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Jahre der Stagnation

Bilanz der Behindertenpolitik der Regierung Merkel

aus: Vorgänge Nr. 200 ( Heft 4/2012), S.117-124

Bilanz der Behindertenpolitik der Regierung Merkel
Mit dem Beginn des neuen Jahrtausends erlebte Deutschland einen lang erwarteten Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik. Unter der rot-grünen Bundesregierung wurden mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen (Behindertengleichstellungsgesetz – BGG) und dem Sozialgesetzbuch (SGB) Neuntes Buch (IX) (Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen) zwei Gesetzeswerke Realität, welche die Behindertenbewegung seit vielen Jahren gefordert hatte. Nach dem vorzeitigen Scheitern der zweiten rot-grünen Regierung stellten sich die behindertenpolitisch Agierenden die Frage, wie es wohl weiter gehe würden mit der deutschen Behindertenpolitik. Nun kurz vor der Bundestagswahl 2013 und nach zwei Wahlperioden unter der Führung von Kanzlerin Merkel, lohnt sich ein Rückblick darauf, was aus dem behindertenpolitischen Paradigmenwechsel geworden ist und wo die offenen behindertenpolitischen Fragen liegen.

Die rot-grünen Regie­rungs­jahre – eine kurzer Rückblick

Mit dem rot-grünen Regierungswechsel waren 1998 erstmals politische Mehrheiten vorhanden, um die langjährigen Forderungen der Behindertenbewegung in die Realität umzusetzen. Zuvor waren die Forderungen nach Antidiskriminierung und Gleichstellung noch nicht auf die erhoffte Zustimmung bei der von CDU und FDP geführten Bundesregierung gestoßen und entsprechende Anträge der damaligen Oppositionsparteien SPD und Bündnis 90/Die Grünen blieben ohne durchschlagende politische Wirkung. Ganz anders war die Situation nach der Bundestagswahl 1998. Insbesondere bezüglich der emanzipatorischen Gesichtspunkte der Chancengleichheit und Gleichberechtigung von Mann und Frau, von gleichgeschlechtlichen Lebensweisen und auch von Menschen mit Behinderungen unterschied sich die rot-grüne Politik von der Linie der Vorgänger-Regierungen und der Nachfolge-Regierung. Im rot-grünen Projekt standen eine bürgerrechtliche Liberalisierung und eine minderheitensensible Politik auf der Agenda. So gab es ein „kohärentes rot-grünes Profil […] in erster Linie bei den gesellschaftspolitischen Themen der Innen- und Rechtspolitik” (Egle et al. 2003: 30). SPD und Grüne sahen in ihrer Sozialpolitik ab 1998 eine „Neuausrichtung der gesamten Sozial- und Gesellschaftspolitik” (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2002). Das Schlagwort der rot-grünen Regierung vom aktivierenden Sozialstaat traf zusammen mit den emanzipatorischen Zielen der Behindertenbewegung. Zu den 1999 von der Bundesregierung im Leitbild „Moderner Staat —Moderne Verwaltung” veröffentlichten Zielen des aktivierenden Staates gehörte es, ein neues Prinzip der Verantwortungsteilung zu etablieren, das den Staat zum Moderator und Impulsgeber der gesellschaftlichen Entwicklung machte, der mit staatlichen, halbstaatlichen und privaten Akteuren kooperiert, um gemeinsame Ziele zu erreichen (Bundeskabinett 2000: §48). Der so verstandene Staat ist weniger Entscheider und Produzent, als vielmehr Moderator und Aktivator der gesellschaftlichen Entwicklungen, die er nicht alleine bestimmen kann und soll. Angewendet auf das hier zu beleuchtende Feld der Behindertenpolitik waren Entstehung und Inhalte des BGG und des SGB IX eine direkte Folge dieses neuen Politikverständnisses.

Die Behindertenverbände waren durch ihr jahrelanges Streiten für Gleichstellung und durch die Bildung des Deutschen Behindertenrates auf die neue Situation bestens vorbereitet. Daher konnten sie die ihnen gegebenen Mitwirkungsmöglichkeiten, vor allem während der ersten Legislaturperiode der rot-grünen Regierung, voll ausschöpfen. Während dieser Legislaturperiode war der politische Wille in Politik und Verwaltung da, Gesetze zu schaffen die die langjährigen Forderungen der Behindertenbewegung umsetzen.

So beinhaltete das BGG einige Artikel, die den Behindertenverbänden neue Handlungsspielräume eröffnen sollten, um selbst an der Verwirklichung der Gleichstellung Behinderter mitzuwirken. So regelt das BGG, dass die Behindertenverbände mit Unternehmen oder Unternehmensverbänden Zielvereinbarungen über die Herstellung von Barrierefreiheit bei den Angeboten, Produkten und Dienstleistungen dieser Unternehmen abschließen können. Dabei haben die Verbände einen Rechtsanspruch darauf, dass Verhandlungen mit ihnen aufgenommen werden, jedoch nicht darauf, dass auch eine Zielvereinbarung abgeschlossen wird (BGG 2002: § 5). Dies war ein großer Fortschritt, wenn auch, wie sich heute zeigt, nicht der Weisheit letzter Schluss.

Von Anfang an waren die Behindertenverbände, und hier insbesondere das Forum der behinderten Juristinnen und Juristen, auch in den Entstehungsprozess des Gesetzes eingebunden. Der Gesetzentwurf des Forums der behinderten Juristinnen und Juristen war denn auch die Grundlage des Gesetzgebungsprozesses. Die Behindertenvertreter wurden in eine Projektgruppe des BMAS aufgenommen, in regelmäßigen Werkstattgesprächen unter der Leitung des damaligen Bundesbehindertenbeauftragten wurde die Entwicklung des Gesetzentwurfes diskutiert und ein Mitglied des Forums der behinderten Juristinnen und Juristen wurde für die Zeit des Gesetzgebungsverfahrens im Bundesministerium beschäftigt, um das Gesetzgebungsverfahren zum BGG zu begleiten. Diese ungewöhnliche und sehr intensive Art der Mitwirkung und korporatistische Beteiligung von gesellschaftlichen Interessengruppen im Gesetzgebungsverfahren war bis dato in der deutschen Behindertenpolitik einmalig. Durch das Vorgehen im Gesetzgebungsverfahren für das BGG halfen die Verbände dem Staat durch ihre Beteiligung bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben, in diesem Fall, der Forderung nach Gleichstellung behinderter Menschen nachzukommen. Ähnliche Prozesse fanden, wenn auch nicht ganz so intensiv, auch beim Gesetzgebungsverfahren zum SGB IX statt.

Die deutsche Behindertenpolitik entsprach zu dieser Periode dem Modell einer Policy Community, da der Kreis der Beteiligten und die Beziehungen zwischen den Beteiligten klar abgrenzbar zu anderen Politikfeldern waren. Es bestand eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Akteuren, die ihre Zusammenarbeit durch Informationsaustausch, Verhandeln, Koordination und Kooperation organisierten. Es gab sowohl pluralistische als auch korporatistische Beteiligungsstrukturen im Politikfeld Behindertenpolitik, die in einem Beteiligungsnetzwerk zwischen Verbänden sowie politischen und institutionellen Akteuren je nach Bedarf ausgebildet wurden. Der Behindertenbeauftragte wurde in der rot-grünen Regierungszeit zum Knotenpunkt im Netzwerk der Behindertenpolitik, indem er die Vermittlerstelle zwischen Verbänden und Regierung einnimmt. Der Behindertenbeauftragte hatte in einem solchen Netzwerk die Möglichkeit, Entwicklungen anzuschieben und er konnte durch seine Entscheidungen mitbestimmen, welche Verbände wie viel Einfluss auf politische Prozesse haben. Gerade die Förderung der Behindertenverbände durch den Behindertenbeauftragten hat die Tür zu größerer Mitbestimmung und Mitgestaltung der Verbände geöffnet hat. (vgl. Spörke 2008)

Behin­der­ten­po­li­ti­sche Aktivitäten seit 2005

Seit Beginn der Kanzlerschaft Merkel nahm die Kontaktintensität zwischen Behindertenverbänden, Bundesministerien, und Regierung deutlich ab. Sowohl während der Zeit der Großen Koalition als auch während der nun zu Ende gehenden Legislaturperiode der schwarz-gelben Bundesregierung nahm die bzw. der Bundesbehindertenbeauftragte nur selten die Funktion eines Knotenpunktes im Netzwerk der Behindertenpolitik ein. Da die Impulse der Bundesbehindertenbeauftragten, Entwicklungen anzuschieben und Behindertenverbänden Einfluss auf politische Prozesse einzuräumen, abnahmen, wurde das behindertenpolitische Netzwerk in Deutschland geschwächt. Der Einfluss der nationalen Behindertenverbände ist dadurch insgesamt zurückgegangen.

So spielt Behindertenpolitik bisher unter Kanzlerin Angela Merkel keine große Rolle und die nationale Behindertenpolitik erschöpft sich weitestgehend in der nicht immer engagierten Umsetzung von Vorgaben durch EU und UNO. So wurde 2006 erst nach äußerst zähem Ringen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) als Umsetzung der vom Europarat im Jahr 2000 beschlossenen „Richtlinie zur Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf  verabschiedet. Das anschaulichste und wichtigste Beispiel für den Umgang mit behindertenpolitischen Themen seit 2005 liefert der Umgang mit der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK).

In 2008 wurde Deutschland Vertragspartei des UN Menschenrechtsübereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK) und des dazugehörigen Fakultativprotokolls. Während der Entstehung der Konvention sah es noch so aus, als ob die deutsche Regierung an die frühere, intensive Beteiligung der Betroffenen in politischen Prozessen anknüpfen wolle. So waren in der deutschen Delegation behinderter Experten bei den Vertragsverhandlungen in der UNO anwesend und spielten hier auch eine große Rolle. Nun da die UN-BRK verbindliches Recht in Deutschland, nicht nur für den Bund sondern auch für die Länder, geworden ist, wurden Hoffnungen auf eine weitere konstruktive Behindertenpolitik unter aktiver Beteiligung der Betroffenenvertreter aber schnell gedämpft. So hat die Bundesregierung mit einer Denkschrift zur Ratifizierung den durch die BRK notwendig gemachten Veränderungsbedarf an der bundesdeutschen Gesetzgebung an vielen Stellen relativiert. Sie behauptet zum Beispiel, dass das deutsche Bildungssystem bereits vielfältige Übereinstimmungen mit der BRK (Art. 24) erkennen lasse.

Die strukturelle Umsetzung der BRK ist mit der Benennung des Deutschen Instituts für Menschenrechte als Monitoring-Stelle, der Einsetzung eines Koordinierungsmechanismus und begleitender Gremien sowie mit der politischen Absicht, einen Aktionsplan zu erarbeiten, gelungen. Für die inhaltliche Umsetzung der BRK gilt dies aber nicht. So wurde erst zwei Jahre nach der Inkraftsetzung der BRK ein Nationaler Aktionsplan (NAP) zur Umsetzung der UN-BRK von der Bundesregierung verabschiedet. Dieser NAP rief umfangreiche Kritik der Behindertenverbände, sowohl bezüglich der Inhalte als auch der Entstehung des NAP, hervor.

Auch kommt die deutsche Regierung ihren Verpflichtungen zur Beteiligung von Menschen mit Behinderungen über die sie vertretenden Organisationen nur unzureichend nach. So hat schon die Übersetzung der BRK ins Deutsche ohne Beteiligung der Zivilgesellschaft stattgefunden, so dass die amtliche Übersetzung erhebliche Fehler enthält mit entsprechend dramatischen Folgen für die Umsetzung der BRK. Beispiels-weise wurde „inclusion” mit „Integration” übersetzt und nicht mit dem korrekten Begriff „Inklusion”. Nach der Weigerung der Verantwortlichen, die Fehler zu korrigieren, sahen sich deutsche Selbstvertretungsorganisationen gezwungen, eine „Schattenübersetzung” mit den richtigen Begrifflichkeiten zu erarbeiten. Die Verbände, die im Deutschen Behindertenrat zusammenarbeiten, haben konkrete Vorschläge gemacht, wie eine gute Partizipation bei der Erarbeitung des Aktionsplans aussehen könnte. Darauf ist trotz mehrmaliger Erinnerungen nie reagiert worden, so dass sich die Zivilgesellschaft an dieser Stelle nach wie vor lediglich in der Rolle der Reagierenden befindet. Außerdem haben sich viele andere Verbände der Zivilgesellschaft mit Stellungnahmen zum NAP zu Wort gemeldet, ohne dass dies irgendwelche Änderungen zu Folge gehabt hätte. Von einer Aktivierung der behindertenpolitischen Zivilgesellschaft wie es sie vor allem in der Zeit von 1998 bis 2002 gab, kann hier also ganz und gar nicht die Rede sein. Aus Protest gegen die ungenügende Umsetzung der BRK und die unzureichende Beteiligung der Betroffenen gründete sich Anfang 2012 die BRK-Allianz mit dem Ziel, einen Parallelbericht zum offiziellen Staatenbericht für Deutschland zur UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zu verfassen. In dieser Allianz sind insgesamt 78 Organisationen zusammengeschlossen. Unter ihnen sind Selbstvertretungsverbände behinderter Menschen, die Behindertenselbsthilfe, Sozialverbände, Wohlfahrtsverbände, die Fachverbände der Behindertenhilfe und der Psychiatrie, Berufs- und Fachverbände aus dem Bereich der allgemeinen Schule sowie Elternverbände und Gewerkschaften. Die BRK-Allianz beklagt, dass der NAP zwar mehr als 200 Einzelmaßnahmen auflistet, diese jedoch z. T. wenig ambitioniert seien, nicht die spezifischen Belange von Menschen mit Behinderung berücksichtigten oder nicht explizit mit Blick auf die Konvention hin entwickelt worden. Darüber hinaus fehlen dem NAP, so die Allianz, verbindliche, überprüfbare Ziele. (BRK—Allianz 2012)

Offene Baustellen in der deutschen Behin­der­ten­po­litik

Was sind nun die wichtigsten Herausforderungen, denen sich die deutsche Behindertenpolitik stellen müsste? Barrierefreiheit in allen gestalteten Lebensbereichen ist eine grundlegende Voraussetzung für selbstbestimmte gleichberechtigte Teilhabe und Inklusion. In Deutschland ist die von der BRK geforderte Barrierefreiheit aber bislang nur sehr lückenhaft realisiert. Der große Erfolg des BGG brachte hier, trotz Verbesserungen, keine, durchschlagende Änderung. So sieht das Behindertengleichstellungsgesetz seit 2002 anstelle einer zwingenden gesetzlichen Verpflichtung der Privatwirtschaft in § 5 die Möglichkeit vor, Zielvereinbarungen zur Herstellung von Barrierefreiheit zwischen Unternehmen und Unternehmensverbänden einerseits und Verbänden behinderter Menschen andererseits zu schließen. Da die Privatwirtschaft jedoch nicht verpflichtet ist, Zielvereinbarungen abzuschließen, blieb ihre Zahl gering und eine flächendeckende Verbesserung der Barrierefreiheit wurde dadurch nicht erreicht.

Eine eindeutige nicht BRK-konforme Diskriminierung behinderter Menschen geht vom deutschen Strafrecht aus. So sieht die Rechtsprechung ein ungleiches Strafmaß bei Sexualstraftaten vor, wenn es um sexuelle Nötigung geht. Die Mindeststrafe für sexuelle Nötigung beträgt bei widerstandsfähigen Personen ein Jahr. Sind Personen, die man als widerstandsunfähig bezeichnet, von sexueller Nötigung betroffen, beträgt die Mindeststrafe aber nur sechs Monate.

Ein weiterer für die Lebensrealität behinderter Menschen entscheidender Punkt liegt in der nicht gesicherten freien Wahl des Wohnortes und der Wohnform. Nach Art. 19 BRK gewährleisten die Vertragsstaaten zwar, dass Menschen mit Behinderungen ihren Wohnort und die Wohnform frei wählen können und die notwendige Unterstützung erhalten, aber in Deutschland können viele Menschen mit Behinderungen dieses Selbstbestimmungsrecht aus verschiedenen Gründen nicht realisieren. Das liegt teilweise daran, dass die Gesetze nicht den BRK-Vorgaben entsprechen; dass gesetzliche Vorgaben nur unzureichend umgesetzt werden oder dass infrastrukturelle Bedingungen dies verhindern und es keine staatlichen Aktivitäten gibt, diese Situation zu verändern. Deshalb müssen Menschen mit Behinderungen zum Beispiel teilweise gegen ihren erklärten Willen in stationären Einrichtungen leben, weil hier die notwendigen Assistenz- und Unterstützungsleistungen sowie pflegerische Leistungen kostengünstiger erbracht werden als in der eigenen Wohnung. Die Bundesregierung zeigt bislang keine Neigung, diesen nach § 13 SGB XII zulässigen Kostenvergleich abzuschaffen, obwohl (Rechts-) Expertlnnen wiederholt auf die Unvereinbarkeit dieser gesetzlichen Norm mit der BRK hingewiesen haben.

Mit Art. 19 BRK gewährleisten die Vertragsstaaten die notwendigen Unterstützungsdienste einschließlich persönlicher Assistenz in der Gemeinde. In Deutschland mangelt es jedoch gerade in ländlichen Gebieten an der entsprechenden Infrastruktur. Diese Tatsache wird im deutschen Staatenbericht zur BRK nicht benannt, im Aktionsplan zur Umsetzung der BRK finden sich keine entsprechenden Maßnahmen.

Anders als in der Denkschrift zur BRK von der Bundesregierung festgestellt, ist Deutschland auch von einer inklusiven schulischen Bildung, wie sie die BRK vorsieht, weit entfernt. Die Schulgesetze sehen zwar das gemeinsame Lernen von Schülerinnen mit und ohne Behinderung als Möglichkeit vor, sie ist in der Praxis jedoch die Ausnahme: Nur 29 Prozent der Schülerinnen mit Behinderung besuchten 2010 eine Regelschule. In den Bundesländern reichen die Integrationsquoten von 6 bis 40 Prozent, wobei der Großteil auf die Primarstufe entfällt. Extrem ungleich ist die Integration im Sekundarbereich: Während bei Hauptschulen eine Integrationsquote von 39 Prozent erreicht wird, kommen Gymnasien hier nur auf eine Quote von 5 Prozent (Bundesbildungsbericht 2010: Tabelle D 2-7web; Klemm 2011). Der Zugang zur Regelschule wird für behinderte Schülerinnen in Deutschland erheblich erschwert und muss oft eingeklagt werden. Fast alle Bundesländer haben einen Gesetzesvorbehalt: Ein behindertes Kind muss in die Regelschule nur aufgenommen werden, wenn die notwendigen personellen, organisatorischen und sächlichen Bedingungen bestehen. An diesen fehlt es. Angemessene Vorkehrungen, Nachteilsausgleiche und barrierefreie Lehr- und Lernmittel werden an Regelschulen nicht ausreichend bereitgestellt. Oft werden Hilfeleistungen restriktiv und unverbunden gewährt; Gebärdensprachdolmetschen, Schul- und Kommunikationsassistenz werden so unmöglich. Für die notwendigen, tiefgreifenden Veränderungsprozesse in der deutschen Bildungslandschaft fehlen bisher ein strukturiertes Gesamtkonzept inklusive eines verbindlichen Zeitplanes von Bund und Ländern, weitere Forschung und die angemessene Partizipation der Zivilgesellschaft. Der vorliegende Aktionsplan der Bundesregierung liefert dieses Konzept jedenfalls nicht (NAP 2011). Auch ist der Handlungswille der Bundesländer zur Einführung der inklusiven Bildung sehr unteschiedlich. Oft wirkt die Inklusionsdebatte nur als Lippenbekenntnis, die dringende Handlungspflicht wird relativiert.

Auch der Zugang zur ambulanten medizinischen und rehabilitativen Versorgung ist für behinderte Menschen durch vielfältige Barrieren gekennzeichnet. Diese reichen von baulichen Barrieren über mangelnde Orientierungshilfen, ungelöste Kommunikationsprobleme bis hin zu ablehnenden Einstellungen. Eine bedeutsame Barriere stellen Wissensdefizite und Defizite hinsichtlich handlungspraktischer Kompetenzen bezüglich bestimmter Gruppen behinderter Menschen dar.

Behinderung in Deutschland bedeutet auch oft Arbeitslosigkeit und Armut. Die Ursachen hierfür sind vielfältig: Menschen mit Behinderungen nehmen seltener am Erwerbsleben teil als Menschen ohne Behinderungen. Während 76,5 Prozent der Menschen ohne Behinderung im Alter von 15 bis 65 Jahren arbeiten, ist es bei Menschen mit Behinderungen lediglich etwa die Hälfte. Menschen mit Behinderung waren im Jahr 2010 mit 14,8 Prozent fast doppelt so häufig arbeitslos wie Menschen ohne Behinderung (Bundesagentur für Arbeit 2010: 54, 153). Und die Entwicklung ist weiter nachteilig: Waren 2009 insgesamt 167 000 Schwerbehinderte Menschen arbeitslos, waren es 2010 schon 175 000. Im Jahr 2011 stieg ihre Zahl auf 180 000 weiter an. Diese Entwicklung steht den allgemein sinkenden Arbeitslosenzahlen seit 2009 in Deutschlanddiametral entgegen. Das zeigt, Menschen mit Behinderung werden auf dem deutschen Arbeitsmarkt deutlich benachteiligt. Entgegengesteuert wird kaum, die gesetzliche Beschäftigungspflicht-Quote der Arbeitgeber bleibt seit Jahren unerfüllt. 2010 beschäftigten trotz Gesetzespflicht über 37 000 Unternehmen keinen einzigen schwerbehinderten Menschen, ohne dafür sanktioniert zu werden. Frauen mit Behinderungen sind von Armut stärker betroffen als Männer mit Behinderungen: Nach dem Mikrozensus 2005 verfügten 32,4 Prozent der behinderten Frauen über ein monatliches Nettoeinkommen von weniger als 700 Euro. Dasselbe traf auf 12,8 Prozent der behinderten Männer zu (Pfaff et al. 2007).

Aber behinderte Menschen werden auch durch das bestehende Leistungsrecht diskriminiert und in Armut gebracht. Leistungen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen Leben sind einkommens- und vermögensabhängig, wenn gesetzlich festgelegte Grenzen überschritten werden (SGB XII: § 19, § 85 Abs. 1, § 90 Abs. 1). So werden bei Menschen, dis Assistenzleistungen benötigen, 40 und mehr Prozent des bereinigten Einkommens eingezogen. Menschen mit Behinderungen in vollstationären Einrichtungen wird lediglich ein Taschengeld von 100,98 Euro monatlich belassen (SGB XII: § 27b).

Fazit

Es zeigt sich, dass während der letzten beiden Legislaturperioden unter Kanzlerin Merkel die progressive Behindertenpolitik der Vorgängerregierung nicht fortgesetzt wurde. Defizite zeigen sich sowohl in der strukturellen Einbindung der Betroffenenvertreterbel Entscheidungsprozessen, als auch in der praktischen Initiative bzw. Umsetzung von behindertenpolitischen Maßnahmen. So fehlt ein koordiniertes, zielgerichtetes Gesamt vorgehen einschließlich eines verbindlichen Zeitplanes für die Umsetzung der BRK von Bund uftd Ländern und die Beteiligung der behindertenpolitischen Zivilgesellschaft bei diesem gesellschaftspolitisch hoch komplexen und wichtigen Thema ist äußerst mangelhaft. Es fragt sich, ob es sich unsere Gesellschaft, leisten kann, auch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels, Themen wie Barrierefreiheit und gleiche Bildungschancen für alle durch ein inklusives Bildungssystem, weiterhin nachlässig zu behandeln und tragfähige Umsetzungskonzepte zu verweigern. Aus Sicht der behinderten Menschen in Deutschland und Ihrer Verbandsvertreter kann diese Frage mit einem klarem Nein beantwortet werden.

Literatur

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124 vorgänge Heft 4/2012, S. 117—124
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Bundeskabinett (Hg.) 2000: Moderner Staat- Moderne Verwaltung, Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien, Berlin
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Egle, Christoph et al. 2003: Einführung: eine Topographie des rot-grünen Projekts, in: Egle, Christoph
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Klemm, Klaus 2011: „Eine Schule für alle: Bildungssystem und Inklusion” Vortrag an der Evangelische
Akademie Tutzing
KMK 2011: Beschluss zur inklusiven Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen
Pfaff, Heiko et al. 2007: Mikrozensus 2005, Statistisches Bundesamt ,Wiesbaden
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Spörke, Michael 2008: Behindertenpolitik im aktivierenden Staat. Eine Untersuchung über die wechselseitigen Beziehungen zwischen Behindertenverbänden und Staat. Zugl.: Kassel, Univ. Diss. Kassel
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