Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 200: Digitale Demokratie

Editoral

aus: Vorgänge Nr. 200 (Heft 4/2012), S. 1

Die digitale Demokratie ist spätestens mit den Wahlsiegen der „Piraten“ in Deutschland in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gerückt, doch weist das Potenzial demokratischer Partizipation, das sich mit dem Internet eröffnet, weit über diese Partei hinaus. Davon zeugt nicht zuletzt dessen Rolle bei den Aufständen in den arabischen und anderen repressiv regierten Ländern. „Digitale Demokratie“ bedeutet jedoch nicht nur die Eröffnung neuer Freiheiten und Möglichkeiten der politischen Teilhabe, es ist zugleich normativer Bezugspunkt der inneren Verfasstheit des Internets, das seine rasante Verbreitung nicht zuletzt seiner offenen Netzstruktur verdankt, die sich bislang gegen Versuche des hierarchischen Regierens und Regulierens weitgehend behaupten konnte. Zugleich hat diese rasante Entwicklung auch neue Formen der Vermachtung, der Nutzung und des Missbrauchs gezeitigt, welche die Frage nach den rechtlichen Grundlagen des Internets dringlicher werden lassen. Diesen Problemfeldern will sich die vorliegende Ausgabe der vorgänge widmen.

Thomas Bevc vertritt die These, dass das durch die neuen Formen der Öffentlichkeit im soziale Netz entstandene Potential zur Emanzipation der Bürger und zur Demokratisierung der Gesellschaft nicht genutzt wird, sondern vielmehr das Internet in seiner momentanen Erscheinungsform zur Zementierung der bestehenden gesellschaftlichen Ungleichheit entscheidend beiträgt. Dem entgegen zu steuern, hieße die Fähigkeit zur Rezeption und Artikulation, kurz, die Bildung allgemein zu verbessern.

Jennifer Paetsch und Daniel Reichert betrachten die sich durch Liquid Democracy eröffnenden Partizipationsmöglichkeiten als Ergänzung der repräsentativen Demokratie und als eine Antwort auf das Demokratie-und Legitimationsdefizit des bestehenden Systems. Die Einsatzmöglichkeiten von Liquid Democracy-Verfahren beschränken sich nicht auf den politischen Bereich, sondern zielen auf eine Demokratisierung möglichst
vieler Lebensbereiche ab.

Jasmin Siri sieht die politische Rolle der Massenmedien durch Social Media auf die Probe gestellt, denn diese verlangen Präsenz und verschließen sich der Organisation. Die Echtzeitlichkeit und Diversität der Social Media macht sie für Letztere nur schwer strategisch steuerbar, die politische Performance in ihnen muss sich der jeweiligen Eigenlogik des Web-Mediums beugen.

Dieter Rulff erkennt in der Philosophie der Piraten eine digitale Übersetzung des Habermasschen Diskurmodells. Das ist einer der Gründe, weshalb ihnen die linken Parteien so ehrfürchtig begegnen. Doch ihr technik-affiner Diskurs kann keine normative Klärung der programmatischen Orientierung ersetzen. Ihre querulatorische Selbstbeschäftigung korrespondiert mit der Unfähigkeit zur Bildung eines handlungsfähigen politischen
Willens.

Benjamin-Immanuel Hoff sieht in den Piraten die Repräsentanten einer sozialen Formation, die derzeit von den anderen Parteien nicht vertreten wird. Die Selbsteinschätzung ihrer sozialen Lage ist prekärer als die anderer Parteianhänger, ihre politische Verortung linksliberal. Noch ist nicht ausgemacht, ob ihr Cleavage ihnen Dauerhaftigkeit
im Parteienspektrum sichern wird.

Wolfgang Kleinwächter sieht die Internet Governance an einem Scheideweg. Zwar haben sich die in den letzten Jahrzehnten entwickelten Multi-Stakeholder-Modelle der Selbstregierung bewährt und ein erstaunliches Wachstum des Netzes ermöglicht, doch
zeichnen sich bei einigen Staaten deutlich Begehrlichkeiten ab, das Internet stärker unter die eigene Kontrolle zu bekommen.

Für Jan Schallaböck verweist die Problematik der Vorratsdatenspeicherung auf die
Notwendigkeit, die Prozesse der Informationsverarbeitung transparent zu machen. Die Gesellschaft muss entscheiden können, welche Arten der Verarbeitung sinnvoll sind, ohne dabei in eine totale Medienkontrolle zu verfallen. Der Einsatz von quelloffener Software könnte diesem Anliegen dienen.

Nils Leopold sieht durch die vernetzte Zusammenführung und Auswertung unterschiedlicher Datenbestände in Big Data zentrale Prinzipien des Datenschutzes gefährdet. Da dieser nur mit präventiver Zielrichtung effektiv bleiben könne, bleibe es deshalb richtig, auf eine Vorverlagerung des Schutzes in die Technikebene selbst zu dringen.
Zudem bedürfe es bei der Regelung der Profilbildung, der Einwilligung und den Transparenzbestimmungen deutlicher Verbesserungen zugunsten der Bürger.

Volker Grassmuck plädiert im Streit um das Urheberrecht für Peer-to-Peer-Modelle, da die überkommenen Markt-Modelle augenscheinlich keine angemessene Bezahlung der Urheber gewährleisten und den veränderten Nutzungsweisen entsprechen können.

In seinem Essay verortet Christoph Butterwegge die Gründe der Altersarmut in der Deformation des Sozialstaates, der Deregulierung des Arbeitsmarktes und der Demontage der Gesetzlichen Rentenversicherung. Er empfiehlt den Ausbau Letzterer zu einer
solidarischen Bürgerversicherung.

Stefan Wallaschek legt mit seiner Analyse des literarischen Werkes von Ayn Rands eine hierzulande wenig bekannte Wurzel des radikalen libertären Denkens der US-amerikanischen Republikaner frei.

Christoph Gusy sieht in der Beobachtung des thüringischen Fraktionschefs der Linken Bodo Ramelow durch den Verfassungsschutz, aber auch in dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das diese Praxis bestätigt, eine eklatante Missachtung elementarer
Normen des Grundgesetzes.

Michael Spörke zieht eine bittere Bilanz der Behindertenpolitik in der Regierungszeit der Bundeskanzlerin Merkel. Gemessen an den inhaltlichen Fortschritten und der Einbindung der Betroffenen, die unter der rot-grünen Vorgängerregierung erreicht worden waren, bedeute sie einen klaren Rückschritt.

Karl Adam hat das neue Europa-Buch von Walter Laqueur gelesen und kann dessen düsteren Ausblick angesichts der zu beobachtenden Integrationsfortschritte, auch wenn sie teils erzwungen sind, nicht teilen.

Diese Ausgabe der vorgänge ist die zweihundertste und zugleich die letzte, die wir als Redaktion betreuen. Es war immer unser Anspruch, gesellschaftliche und politische Prozesse kritisch zu begleiten und dafür wissenschaftliche Handreichungen zu geben. Mit den Beiträgen sollten nicht nur dem akademischen Fachpublikum sondern einem interessierten Leserkreis auf verständliche und informative Weise Probleme der Zeit nahe gebracht werden. Leider hatten die vorgänge, wie die meisten Printmedien, in den letzten Jahren mit einem nachlassenden Leserinteresse zu kämpfen. Um die Kosten zu begrenzen, hat die Humanistische Union, die die Zeitschrift seit Kurzem im Eigenverlag herausgibt, beschlossen, ab dem kommenden Jahr die vorgänge mit dem Verbandsorgan HU-Mitteilungen zu fusionieren und den Redaktionsetat zu reduzieren. Die Redaktionsarbeit
wird zu einem großen Teil vom Geschäftsführer der HU übernommen. Ein alternatives Konzept der Redaktion, die vorgänge fortzuführen, wurde verworfen. Wir sind der Ansicht, dass sich damit der Charakter der Zeitschrift grundlegend ändert, ihre Unabhängigkeit
nicht mehr gewahrt und weder der einen noch der anderen Leserschaft gedient ist. Wir stellen deshalb geschlossen unsere Arbeit an den vorgängen ein. Wir danken allen, die mit ihrem Engagement am Zustandekommen der jeweiligen Ausgaben
beteiligt waren, und allen, die uns mit Interesse, Anregungen und (meist wohlwollender) Kritik begleitet haben und wünschen auch zu dieser zweihundertsten Ausgabe eine anregende Lektüre.

Ihre Redaktion

Christian Egbering, Stephan Glienke, Dirk Jörke,
Jutta Roitsch, Dieter Rulff und Veith Selk

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