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Wer kotrolliert wen?

Der Unterschied zwischen Verfassungsschutz und Schutz der Verfassung am Beispiel Ramelow

aus: Vorgänge Nr. 200 ( Heft 4/2012), S.109-116

Der Beobachter der Verfassungsschutzszene weiß manchmal nicht, ob er lachen oder weinen soll. Da werden haarsträubende Missstände und Versäumnisse der Behörden in Thüringen bei der Aufklärung des NSU und seines Umfeldes untersucht, denen schon vorab im Schäfer-Gutachten ein verheerendes Zeugnis ausgestellt worden ist. Zugleich erfährt die Öffentlichkeit, wie der dortige Verfassungsschutz und Bundes- und Landesämter andernorts zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung tätig geworden sind. Sie haben den Thüringer Landesvorsitzenden der Linkspartei Bodo Ramelow aus offenen, also allgemein zugänglichen Quellen wie Zeitungen, Broschüren oder öffentlichen Reden beobachtet sowie die so gewonnenen Ergebnisse in einer Personenakte über ihn aufbewahrt. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.7.2010 hierüber war – abweichend von den Vorinstanzen, dem VG Köln und dem OVG Münster – deutlich positiver: Es hat die Maßnahmen der Thüringer gebilligt. Dies mag überraschen, geht doch der Senat selbst – wenn auch nicht ganz freiwillig – davon aus, dass Ramelow „nach den Feststellungen des OVG in eigener Person keine verfassungsfeindlichen Bestrebungen verfolgt”. Eben deren Aufklärung ist aber nach dem Gesetz der Auftrag der Verfassungsschutzämter – und sonst in diesem Bereich nichts. Da andere zugelassene Gründe – etwa Spionageverdacht – nicht vorlagen, ging es also um die Wahrnehmung dieser Aufgabe. Wie konnte das geschehen unter einer Verfassung, nach welcher staatliche Grundrechtseingriffe geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein müssen, wenn der Betroffene gar nicht der Urheber der aufzuklärenden Sachverhalte war? Und warum sind sie zu seiner Person gespeichert worden? Diese letzte Frage tritt im Urteil ganz in den Hintergrund, obwohl sie rechtlich vielleicht zentral war.

Aufgaben und Befugnisse des Verfas­sungs­schut­zes: Anhalts­punkte – Bestre­bungen – Infor­ma­ti­ons­quellen

Die Aufgaben- und Befugnisnormen des deutschen Verfassungsschutzrechts vereinigen eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe mit Ermessensermächtigungen. „Bestrebungen” müssen „gegen die freiheitliche demokratische Grundordnungen gerichtet” sein. Sofern dafür wenigstens „Anhaltspunkte” vorliegen — eine Gewissheit ist nicht erforderlich, was wäre sonst präventiv noch aufzuklären? —, darf beobachtet werden. Dabei war der Sachverhalt relativ klar: Weder Ramelow selbst noch die Linkspartei insgesamt werden als Verfassungsfeinde eingestuft, wohl aber drei Unterorganisationen der Partei: Die Kommunistische Plattform, das Marxistische Forum und die Linksjugend. Zu ihnen zählen weder der Thüringer Landesvorsitzende noch die Linkspartei insgesamt. Aber warum wird dieser Landesvorsitzende dann überhaupt überwacht?

Die Verfassungsschutzgesetze schweigen sich über die Adressaten von Aufklärungsmaßnahmen weitgehend aus. Daraus lässt sich nicht einfach der Schluss ziehen, Informationserhebung sei nur bei potentiellen Urhebern derartiger Bestrebungen zulässig, Vielmehr sollen die Nachrichten offenbar dort geholt werden, wo sie vorhanden sind. Strafprozess- und Polizeirecht beschränken gleichermaßen die Informationsbefugnisse nicht auf Verdächtige oder Verantwortliche. Vielmehr können Aufklärungsmaßnahmen auch gegen Dritte gerichtet sein, welche freiwillig oder unfreiwillig als Informationsquellen in Betracht kommen. (Mögliche) Zeugen, Begleit- oder Kontaktpersonen dürfen aufgeklärt und ausgeforscht werden. Zwar sind die Voraussetzungen enger als bei den Urhebern selbst, aber gänzlich ausgeschlossen sind solche Personen nicht. Das ist offenkundig, wenn Personenzusammenschlüsse oder juristische Personen aufgeklärt werden: Da sie nicht handlungsfähig sind, müssen andere für sie handelnde natürliche Personen ausgeforscht werden. Maßgeblich dafür ist ein rechtlicher Zusammenhang, der in einem zurechenbaren Verhalten, aber auch in einem Wissenszusammenhang bestehen kann. Ein solcher Zusammenhang wurde bei Bodo Ramelow nicht im letzteren, sondern im ersteren Sinne gesehen. Offenbar wollte das BVerwG nicht den Schluss nahelegen: Wenn es in der Thüringer Linken verfassungsfeindliche Bestrebungen gibt und der Landesvorsitzende diese bemerkt und in sein Wissen aufnimmt und dieses Wissen sodann der Öffentlichkeit der Presse mitteilt und diese daraufhin darüber berichtet, dann darf der Verfassungsschutz solche Informationen aus der Zeitung entnehmen und im Zusammenhang mit Ramelow speichern. Eine solche Art nachrichten-dienstlicher Informationsgewinnung braucht man nicht. Nachrichten dieser Art kann man in der Presse oder im Internet finden.

Der Zurechnungszusammenhang soll aber offenbar ein anderer sein: Nämlich in ein dem besonderen Näheverhältnis der aufgeklärten Person zur aufzuklärenden Gefahr: Solches ginge nicht nur von Personen aus, die der freiheitlichen-demokratischen Grundordnung feindlich gegenüberstehen und sie beseitigen wollten. „Ebenso gefährlich können Personen sein, die selbst auf dem Boden der fdGO stehen, jedoch bei objektiver Betrachtung durch ihre Tätigkeit verfassungsfeindliche Bestrebungen fördern, ohne dies zu erkennen oder als hinreichenden Grund ansehen, einen aus anderen Beweggründen unterstützten Personenzusammenschluss zu verlassen.” Wersich in die Nähe von Verfassungsfeinden begibt, muss hinnehmen, dass er wie ein solcher aufgeklärt wird. Wäre der Landesvorsitzende umgekehrt aus der Linkspartei ausgetreten und hätte sich eine andere Partei gesucht, wäre er kein Objekt von Informationserhebung durch den Verfassungsschutz mehr. Grund der Maßnahmen ist offenbar das selbst gesetzte Risiko, und zwar ein aktives oder passives. Nicht nur derjenige, der an jenen Risiken mitwirkt, kann aufgeklärt werden; sondern auch derjenige, der zu ihrem Opfer wird. „Eine derartige Person, die nicht merkt, wofür sie missbraucht wird, kann für den Bestand der fdGO genauso gefährlich sein, wie der Überzeugungstäter.” Entscheidend ist, dass der Verfassungsschutz es bemerkt und zwar möglichst präventiv, also vorher. Diese Begründung mag angesichts der aktuellen Fragen, was der Thüringer Verfassungsschutz merkt und was nicht, eher beunruhigend als beruhigend wirken.

Eine Verfassungsbeschwerde Ramelows hat das Bundeserfassungsgericht nicht angenommen. Gegenwärtig ist ein Organstreitverfahren der Bundestagsfraktion der Linkspartei anhängig.

Freiheit und Chancen­gleich­heit der Parteien

Wer als Mitglied verfassungsfeindlicher Parteien nicht beobachtet werden will, etwa weil er selbst nichts gegen die Verfassung hat, kann dies als hinreichenden Grund ansehen, den „Personenzusammenschluss zu verlassen”. Spätestens hier gelangt die Parteigründungs- und -beitrittsfreiheit in das Blickfeld, die sowohl für die Partei selbst wie auch für die Mitglieder grundrechtlich geschützt ist. Dazu zählt auch die Freiheit, in der Partei zu bleiben oder aus ihr auszutreten. Wenn diese Entscheidung vom Verfassungsschutz beeinflusst wird, liegt darin jedenfalls ein Eingriff.

Als Ausgangspunkt ist festzuhalten: Bis zu ihrem Verbot müssen Parteien als legal behandelt werden. Zugleich ist die Aufklärung der Frage, ob gegen Parteien mögliche Verbotsgründe vorliegen können, eine der zentralen Legitimationsgrundlagen für die Existenz des Verfassungsschutzes. Denn er darf — im Unterschied zur Polizei — auch legale Handlungen beobachten, die keine konkrete Gefahr darstellen. Wenn dies präventiv, also nicht erst im Moment des Umsturzes, geschehen soll, dann beginnt der Aufklärungsauftrag schon früher, nämlich im Vorfeld: Es geht nicht um Parteien, die „darauf ausgehen” (Art. 21 Abs, 2 S. 1 GG), Staat oder Verfassung zu beseitigen, also um organisierte „Bestrebungen”, die auf jene Ziele gerichtet sind (4 Abs. 1 BVerfSchG). Wenn in einer Partei solche Bestrebungen erkennbar sind, ihr Einfluss auf den Kurs der Gesamtorganisation aber (noch) unklar ist und insbesondere die Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse noch offen oder im Fluss sind, so darf die Partei danach beobachtet werden, weil immerhin „tatsächliche Anhaltspunkte” (§ 4 Abs. 1 S. 3 BVerfSchG) vorliegen. Solange noch nicht absehbar ist, welche Richtung welchen Einfluss gewinnen wird, kann die Beobachtung — namentlich am Rande des politischen Spektrums — durchaus auch längere Zeit fortgesetzt werden, im schlechtesten Fall sogar auf Dauer fortbestehen. Denn tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen sind dann jederzeit denkbar. Solange die Anhaltspunkte nicht enden, endet danach auch die Überwachung nicht. Dies ist die Logik der Vorfeldaufklärung.

Zwar ist die Infomlationserhebung aus offenen Quellen jedenfalls im Stadium der Informationserhebung noch weitgehend grundrechtsneutral. Grundrechtliche Relevanz können solche Eingriffe allerdings erlangen, wenn sie auch die Wirkung haben können, Betroffene aus der Partei herauszudrängen. Dies kann durch die Alternative „Dulde oder tritt aus!” der Fall sein und zwar unabhängig von der Frage, in welcher Grundgesetznorm die Mitgliedschaft geschützt ist. Darin kann nicht nur ein Eingriff in die Rechtsstellung der Mitglieder, sondern auch der Partei insgesamt gesehen werden: Denn Maßnahmen gegen die Partei realisieren sich ganz überwiegend in Maßnahmen gegen die Mitglieder. Das gilt erst recht, wenn diese zum Austritt bewogen werden sollen. Solche Eingriffsmaßnahmen bedürfen der Rechtfertigung. Hier macht es sich die Logik nach dem Motto: Wenn Aufklärungseingriffe gegen Parteien zulässig sind, so sind sie es auch gegen alle Mitglieder, zu einfach. Dies ist aber die Konsequenz der Haltung des Bundesverwaltungsgerichts. Denn jedes Parteimitglied kann, unabhängig von seiner eigenen Haltung, von anderen Mitgliedern für den Kampf gegen die fdGO instrumentalisiert werden. Das gilt nicht nur für Parteivorsitzende wie etwa Bodo Ramelow. Das gilt auch für andere Parteimitglieder; auch solche, die das Ziel verfolgen, in und mit der Partei verfassungskonform an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken oder gar aktiv gegen die Verfassungsfeinde unter den Mitgliedern zu wirken. Sie müssen – ebenso wie die Gesamtpartei – eine Aufklärung durch den Verfassungsschutz hinnehmen; nicht weil sie, sondern weil andere gegen die Verfassung kämpfen.

Die Logik des „mitgegangen – mitgefangen – mitgehangen” ist nicht die Logik des demokratischen Rechtsstaates. Hier bedarf es des legitimen öffentlichen Belangs zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen nicht nur gegenüber der Organisation insgesamt, sondern auch gegenüber den von den Maßnahmen selbst betroffenen Mitgliedern. Dabei muss differenziert werden nach Eingriffseffekten und -adressaten. Das gilt auch gegenüber den einzelnen Parteimitgliedern als Trägern der Beitritts- und Austrittsfreiheit. Dass der Verfassungsschutz im Grundgesetz genannt ist und daher einen hohen Rang genießt, reicht dafür allein nicht aus. Entscheidend ist die Frage: Wie wirken dieser Belang und sein hoher Rang auf die Zulässigkeit des Eingriffs gerade gegenüber diesem Adressaten. Das gilt umso mehr, wenn dieser eben nicht nur mitbetroffen ist – etwa als Teilnehmer einer Versammlung, bei der alle Anwesenden fotografiert wurden –, sondern individuell als Person und über andere hinaus betroffen ist, weil Informationen gerade zu seiner Person erhoben und gespeichert wurden. Hierfür bedarf es eines eigenen Zurechnungszusammenhangs. Dieser kann in der Eigenschaft als Informationsquelle über Dritte dienen. Doch ist dies bei einer Informationsbeschaffung aus offenen Quellen nahezu ausgeschlossen: Aus ihnen erfährt man kaum etwas über Dritte, was nicht auch bei diesen Dritten oder über sie auf andere Weise in Erfahrung gebracht werden könnte. Es kann aber auch die Mitwirkung oder Unterstützung der verfassungsfeindlichen Aktivitäten Dritter sein. Dies meint wohl § 4 Abs. 1 S. 2 BVerfSchG, der darauf abstellt, dass jemand in einem Personenzusammenschluss handelt, die „ihn in seinen Bestrebungen nachdrücklich unterstützt.” Dies lässt sich vom Vorsitzenden gewiss sagen; aber selbstverständlich nur dann, wenn er eben auch die verfassungsfeindlichen Bestrebungen unterstützt. Dann mögen ihm gegenüber Grundrechtseingriff zulässig sein. Sofern er dies aber gerichtsbekannt nicht tut, ist jener legitime Belang ihmnicht entgegenzuhalten. Das gilt umso mehr, wenn er schon längere Zeit hindurch beobachtet worden ist, Anhaltspunkte für eine eigene verfassungsfeindliche Tätigkeit aber schon seit Jahren nicht mehr bestehen. Dann kann ihm die Notwendigkeit des Schutzes der Verfassung als Eingriffsrechtfertigung nicht mehr entgegengehalten werden.

Dies ist gegenüber der Partei insgesamt und gegenüber ihren verfassungsfeindlichen Mitgliedern selbstverständlich anders. Und die Partei darf weiterhin aufgeklärt werden, und zwar auch durch Informationssammlung über ihre Mitglieder und Organe. Denn ohne diese kann die Partei gar nicht handeln. Die verfassungstreuen Mitglieder können als Informationsquellen über Andere in Betracht kommen.

Der Schutz des freien Mandats und der Verfas­sungs­schutz

Das freie Mandat ist in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG aus zwei Gründen garantiert, Da ist zunächst der Schutz der Rechtssphäre der Abgeordneten selbst: Das freie Mandat erweitert und ergänzt den Schutz ihrer Grundrechte (BVerfGE 104, 310). Da ist weiter der Schutz des Parlaments insgesamt: Es bildet den maßgeblichen Ort der Funktionsfähigkeit der repräsentativen Demokratie. Beide Aspekte ergänzen und effektivieren einander; sie sind geeignet, ihre Schutzrichtung und ihren Schutzumfang zu verstärken. Was Art. 46 f. GG zum Schutz der Rechtssphäre der Abgeordneten anordnet (Immunität, Indemnität, Zeugnisverweigerungsrecht), ist demnach nicht als Privileg, sondern maßgeblich als Funktionsschutz zu begreifen, welcher die Ausübung der Abgeordnetentätigkeit sichert. Auch wenn diese hier im unmittelbaren Sinne nicht einschlägig sein mögen, so ist doch der Schutz der Abgeordnetentätigkeit nicht auf die dort genannten Dimensionen beschränkt: Vielmehr begründet Art. 38 GG den Schutz der Ausübungs- und Funktionsbedingungen des Mandats insgesamt. Hier können mehrere Dimensionen einschlägig sein:

(1) Die Sicherung der parlamentarischen Kontrolle des Parlaments über die Exekutive: Sie sichert die Rückführbarkeit der Tätigkeit der Exekutive auf das Volk und die demokratisch beschlossenen Gesetze. Dies schließt umgekehrt eine Kontrolle der Ab-geordneten durch die Exekutive aus. Die gerade im Bereich der Nachrichtendienste bislang eher rudimentär ausgebildete und stark krisenanfällige Kontrolle bedarf der Effektivierung, nicht ihrer Schwächung. Der Kontrollaspekt schließt insbesondere nachrichtendienstliche Maßnahmen in der Rechtssphäre derjenigen Abgeordneten aus, die unmittelbar oder mittelbar mit der Beaufsichtigung der Dienste befasst sind. „Verfassungsimmanente Schranken” lassen sich hier allenfalls dann feststellen, wenn die Abgeordneten ihre Tätigkeit konkret missbrauchen, also ein starker Verdacht in der Richtung besteht, dass sie Informationen aus ihrer Tätigkeit an andere Geheimdienste weitergeben. Die bloße Möglichkeit dazu reicht gewiss nicht aus, da sie bei jedem Abgeordneten bestehen könnte.

(2) Der Schutz der Abgeordneten gegen Einschüchterung: Wer polizeilicher oder nachrichtendienstlicher Tätigkeit ausgesetzt ist, kann in seiner Freiheit als Abgeordneter beeinträchtigt sein. Das gilt nicht nur dann, wenn ihm Strafen oder sonstige staatliche Sanktionen drohen. Das gilt auch, wenn mögliche Veröffentlichungen oder Indiskretionen aus seiner Sphäre in die Öffentlichkeit dringen können. Dadurch kann ein Konformitätsdruck entstehen, welcher den Abgeordneten veranlasst, sich bei der Ausübung seiner Tätigkeit zurückzuhalten, indem er bestimmte Themen nicht anspricht, Fragen nicht stellt oder sich aus einzelnen Politikbereichen zurückzieht. Wichtig hierbei ist Folgendes: Der Schutz des freien Mandats ist nicht erst dann einschlägig, wenn solche Beeinträchtigungen im Einzelfall nachweisbar sind. Vielmehr schützt es nicht nur die Freiheit der Abgeordnetentätigkeit selbst, sondern deren Ermöglichung durch Vorverlagerung des Schutzes auf potentielle Beeinträchtigungen.

(3) Die Gleichheit der Abgeordneten, namentlich von Mehrheits- und Minderheitsfraktionen. Sie zeigt sich nicht nur im Anspruch auf rechtliche, sondern auch auf politische Gleichheit. Dazu zählt die Freiheit von Stigmatisierung dadurch, dass einzelne Abgeordnete als potentielles Sicherheitsrisiko ausgeforscht werden. Insoweit ist nicht nur der Verfassungsschutzbericht ein „scharfes Schwert” (D.Murswiek), sondern auch die Tätigkeit des Nachrichtendienstes selbst. Eine derartige Stigmatisierung kann insbesondere die Chancengleichheit bei (zukünftigen) Wahlen beeinträchtigen.

Diese Dimensionen gelten, wie schon Art. 46 f. GG zeigen, nicht grenzenlos. In Einzelfällen können sie Einschränkungen zugänglich sein, wenn etwa Abgeordnete Straftaten begehen oder sich parlamentarischen Regeln entziehen. Dies setzt aber voraus, dass es der Abgeordnete selbst ist, der gegen solche Regeln und damit die Bedingungen und Schranken seines Mandats verstößt. Dies wird Ramelow nicht entgegengehalten. Ursächlich für seine Beobachtung sei vielmehr seine „herausgehobene politische Betätigung in einer Partei, bei der Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die fdGO bestehen”. Dieses Argumente betrifft eher Art. 21 GG als Art. 38 GG. Weiter wird betont die Untrennbarkeit parlamentarischer und parteipolitischer Tätigkeit: „Die Arbeit für und in der Partei lässt sich nicht säuberlich von der Wahrnehmung des Mandats trennen. … Kehrseite der Vorteile, die der Abgeordnete bei der Wahrnehmung seines Mandats aus seiner Einbindung in eine Partei zieht, ist aber, dass er die Nachteile für seine Arbeit hinzunehmen hat, die sich an zulässige Maßnahmen des Verfassungsschutzes gegen die Partei knüpfen, für die der Abgeordnete wirken will.” Hier wird das grundgesetzliche System auf den Kopf gestellt. Danach erweitert Art. 38 GG nicht den Schutz der Abgeordneten, sondern soll vielmehr seinerseits auf das ohnehin vorhandene niedrigere Schutzniveau von Parteipolitikern reduziert werden.

Das OVG Münster hatte sich als Vorinstanz den Gedanken der Schutzverstärkung zu eigen gemacht und eine doppelte bzw. gesteigerte Verhältnismäßigkeitsprüfung gefordert. Sie war der tragende Aspekt dafür gewesen, dass es zu einem vom BVerwG abweichenden Ergebnis gekommen war. Darin liegt einerseits die zutreffende Erkenntnis eines verstärkten Schutzes des Abgeordneten und seines freien Mandats. Andererseits sind Erwägungen des Übermaßverbots sehr fluide und abwägungsoffen. Das BVerwG ist darauf kaum eingegangen und hat allein den Grundsatz der streitbaren Demokratie und der Parteizugehörigkeit Ramelows stärker hervorgehoben. Viel spricht dafür, hier nicht bei den Rechtsfolgen, sondern stärker beim Schutzbereich der maßgeblichen Verfassungsnormen anzusetzen.

Infor­ma­ti­o­nelle Selbst­be­stim­mung und Zuschrei­bungs­verbot

Wer Informationen über Parteien erheben und verarbeiten will, muss bei den Organen und Mitgliedern ansetzen: Nur durch sie handelt die Partei, anders kann man (teils-) rechtsfähige juristische Personen nicht beobachten. Dieser Gedanke liegt dem Urteil des BVerwG in allen Teilen zugrunde. Und aus ihm werden alle Schlüsse hergeleitet, welche die Rechtmäßigkeit der getroffenen Maßnahmen gegen Bodo Ramelow betreffen, der selbst keine verfassungsfeindlichen Aktivitäten zeigte.
Aber warum wurde dann über ihn eine Informationssammlung angelegt? Informationserhebung aus offenen Quellen hat einen nur sehr geringen grundrechtseingreifenden Gehalt, da die Informationen öffentlich und damit der Selbstbestimmung ihres Trägers entzogen sind. Aber die Anlegung einer Informationssammlung zu einer Person geht darüber weit hinaus. Soweit diese nicht ausdrücklich als eine solche über Zeugen, Außenstehende oder Nicht Betroffene gekennzeichnet wird — womit sich verstärkt die Frage nach der Zulässigkeit ihrer Anlegung stellen würde —, ist die Anlegung der Datei zu-lässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen vorliegen oder aber dies für die Erforschung solcher Bestrebungen notwendig ist (§ 10 BVerfSchG). Über wen die Datei angelegt wird, ist also nachrichtendienstlich relevant und damit in das Feld von Verfassungsfeinden, ihren Unterstützern, Mitwissern oder Informationsmittlern gerückt. Eine solche Zuschreibung greift in das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung ein; sie ist geeignet, an die Stelle der Person einen Informationsschatten zu setzen, dem zudem juristische Relevanz zukommen kann. Dies gilt zwar noch nicht für die geheime Anlegung solcher Dateien selbst, wohl aber für die Möglichkeit, die geheim gesammelten und verwalteten und daher vom Betroffenen notwendig unkontrollierbaren Daten zu verwenden. In zahlreichen Verwaltungsverfahren können solche Informationen oder aber schon die Tatsache ihres Vorhandenseins abgefragt und verwendet werden. Fehlt dann die Fehlanzeige („Negativattest“), so können den Betroffenen rechtliche Nachteile entstehen, gegen die sie sich mangels Bekanntgabe der dafür relevanten Informationen gerichtlich kaum wehren können. Darin liegt eine stigmatisierende Wirkung, welche von den Verfassungsschutzbehörden bisweilen auch angestrebt wird, etwa durch Veröffentlichungen im Verfassungsschutzbericht. Ein solcher Eingriff wiegt als Folgeeingriff der Informationserhebung wesentlich schwerer als diese. Und er ist nicht einfach zulässig, wenn die Informationen zulässigerweise erhoben worden sind. Und er ist zudem geeignet, nicht nur in Art. 2 Abs. 1 GG, sondern auch in Art. 21, 38 GG einzugreifen.

Aber wem sind denn nun die Informationen zuzuschreiben? Was zur Linkspartei zulässigerweise erhoben wurde und gespeichert werden darf, ist ihr zuzuschreiben. Hinge-gen liegt in ihrer Zuschreibung zu Bodo Ramelow ein Grundrechtseingriff, welcher geeignet ist, ihn — und nicht die Linkspartei oder Strömungen in ihr — zu stigmatisieren. Dafür lässt sich kein rechtfertigender Belang denken.

Fazit

Die akute Legitimationskrise der Verfassungsschutzbehörden durch das NSU-Desaster scheint langsam abzuklingen. Rücktritte, Reformversprechen der Regierungen, ablaufende Legislaturperioden und eine gewisse Ermüdung der Öffentlichkeit an Skandalen der Nachrichtendienste lassen erste Zweifel daran aufkommen, ob die Parlamente und ihre Untersuchungsausschüsse die Kraft zu grundlegenden Diskussionen und Reformen noch besitzen.

Dann wäre die Legitimation des Verfassungsschutzes grundsätzlich zu diskutieren: Kann man ihn abschaffen? Was kann, was muss er behalten? Was ist sein Kerngeschäft? Und wie muss er aufgestellt sein, um die knappe Ressource Aufklärung auf die wirklichen Gefahren zu konzentrieren? Dabei ist die Aufklärung geheimer Aktivitäten wichtiger als diejenige von Politikern, die ohnehin in der Öffentlichkeit und unter medialer Beobachtung stehen. Deren Aktivitäten kann man in jedem Pressearchiv nachlesen. Dafür brauchen wir keinen Verfassungsschutz! Wenn man ihn wirklich braucht, muss er sich an seinen Leistungen bei der wirklich geheimen Aufklärung messen lassen – und angesichts von Gefahren, die in Gegenwart und absehbarer Zukunft wirklich bestehen. Ganz gewiss in Thüringen, aber auch anderswo ….

Literatur

OVG Münster, Urteil vom 13.2.2009, Az. 16 A 845/08.
BVerwG, Urteil vom 21.7.2010, Az. 6 C 22.9 (auf der Homepage des Gerichts; abgedruckt etwa in JZ 2011, S.39.
Möllers, Christoph 2011: Anm. (zu BVerwG ebd.), JZ 2011, S. 48.
Schäfer, Gerhard/Wache, Volkhard/Meiborg, Gerhard 2012: Gutachten zum Verhalten der Thüringer Behörden und Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung des Zwickauer Trios, 2012 (auf der Homepage des Thüringer Landtags).

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