modell” aber nicht im Gegeneinander, sondern nur im Miteinander der Stakeholder, also in einem „Muiltistakeholder Internet Governance Prozess”, zu erreichen ist. Die Revolution findet als Evolution statt und wird aller Wahrscheinlichkeit nach sich weit ins 21. Jahrhundert hineinziehen.

Es ist richtig, dass das Internet individuelle Freiheiten und wirtschaftliche Chancen wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte erweitert hat. Das Internet ist eine gigantische Befähigungstechnologie die Individuen und kleinen Gruppen Möglichkeiten gibt, sich politisch, ökonomisch oder kulturell zu artikulieren, zu engagieren, zu organisieren und auf der globalen Politikbühne mitzuspielen, was zuvor nur Nationalstaaten oder großen Unternehmen möglich war. Richtig ist auch, dass das Internet die jahrhundertealten Grenzen von Zeit und Raum nicht mehr kennt und damit in nie erfahrener Dimension Kreativität und Innovation befördert hat. Das Internet hat aber nie den bestehenden nationalen und internationalen Rechtsrahmen verlassen. Und die Intemet-Freiheit schloss nie die Freiheit ein, Straftaten zu begehen, Geld zu stehlen oder anderen Menschen oder Institutionen Schaden zuzufügen. Was offline illegal war, wurde online nicht legal.

Dennoch entstand im Internet, quasi im Schatten staatlicher Regulierungen, ein ei-genständiges geregeltes Subsystem mit technischen Codes, Protokollen, Normen, Regeln und Grundsätzen. Dieser „Selbstregulierungsmechanismen” begann 1969 mit der ersten „Request for Comment” (RFC). Er wuchs in den 1980er und 1990er Jahren in einem Umfeld, das vor allem von der in den USA dominierenden politischen Kultur geprägt wurde, die sich durch „Deregulierung“ unter der Reagan-Administration (1980–1988) und „Private Sector Leadership“ unter der Clinton-Administration (1992–2000) auszeichnete. Und es dauerte gar nicht lange, dass sich dieser Selbstregulierungsmechanismus auch in Form von Dutzenden nicht-staatlichen Organisationen und Netzwerken institutionalisierte und zu dem heute existierenden funktionstüchtigen globalen „Intemet Govemance Ecosystem” geführt hat, das problemlos ein Wachstum des Netzes von drei Millionen zu drei Milliarden Nutzern binnen zwei Jahrzehnten ermöglichte.

Die Mehrheit der technischen Internet Protokolle, Standards und Codes wirken de facto als „Internet Gesetze” und sind meist als ein RFC kodifiziert. Die Entstehungsgeschichte eines RFC unterscheidet sich aber ganz wesentlich von der eines durch ein Parlament beschlossenen Gesetzes. Jedermann kann im Rahmen der IETF einen RFC Prozess starten. Er braucht dazu weder eine politische Partei noch ein Parlament. Findet er ihr seinen Lösungsvorschlag für ein identifiziertes Problem genügend Unterstützer, wird eine Arbeitsgruppe gebildet. In einem offenen Diskussionsprozess werden die verschiedenen Versionen solange diskutiert, bis ein „rough consensus” entstanden ist. Der ist dann erreicht, wenn keine größere Gruppe mehr erheblich Sacheinwände gegen die Annahme des vorgeschlagenen RFCs vorbringt.

Vergleichbar ist diese RFC-Methode etwa mit den „runden Tischen”, die nach dem Ende des „kalten Krieges” in der DDR und anderen Ostblockstaaten entstanden. Im Unterschied zu dieser partizipativen Demokratie, die schnell wieder verschwand, weil sie durch die existierenden Institutionen der repräsentativen Demokratie ersetzt wurde, hat sich das RFC Prozedere im Internet nicht nur behauptet sondern so weiter entwickelt, das es mittlerweile heute als ein Modell gilt zur Erreichung effektiver und funktionstüchtiger Lösungen über Länder-, Ideologie- und Parteigrenzen hinweg.

Heute umfasst das „Gesetzbuch des Internet“ mehr als 6000 RFCs, die von der IETF verwaltet werden. Das System hat sich bewährt. Es ist robust und flexibel genug, um auf neue Herausforderungen mit adäquaten Lösungsvorschlägen zu reagieren. Staatliche Interventionen in diesen RFC Prozess haben sich bislang als überflüssig und im Einzel-fall eher als kontraproduktiv erwiesen.

Bei der Entwicklung des TCP/IP Protokolls, des Adressprotokoll IPv6, dem Domain Name System (DNS) oder dem HTTP-Protokoll für das World Wide Web (WWW) waren weder nationale Parlamente beteiligt noch bedurfte es zwischenstaatlicher diplomatische Kodifizierungskonferenzen. Als Jon Postel anfing den auf der ISO 3166 Liste stehenden 243 Ländern und Territorien einen Country Code für eine Top Level Domain (ccTLDs) zuzuordnen, hatten weder die Regierungen noch die Parlamente dieser Länder eine Ahnung davon, was da eigentlich vor sich ging. Ein Händedruck von Jon Postel mit einem vertrauenswürdigen Manager war alles, was nötig war, um das Management einer ccTLD zu delegieren.

Solange nicht mehr als eine Handvoll Domainnamen in einer Länderdomain registriert waren, war das auch kein Problem. Zwar hatte sich die ITU bereits Mitte der 90er Jahre mit dem DNS beschäftigt, aber das in Kooperation mit WIPO, INTA, ISOC, IETF und IANA entstandene Memorandum of Understanding wurde im Herbst 1998 nicht von der ITU Vollversammlung ratifiziert. Stattdessen führte der von der Clinton-Administration parallel vorangetriebene Prozess einer Privatisierung und Globälisierung des DNS zur Gründung von ICANN bei dem die Entscheidungsgewalt in den Händen eines aus Privatsektor, technischer Community und Zivilgesellschaft bestehenden Direktoriums liegt. Die Regierungen sind über ein „Governmental Advisory Committees” (GAC) in den ICANN Prozess eingebunden, wobei bemerkenswert ist, dass die Empfehlungen des GAC an das ICANN Direktorium keine rechtliche Bindungswirkung haben. Aber selbst gegenüber dem GAC zeigten sich die meisten Regierungen der UN Mitgliedsstaaten bis in die jüngste Zeit hinein distanziert. Bei der ersten GAC-Sitzung im März 1999 in Singapur nahmen ganzen 17 nationale Regierungen, dazu die EU Kommission und einige zwischenstaatliche Organisationen wie OECD, ITU und WIPO teil.

WSIS als Wake Up Call

Regierungen wachten erst auf als nach der Jahrtausendwende die Zahl der Internet Nutzer in den dreistelligen Millionenbereich wuchs und die Vorbereitungen für einen Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS) begann. Der WSIS Prozess wurde daraufhin zum Hauptschauplatz der politischen Auseinandersetzung über das Internet.

Hauptstreitpunkt war zunächst die Frage, wer die kritischen Internetressourcen – Root Server, Domainnamen, IP Adressen, Intemet Protokolle und Codes – kontrollieren sollte. Während die US Regierung sich dafür aussprach, das historisch gewachsene Internet Governance System zu belassen wie es ist, wollte vor allem die chinesische Regierung eine Veränderung des Systems und die Verwaltung dieser Ressourcen der ITU unterstellen.

An diesem amerikanisch-chinesischen Internetkonflikt wäre um Haaresbreite die erste Phase des Weltgipfels im Dezember 2003 in Genf gescheitert. In letzter Minute konnte man sich darauf einigen, die offenen Fragen an eine neu gegründete UN Working Group on Internet Governance (WGIG) zu delegieren und mit dem Mandat auszustatten, erst einmal zu definieren was denn Internet Governance überhaupt ist und dann Vorschläge zu machen für öffentliche Internetpolitiken.

Das Innovative an der WGIG war, dass sie nicht nur aus Staatenvertretern bestand, sondern, dass die Hälfte der insgesamt 40 Mitglieder Vertreter nichtstaatlicher Gruppen aus der Privatwirtschaft, der Zivilgesellschaft und der technischen und akademischen Community waren. Die WGIG war also ein echtes Multistakeholder Gremium, was sich auf die Arbeitsweise der Gruppe auswirkte. Es gab weniger politisch oder ideologisch motivierte Debatten, sondern man konzentrierte sich auf die konkreten Sachfragen. Der WGIG-Report wurde dem 2. WSIS-Gipfel im November 2005 in Tunis präsentiert.

Die von der WGIG vorgeschlagene Definition für Internet Governance lautete wie folgt: „Intemet governance is the development and application by Governments, the private sector and civil society, in their respective roles, of shared principles, norms, rules, decision-making procedures, and programmes that shape the evolution and use of the Internet.“

Diese Definition hat mindestens zwei bemerkenswerte Elemente.

  1. hat sie den Konflikt zwischen der amerikanischen Forderung nach „private sector leadership” und der chinesischen Forderung nach „govemmental leadership” dergestalt aufgelöst, das sie grundsätzlich ein Konzept, das auf „Führung” durch eine Stakeholder Gruppe basiert, zurückweist sondern klar stellt, das das Internet das kollaborative Zusammenwirken aller Stakeholder, und zwar in ihren jeweiligen spezifischen Rollen (respective roles) , erfordert. Die Privatwirtschaft kann nicht die Regierung ersetzen, die Regierung hat selbstverständlich bei Internet Governance eine Rolle zu spielen und nichts geht mehr ohne eine Einbeziehung der Zivilgesellschaft.
  2. sagt die Definition, dass zukünftige Intemetpolitiken und die dahinter liegenden Prinzipien und Normen nur noch gemeinsam entwickelt werden können und dass diese Teilhabe (shared) auch für Entscheidungsprozesse (decisionmaking procedures) gilt. Das lässt sich nur in einem offenen und transparenten Verfahren „von unten” realisieren.

Gleichzeitig wies die WGIG den Vorschlag, eine neue zwischenstaatliche UN Organisation für das Intemet zu gründen, zurück und schlug stattdessen vor, ein auf dem Prinzip des Multistakeholderismus basierendes Internet Governance Forum (IGF) zu etablieren. Das Argument war, dass man vor eventuellen Entscheidungsfindungen erst einmal die jeweiligen Sachfragen in einem offenen und transparenten Diskussionsprozess, an dem alle Stakeholder beteiligt sind, klären muss, ehe dann Institutionen, die mit einem legitimen Mandat ausgestattet sind, Entscheidungen treffen.

Nicht einigen konnte sich die WGIG jedoch über das Management der kritischen Internet Ressourcen, d. h. der Aufsicht über ICANN. Die vier im WGIG-Bericht aufgeführten Modelle reichten von der Belassung des Status Quo über einen Status Quo Minus (Abschaffung der Sonderrolle der US Regierung) und einem Status Quo Plus (Schaffung einer Public Private Partnership zwischen ICANN und eine neu zu gründen-den zwischenstaatlichen Gremium) bis zu einem Status Quo PlusPlus (einer neuen UN Regierungsorganisation). Bemerkenswert ist, dass sowohl die Definition als auch das IGF nahezu unverändert in die „Tunis Agenda” übernommen wurde, die im November 2005 von den Vertretern von mehr als 170 Regierungen – darunter zahlreiche Staats-und Regierungschefs – verabschiedet wurde.

Die universelle Akzeptanz des Multistakeholder Modells für das Management des Intemet bedeutete aber keineswegs, dass damit alle Konflikte beseitigt waren. Mit dem auch vom Tunis-Gipfel beschlossenen Prozess einer „erweiterten Zusammenarbeit” (enhanced cooperation) für Internet Governance hielten sich jene Regierungen, die eine internationale staatliche Aufsichtsbehörde über das Internet bevorzugt hatten, eine Tür offen, um zu gegebener Zeit darauf zurückzukommen.

Multi­sta­ke­holder Modell oder zwischen­staat­liche Regie­rungs­or­ga­ni­sa­tion?

Zehn Jahre nach dem Beginn des UN Weltgipfels zur Informationsgesellschaft lassen sich nun zwei im Prinzip gegenläufige Tendenzen erkennen. Auf der einen Seite hat sich das Multistakeholder Internet Governance Modell weiterentwickelt und trotz aller Schwächen und Defizite, die zwangsläufig einem neuen und innovativen Mechanismus eigen sind, demonstriert, dass es ein funktionstüchtiges Politikmodell darstellt. Auf der anderen Seite gibt es eine große Anzahl von Staaten, die eine größere alleinständige Kontrolle der Regierungen über das Internet bevorzugen.

IGF und ICANN stehen für den Erfolg des Multistakeholder Modells. Das IGF wurde nicht zu der befürchteten neuen UN-Schwatzbude, sondern mauserte sich über die Jahre zu einem hochrangigen Jahrestreffpunkt, der aus dem Internet Governance Ecosystem nicht mehr wegzudenken ist. Das von einigen Regierungen als Schwäche empfundene beschränkte Mandat, nämlich keine Entscheidungskompetenz zu haben, hat sich als außerordentlich fruchtbar erwiesen, weil durch den Wegfall des Zwangs, am Ende einer Tagung ein Dokument unterschreiben zu müssen, eine offene und qualitativhochwertige Diskussion ermöglicht wurde bei der Minister, CEOs und Führer der technischen Community und der Zivilgesellschaft auf Augenhöhe miteinander über die großen Gegenwarts- und Zukunftsfragen des Internet diskutieren. Das IGF ist zu einem „Frühwarnsystem” geworden zur Erkennung neuer Internet-Probleme. Es ist zu einem Laboratorium geworden wo neue Politikformen ausprobiert werden (z. B. in Form der sogenannten Dynamischen Koalitionen). Und es ist auch eine Art Watchdog, ein kritischer Begleiter der genau verfolgt was die verschiedenen staatlichen und nichtstaatlichen Internet-Gremien – von der ITU und der WIPO über Google und Facebook zu ICANN und der IETF – tun.

Auch ICANN hat das Multistakeholder Modell weiterentwickelt. Die US Regierung unter der Obama Administration hat schrittweise ICANN in eine neue Selbständigkeit entlassen. De jure besitzt sie heute nur noch die Aufsicht über den IANA Vertrag und hat das Recht, die Publikation von Zone Files für Top Level Domains im Internet Root zu autorisieren. Dabei muss angemerkt werden, dass diese Funktion auch das Ergebnis einer historischen Entwicklung des Internet ist, das dies nicht mit der Kontrolle über den „roten Knopf‘ des Internet gleichzusetzen ist (denn das Internet hat keinen „roten Knopf‘) und das die US Regierung bislang diese Funktion nie einseitig politisch miss-braucht hat, selbst in kritischen Fällen wie der .xxx-Domain (die US Regierung hatte diese gTLD abgelehnt, da aber ICANN in einem offenen und transparenten Politikent-, wicklungsprozess, an dem alle Stakeholder beteiligt waren, diese Domain beschlossen hatte, hat die dafür zuständige National Telecommunication and Information Administration (NTIA) des US Department of Commerce die Autorisierung vorgenommen). Die Rolle der Zivilgesellschaft innerhalb ICANNs wurde durch den 1. Internet-Nutzer Gipfel in Mexico im Jahr 2009 gestärkt der dazu geführt hat, dass das At Large Advisory Committee (ALAC) jetzt einen stimmberechtigten Direktor in das ICANN Board entsenden kann. Und ICANN selbst hat insbesondere mit der Einführung von dem Sicherheitsstandard DNSSEC, von internationalen Domains (iDNs) und dem neuen gTLD Programm unter Beweis gestellt, dass das Multistakeholder Modell Ergebnisse produzieren kann, auch wenn im Detail viel kritisches angemerkt werden kann über ICANNs Arbeitsweise und die Implementierung seiner Beschlüsse.

Auf der anderen Seite sind nach wie vor viele Regierungen nicht mit dem bestehen-den Modell einverstanden, nicht zuletzt weil sie darin eine Einschränkung ihrer souveränen Entscheidungsgewalt sehen. Zunehmend gibt es daher Versuche, entweder komplementär oder alternativ zu ICANN und zum IGF Vorschläge zu lancieren, die letztendlich darauf hinauslaufen, das freie, offene und grenzenlose Internet zurück in nationale Grenzen einzusperren und damit auch kontrollier-und zensierbar zu machen. Die Gremien für solche Vorschläge sind die UN Vollversammlung und die ITU. In der UNO streben Russland und China einen Internet Code of Conduct für Regierungen an, Russland möchte eine internationale Konvention für Sicherheit im Cyberspace und die IBSA Länder (Indien, Brasilien und Südafrika) haben die Idee eines zwischenstaatlichen Intemetrates wiederbelebt. In der ITU sind es vor allem Russland, China, Iran, Saudi Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, die die Regierungsverhandlungen zur Novellierung der Intemet Telecommunication Regulations (ITR), einem völkerrechtlichen Vertrag aus dem Jahr 1988, nutzen möchten, um die Hoheitsrechte von nationalen Regierungen über das Internet – oder zumindest Teile davon wie die Kontrolle über die IP Adressen – auszuweiten.

Es wäre aber zu einfach, den gegenwärtigen globalen Intemet Konflikt auf eine Auseinandersetzung zwischen dem Multistakeholder Internet Governance Modell und einer Regierungskontrolle über das Internet zu reduzieren. Selbst die USA, die EU und andere westliche Staaten, die prinzipiell das Multistakeholder Modell begrüßen, haben Schwierigkeiten es zu verinnerlichen, wenn es um konkrete politische Sachverhalte geht wie nationale Sicherheit, Urheberecht oder Datenschutz.

Die wachsende Internet Governance Komplexität

Die Verlagerung von Entscheidungsmacht aus bekannten Machtzirkeln in unbekannte Netzwerke ist ein komplizierter Prozess der erstens noch völlig am Anfang steht, zweitens sehr komplexer Natur ist und bei dem es drittens keine klaren Frontlinien gibt. Es ist eben nicht nur eine Auseinandersetzung zwischen Demokratien und Diktaturen, sondern auch eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Fraktionen innerhalb einer Regierung (auch innerhalb einer demokratischen Regierung), zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb der Privatwirtschaft und auch innerhalb der Zivilgesellschaft. Der Weg zum „rough consensus” ist lang und je nach Gemengelage in einer konkreten Sachfrage formieren sich fluide Regenbogenkoalitionen, bei denen praktisch von Fall zu Fall operiert wird.

Niemand wird wiedersprechen, dass das gegenwärtig Internet Governance Modell weiter verbessert werden soll und muss. Es gibt aber eben sehr unterschiedliche Vorstellungen, wie eine solche Verbesserung aussehen soll. Gute Absichten sind nicht hinreichend. Das Risiko ist hoch, dass die vorgeschlagenen politischen oder wirtschaftlichen Verbesserungen zur Ausmerzung von Schwächen im Internet zu unbeabsichtigten Nebenwirkungen und massiven Kollateralschäden führen.

Regierungen behaupten, sie brauchen mehr Kontrolle zum Schutz der nationalen Sicherheit. Strafverfolger argumentieren, sie brauchen mehr Überwachung, um Internetkriminalität zu bekämpfen. Rechteinhaber argumentieren, sie brauchen mehr Regulierung, um Piraterie zu stoppen. Markeninhaber argumentieren, sie brauchen mehr Einschränkungen, um ihre Marken zu schützen. Zivilgesellschaft argumentiert die Notwendigkeit, individueller Rechte und Freiheiten zu stärken.

Jedes Argument hat seinen Wert. Aber der Wunsch, die Defizite des existierenden Internet loszuwerden kann schnell dazu führen, dass das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird und am Ende das offene, freie und grenzenlose Internet geschlossen, zensiert und renationalisiert wird. Einen fairen Interessenausgleich zwischen alle Stakeholdern, zwischen Regierungen, der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft, setzt hohe diplomatische Fähigkeiten bei allen Partnern voraus. Und daran mangelt es gegenwärtig noch erheblich.

Das Problem ist insofern sogar noch komplizierter, weil es nicht möglich ist, das Internet in verschiedene Teile zu schneiden. Es ist eine Welt und ein Internet und Änderungen unter A, B, C oder D haben Auswirkungen auf das Intemet als Ganzes. Insofemist das Multistakeholder Modell auch deshalb alternativlos, weil jede einseitige Maßnahme eines Stakeholders von den anderen Stakeholdem konterkariert oder ausgebremst werden kann.

Für diejenigen, die in den Kategorien klassischer Machtstrukturen denken, ist diese Situation verwirrend. Sie möchten eine Telefonnummer und einen Schalter für das globale Internet haben. Aber selbst wenn es diesen Schalter geben würde, würde denn eine Re-Zentralisierung, eine Re-Nationalisierung und eine Re-Regulierung zu einer Verbesserung des offenen, freien und grenzenlosen Internet führen?

„If it isn’t broken, don’t fix it“ argumentiert seit Jahren Vint Cerf, einer der Vätei des Internet. Er hat Recht. Eine neutrale Analyse sagt uns, dass das Internet als Ganze; funktioniert. Es hat Schwächen und Risiken, und leider gibt das Internet nicht nur der kreativen und innovativen Gutmenschen gleiche Chancen sondern auch den Kriminellen, Hasspredigern und Terroristen. Natürlich muss man sich mit dem Missbrauch der Internetfreiheiten auseinandersetzen. Aber man muss auch erkennen, dass nicht das Internet die „Quelle des Bösen” ist, sondern dass das Intemet nur unsere Gesellschaft widerspiegelt. Man muss also sehr vorsichtig sein, wenn man politisch „gegen das Internet” vorgehen will. Ein Küchenmesser kann man für viele nützliche Sachen verwenden, man kann damit aber auch einen Menschen erstechen. Es wäre sicher Unfug, einer Kampf gegen Küchenmesser aufzunehmen. Das Internet „abzuschalten” oder es national zu kontrollieren würde keines der gesellschaftlichen Probleme lösen, die durch da; Internet nun ins öffentliche Rampenlicht geraten sind.

Nach vorn stolpern

Die gute Sache am Internet ist, dass niemand wirklich weiß, was genau als nächstes passieren wird. Vor zwanzig Jahren gab es keine Suchmaschinen; vor fünfzehn Jahrer gab es kein YouTube; vor zehn Jahren gab es keine sozialen Netzwerke. Und vor fiini Jahren hatten wir nur wenig Erfahrung mit cloud computing und dem Internet der Dinge. Wer weiß, was das Internet 2017 oder 2022 anbietet?
Bei der 41. ICANN Tagung im März 2011 in San Francisco beschrieb der ehemalig US-Präsident Bill Clinton Internet Governance als Prozess des „Vorwärtsstolperns“ Stolpern ist nicht schlecht, sagte er, so lange es vorwärts geht.

Ein Schritt nach vorne wäre sicher, wenn die Internet-Community in den nächsten Jahren Antworten auf die folgenden drei Fragen finden würde:

  1. Wie kann man den Respekt und die Stärkung von Sicherheit, Eigentum, Freiheit und Privatsphäre bei Internet-Anwendungen in eine ausgewogene Balance bringen die legitime Interessen der verschiedenen politischen Systemen, verschiedenen Kulturen, Traditionen und historischen Erfahrungen berücksichtigt?
  2. Wie entwickeln wir eine neue Beziehung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen die nicht auf hierarchischer Über- oder Unterordnung basiert, sondern auf einer gegenseitigen Zusammenarbeit unter netzwerkartig erbundenen gleichberechtigten Partnern?
  3. Wie verbinden wir die traditionellen Politikmechnismen nationaler und zwischenstaatlicher Regierungssysteme mit dem offenen, transparenten Diskussionsprozess von unten in einem Multistakeholder Mechanismus?

Die Antworten auf diese drei Fragen werden stark variieren je nachdem, ob sie von Regierungen, der Privatwirtschaft, der Zivilgesellschaft oder der technischen Community kommen oder aus den USA, aus der EU, der arabischen Welt, aus China, Russland, Brasilien, Indien oder Afrika. Es gibt noch keinen Konsens in der Welt. Dennoch verwenden wir alle Tag für Tag das gleiche Internet. Es gibt also keine echte Alternative zum Bau von Brücken und zu einem konstruktiven Dialog. Aber es gibt auch keine schnelle Lösung.

Ein chinesisches Sprichwort sagt, dass der längste Marsch mit dem ersten kleinen Schritt beginnt. Der lange Marsch auf dem Internet-Weg in die Zukunft begann bereits vor Jahren. Nun haben wir die Chance, die nächsten kleinen Schritte zu machen. Und solange diese Stolperschritte vorwärts und nicht rückwärts gehen, ist das Internet noch nicht verloren.

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