Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 200: Digitale Demokratie

Strategien gegen Altersarmut

Wie den Minirenten begegnet werden soll

aus: Vorgänge Nr. 200 ( Heft 4/2012), S.90-97

Altersarmut droht keineswegs – wie häufig behauptet – erst in ferner Zukunft, das Problem der Verarmung älterer Menschen existiert vielmehr schon längst. Größere öffentliche Aufmerksamkeit wurde ihm zuteil, als Ursula von der Leyen im September 2012 – vermutlich, um ihr Projekt der „Zuschussrente” innerhalb der Union und der Koalition durchsetzungsfähig zu machen – dramatische Zahlen zur mutmaßlichen Rentenhöhe von normalen Arbeitnehmer(inne)n im Jahr 2030 veröffentlichte.[1] Nicht bloß Menschen, die Angst vor Armut im Alter haben, verdrängen das für sie wie für die Gesellschaft leidige Thema jedoch noch heute am liebsten.[2] Hier soll gefragt werden, ob bekannte Lösungsansätze, etwa die „Lebensleistungsrente” der CDU/CSU/FDP-Koalition bzw. die „Solidarrente” der SPD, zu einer spürbaren Verringerung der bestehenden Altersarmut und/oder zu einer Verhinderung des Auftretens weiterer Armutstendenzen beitragen können.

Ursula von der Leyens „Renten­paket”

Die etablierten Parteien reagierten unterschiedlich auf das Problem sich im Alter mehrender Armutsrisiken. CDU, CSU und FDP bekundeten in dem am 26. Oktober 2009 unterzeichneten Koalitionsvertrag „Wachstum – Bildung – Zusammenhalt” ihre Absicht einer weiteren Rentenreform mit dem Ziel, „dass sich die private und betriebliche Altersvorsorge auch für Geringverdiener lohnt und auch diejenigen, die ein Leben lang Vollzeit gearbeitet und vorgesorgt haben, ein Alterseinkommen oberhalb der Grundsicherung erhalten, das bedarfsabhängig und steuerfinanziert ist.” [3] Ein geeignetes Konzept dafür sollte eine Regierungskommission entwickeln, was aber unterblieb, weil die Arbeits- und Sozialministerin mit fast zweijähriger Verzögerung lieber einen „Regierungsdialog Rente” ins Leben rief.

Ursula von der Leyen schnürte ein „Rentenpaket”, das in erster Linie aus einer „Zuschussrente” für langjährig versicherte Geringverdiener/innen, leichten Korrekturen beider Erwerbsminderungsrente und einer „Kombirente” (vorzeitiger Rentenbezug in Verbindung mit einem Teilzeitjob) bestand. Da ihr Konzept nicht nur bei der FDP, sondern auch beim Wirtschaftsflügel der Union und bei Teilen ihrer eigenen Bundestagsfraktion, vornehmlich den als „Junge Gruppe” firmierenden CDU/CSU-Abgeordneten, auf heftigen Widerstand stieß, zog von der Leyen ihren Entwurf für ein „Gesetz zur Anerkennung der Lebensleistung in der Rentenversicherung” (RV-Lebensleistungsanerkennungsgesetz) wieder zurück und legte am 7. August 2012 den Entwurf eines „Gesetzes zur Stärkung der Alterssicherung” (Alterssicherungsstärkungsgesetz) vor, dessen Beratung das Bundeskabinett aber verschob. Die von der FDP verlangte Senkung des Rentenbeitragssatzes (von 19,6 auf 18,9 Prozent) wurde aus dem Gesetzentwurf herausgelöst und separat beschlossen. Davon profitieren hauptsächlich die Arbeitgeber, während die Arbeitnehmer/innen zwar auch geringere Beiträge entrichten, dies aber im Alter mit niedrigeren Renten büßen.

Weder die, geplanten Verbesserungen im Bereich der Erwerbsminderungsrenten (Abschaffung von Abschlägen und Verlängerung der Zurechnungszeiten) noch Ursula von der Leyens Zuschussrente kämen im Verwirklichungsfalle den jetzigen Altersrentner(inne)n zugute. Vielmehr könnten erst künftige Ruheständler/innen von den Reformmaßnahmen profitieren. Aufgrund hoher Zugangshürden (lange Versicherungsund Pflichtbeitragszeiten sowie jahrzehntelanges „Riestern”) würde die Zuschussrente jedoch nur eine Minderheit von ihnen erreichen. Menschen mit einem lückenhaften Erwerbsverlauf (z. B. Mehrfach- und Langzeitarbeitslose) müssten auf den Rentenzuschuss verzichten, weil sie die genannten Voraussetzungen nicht erfüllen. Würden sie die Voraussetzungen erfüllen, kämen die Betroffenen in den Genuss eines Rentenzuschusses, der ihre Bezüge auf 850 Euro brutto ansteigen ließe. Davon wären noch Bei-träge zur Kranken- und Pflegeversicherung zu entrichten. Mit den verbleibenden 764 Euro netto wäre man nach dem offiziellen EU-Maßstab von unter 60 Prozent des mittleren gewichteten Haushaltsnettoeinkommens (zuletzt 952 Euro) immer noch armutsgefährdet und besonders in westdeutschen Großstädten kaum in der Lage, eine Wohnung zu mieten, zwischenmenschliche Kontakte zu pflegen und sich am sozialen Leben zu beteiligen.

Mit der Zuschussrente wollte von der Leyen entsprechend dem Hartz-Mantra „Fördern und Fordern” nur eine bestimmte Gruppe von Rentner(inne)n besserstellen: „Die Zuschussrente soll die Lebensleistung von Menschen in der Rente besser honorieren, die viele Jahre erwerbstätig waren, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt und gleichzeitig für später zusätzlich vorgesorgt haben.“[4] Mithin sollte der Lebenslauf „fleißiger Geringverdiener” (Ursula von der Leyen) ein hohes Maß an Kontinuität aufweisen, ging es der Bundesarbeitsministerin doch „um die nachträgliche Belohnung einer Musterbiographie”, wie sie ihr vorschwebt,[5]

Seit ihrer Einführung war die staatlich subventionierte Privatvorsorge freiwillig. Da eine der o. g. Voraussetzungen für den Bezug der Zuschussrente das jahre-, später sogar das jahrzehntelange „Riestern” ist, lässt sich diese als weiteres Förderprogramm für die Versicherungswirtschaft bezeichnen.[6] Denn damit würde zumindest für Geringverdiener/innen das Obligatorium durch die Hintertür eingeführt – ausgerechnet für eine Bevölkerungsgruppe, deren Angehörige bisher höchst selten Riester-Verträge abschließen, weil sie mit ihrem kargen Lohn oder Gehalt ohnehin kaum über die Runden kommen.

Ursula von der Leyens umstrittenes Rentenpaket bot keine Lösung für das Problem der Armut im Alter, sondern warf zahlreiche Fragen auf. Beispielsweise wäre die Zahlung der Zuschussrente vom Bestehen einer Bedürftigkeitsprüfung abhängig. Zum ersten Mal seit dem Niedergang der Weimarer Republik sollten also wieder Elemente der Fürsorge in das Sozialversicherungssystem eingebaut werden. Damals trug dies — sicher unter gänzlich anderen ökonomischen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen als heute — zusammen mit der Kürzung von staatlichen Transferleistungen für Bedürftige und der „Aussteuerung” von Arbeitslosen zur Zerschlagung des Sozialstaates wie der Demokratie bei. Selbst bei den Anspruchsberechtigten könnte die Zuschussrente wenig gegen die Altersarmut ausrichten, müssten sie doch von ihren damit auf 850 Euro im Monat aufgestockten Bezügen noch Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung entrichten.

Ähnliches gilt für das nach langen Querelen beschlossene Projekt der Regierungskoalition. In der Nacht vom 4. auf den 5. November 2012 verständigten sich die Partei-und Fraktionsspitzen der CDU, der CSU und der FDP — übrigens ohne Ursula von der Leyen hinzuzuziehen — im Koalitionsausschuss auf eine „Lebensleistungsrente”, die „einen wichtigen Beitrag zur Verhinderung von Altersarmut” leisten soll.[7] Jeder, der sein Leben lang beschäftigt war und privat vorgesorgt hat, solle ein Alterseinkommen „knapp oberhalb der Grundsicherung” erhalten, heißt es im Beschlussprotokoll der Sitzung weiter.[8] Es handelte sich um einen Formelkompromiss, welcher die unterschiedlichen Vorstellungen der Regierungsparteien überdeckte.

Da die Koalitionäre weder ein konkretes Modell noch ein Finanzierungskonzept für den avisierten Rentenzuschuss aus Steuermitteln beschlossen hatten, ging die kontroverse Debatte darüber im Regierungslager jedoch weiter. Während prominente Vertreter der FDP wie der CSU den durchschnittlichen Zahlbetrag der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zugrunde legten, argumentierte das Arbeits- und Sozialministerium unter Hinweis auf die sehr viel höheren Regelbedarfe etwa in München oder Wiesbaden, die Lebensleistungs- müsse schon im Bereich der Zuschussrente liegen, wenn sie auch die Anspruchsberechtigten in solchen Städten überhaupt erreichen solle. Ebenso umstritten wie die Höhe des Staatszuschusses für eine relativ kleine Gruppe der Niedrigstrentner/innen blieb die Frage, wer einen Freibetrag aufgrund privater Vorsorge erhalten und welche Höhe er haben sollte. Auch die eigens gebildete Arbeitsgruppe der Regierungsfraktionen konnte sich laut Presseberichten nicht auf einen Gesetzentwurf einigen.[9] Ob es vor der Bundestagswahl im September 2013 überhaupt noch eine Regelung gibt, ist daher fraglich. Unabhängig davon dürfte das Thema „Aufstockung von Niedrigrenten” aufgrund der steigenden Altersarmut im Mittelpunkt des kommenden Wahlkampfes stehen.

Alter Wein in neuen Schläuchen — das Renten­kon­zept der SPD

Das unter der Leitung ihres Vorsitzenden Sigmar Gabriel erarbeitete Rentenkonzept der SPD war gleichfalls eine Reaktion auf die Zuschussrente. Ursula von der Leyen war damit während der Sommermonate des Jahres 2012 in den Medien so stark präsent, dass die größte Oppositionspartei möglichst schnell ein Alternativkonzept brauchte, obwohl es parteiintern heftige Kontroversen darüber gab.[10] Ohne langen Vorlauf und die nötige Abstimmung mit den namhaftesten Rentenexpert(inn)en seiner Partei legte Gabriel ein Papier unter dem Titel „Altersarmut bekämpfen — Lebensleistung honorieren — flexible Übergänge in die Renten schaffen” vor, über das der erweiterte Parteivorstand am 10. September 2012 beriet.[11]

Am 24. November verabschiedete der SPD-Parteikonvent in Berlin unter dem Titel „Arbeit muss sich lohnen!” ein Papier zur Rentenpolitik. Gabriel und der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Peer Steinbrück gingen damit zwar ein Stück auf ihre innerparteilichen Kritiker/innen zu, die eine weitere Absenkung des Rentenniveaus kategorisch ablehnten. Die auf der Grundlage eines nordrhein-westfälischen Kompromissvorschlages in Beschlussform gegossene Hoffuung, das gegenwärtige Sicherungsniveau vor Steuern (ca. 50 Prozent) durch Schaffung von mehr sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen und Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von 8,50 Euro bis 2020 halten zu können, um erst dann über den zentralen Streitpunkt der SPD-Rentenpolitik zu befinden,[12] dürfte sich indes als trügerisch erweisen.

40 Jahre lang Versicherten, die 30 Beitragsjahre erreichen und „unverschuldet lange Zeit arbeitslos” oder „in schlecht bezahlter Arbeit beschäftigt” waren, verspricht die SPD eine Solidarrente „nicht unter 850 €” durch Höherwertung ihrer Zeiten der Arbeitslosigkeit und der Beschäftigungszeiten im Niedriglohnsektor.[13] Wer diese Besserstellung trotz Erfüllung der genannten Bedingungen innerhalb der Gesetzlichen Rentenversicherung nicht erreicht, soll denselben Betrag im Rahmen einer neu zu schaffenden „zweiten Säule” der Grundsicherung im Alter erhalten, muss sich allerdings einer Bedürftigkeitsprüfung unterziehen. Damit würde eine „Grundsicherung de luxe” eingeführt, im Fürsorgebereich eine Zwei-Klassen-Gesellschaft errichtet und das Problem der Altersarmut insbesondere für Frauen, die an den Zugangsvoraussetzungen scheitern, keineswegs gelöst.

Johannes Steffen befürchtet, dass sich das Rentenversicherungs- und das Grundsicherungssystem immer stärker überlappen und angleichen, wenn eine Fürsorgeleistung wie die „zweite Stufe der Grundsicherung” von der Erfüllung versicherungsrechtlicher Wartezeiten abhängig gemacht oder wenn die Bedürftigkeitsprüfung — wie bei der Zuschussrente — vom Versicherungssystem übernommen wird.[14] Die — im Unterschied zur Zuschussrente — ausschließlich steuerfinanzierte „Solidarrente” der SPD würde die Arbeitgeber zudem noch stärker aus ihrer Verantwortung für eine solide Alterssicherung der Arbeitnehmer entlassen.

Weiterhin sprach sich die SPD gegen die vorgesehene Absenkung des Beitragssatzes der Gesetzlichen Rentenversicherung und für eine kontinuierliche Steigerung auf das bis zum Jahr 2020 bei 22 Prozent gedeckelte Niveau aus.[15] Warum der Beitragssatz nicht stärker angehoben werden soll, falls die Gesellschaft aufgrund des demografischen Wandels so stark altert, wie es Horrorszenarien der Bevölkerungswissenschaft beschwören, ist schwer einsehbar. Stattdessen fordert die SPD eine Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge, die eine weitere Schwächung der Gesetzlichen Rentenversicherung impliziert. Die betriebliche Altersvorsorge ist der individuellen Privatvorsorge zwar dadurch überlegen, dass kollektive Lösungen für die Versicherten günstiger sind, teilt mit dieser aber das Risiko aller Kapitalanlagen, die „normalen” Kursschwankungen unterliegen und von Krisen der Finanzmärkte nicht unberührt bleiben. Wenn die Gewerkschaften schwach sind, wird es in aller Regel keine Beteiligung der Arbeitgeberseite geben, wodurch man die Last eines weiteren Teils der Altersvorsorge den Beschäftigten aufbürdet. Eine nach dem SPD-Vorschlag aus Steuermitteln gespeiste Förderung der betrieblichen Altersvorsorge gleicht dem Konzept, das Walter Riester bei der privaten Altersvorsorge zum Nachteil für die Versicherten durchgesetzt hat. Man kann auch sagen: Es handelt sich um alten Wein in neuen Schläuchen. Hauptnutznießer einer solchen Reform wären einmal mehr die private Versicherungswirtschaft, Banken und Finanzdienstleister.

Dass die SPD und ihr Kanzlerkandidat Peer Steinbrück an der Riester-Reform, der bisher erfolgten Absenkung des Rentenniveaus auf ca. 50 Prozent und der „Rente mit 67” im Kern festhalten, macht sie im Kampf gegen die Altersarmut nicht eben glaubwürdiger. Sowohl die organisierte SPD-Linke (Forum DL 21) wie auch alle wichtigen sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaften — die Jungsozialisten in der SPD (Jusos), die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA), die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (AsF) und die Arbeitsgemeinschaft der Älteren in der SPD (AG 60plus) — lehnen diese Politik zusammen mit großen Teilen der Parteibasis ab.

Stabile Alters­si­che­rung durch Stärkung der gesetz­li­chen Rente

Um überzeugende Alternativen entwickeln zu können, bedarf es einer Analyse gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse und politischer Entscheidungen, die für das häufigere Auftreten der Armut im Alter verantwortlich sind. Nur wenn Klarheit darüber herrscht, warum es in einer so wohlhabenden Gesellschaft wie der unsrigen zur Verarmung älterer Menschen kommt, kann Einigkeit darüber hergestellt werden, wie man ihr am wirksamsten begegnen kann. Gleichzeitig gilt es, falsche Behauptungen, etwa den Einfluss demografischer Entwicklungsprozesse betreffend, zu widerlegen und hinter propagierten Irrwegen aus der Altersarmut steckende Interessen aufzudecken.

Armut im Alter hat zwei Hauptursachen: die Deformation des Sozialstaates im All-gemeinen sowie die Demontage der Gesetzlichen Rentenversicherung und die Deregulierung des Arbeitsmarktes im Besonderen. Genannt seien in diesem Zusammenhang nur die Lockerung des Kündigungsschutzes, die Einführung von Mini- bzw. Midijobs, die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe sowie die Liberalisierung der Leiharbeit. Da die hiesige Altersarmut nur multikausal erklärbar ist, müssen Gegenmaßnahmen an mehreren Stellschrauben ansetzen. Um die beiden Hauptübel (Destabilisierung des Rentenniveaus und Deregulierung des Arbeitsmarktes) zu beseitigen, müssen die sog. Dämpfungsfaktoren („Riester-Treppe“, „Nachhaltigkeitsfaktor” und „Nachholfaktor”) aus der Rentenanpassungsformel entfernt, die Anhebung der Regelaltersgrenze gestoppt, ein allgemeiner Mindestlohn gesetzlich fixiert, der Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen entgegengewirkt und die (Teil-)Privatisierung der Altersvorsorge rückgängig gemacht werden. Soll die bestehende Altersarmut verringert und das Entstehen weiterer verhindert werden, ist ein neuerlicher Paradigmenwechsel nötig. Die in Zukunft eher noch wachsende Altersarmut muss mit einer Rückbesinnung auf das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes beantwortet werden. Dazu gehören eine Rekonstruktion des Normalarbeitsverhältnisses (nicht nur für Männer) sowie eine Rückabwicklung der mit den Namen von Walter Riester und Bert Rürup verbundenen Rentenreformen. Zu rehabilitieren ist die Lohnersatzfunktion der gesetzlichen Rente, also das Lebensstandardsicherungsprinzip. Außerdem sollte das gesetzliche Renteneintrittsalter bei 65 Jahren bleiben und die Bundesagentur für Arbeit verpflichtet werden, für Hartz-IV-Bezieher/innen wieder ausreichend hohe Beiträge in die Rentenkasse einzuzahlen.

Da die Deregulierung des Arbeitsmarktes sowie die Flexibilisierung und Prekarisierung eines Großteils der Beschäftigungsverhältnisse meistens Jahrzehnte später in die Altersarmut von Millionen Menschen münden, sind auch die sog. Hartz-Gesetze weiterhin zu problematisieren. Ähnliches gilt für die Rentenreformen seit 1989 bzw. 1992, mit denen das Alterssicherungsniveau sank und die Reseniorisierung der Armut begann. Schließlich verliert ein Wirtschafts-, Beschäftigungs – und Alterssicherungssystem, welches nicht verhindert, dass Menschen selbst nach jahrzehntelanger Vollerwerbstätigkeit einen Ruhestand in Armut erleben, nicht bloß an Zustimmung in der Bevölkerung, sondern auch seine Daseinsberechtigung.

Länger­fris­tiger Ausbau der gesetz­li­chen Renten-zu einer solida­ri­schen Bürger­ver­si­che­rung

Die gegenwärtigen Oppositionsparteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen und DIE LINKE sind rentenpolitisch nicht so weit voneinander entfernt, wie es beim Blick auf die Details ihrer Konzepte scheinen mag. Das gilt vor allem, wenn man die Überlegungen bzw, die Gegenvorschläge ihrer Fachpolitiker/innen und deren Referent(inn)en zugrunde legt.[16] Die rentenpolitischen Sprecher aller drei Parteien — Anton Schaaf, Wolfgang Strengmann-Kuhn und Matthias W. Birkwald — bekennen sich explizit zum Projekt einer solidarischen Bürger- bzw. Erwerbstätigenversicherung. Auch die Gewerkschaften und namhafte Wohlfahrtsverbände der Bundesrepublik stehen dahinter, wenngleich es unterschiedliche Varianten und viele Nuancen gibt.[17]

Den durch Deregulierungsmaßnahmen induzierten Veränderungen am Arbeitsmarkt, die eine Verschlechterung für jene Menschen darstellen, die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind, um leben zu können, oder sie zu (Schein-)Selbstständigen gemacht hat, denen es häufig nicht besser geht, sollte vorrangig durch eine Ausdehnung der Versicherungspflicht Rechnung getragen werden. Da abhängige und selbstständige Arbeit, Selbstständigkeit und sog.

Scheinselbstständigkeit fließend ineinander übergehen, bedarf es einer Versicherungspflicht aller Erwerbstätigen, einschließlich jener Gruppen, die bislang in Sondersystemen bzw. zu besonderen Bedingungen abgesichert werden (Beamte, Landwirte, Handwerker/innen, Künstler/innen und freie Berufe). Wenn man davon ausgeht, dass nur individualisierte Versicherungslösungen der gesellschaftlichen Entwicklung und den heutigen Werthaltungen angemessen sind, müssen auch erwachsene Nichterwerbstätige einer Mindestbeitragspflicht unterworfen werden.[18]

Daher ist eine solidarische Bürger- der Erwerbstätigenversicherung vorzuziehen.[19]

Solidarisch zu sein meint, dass die Bürgerversicherung zwischen ökonomisch unter-schiedlich Leistungsfähigen einen sozialen Ausgleich herstellen muss. Nicht nur auf Löhne und Gehälter, sondern auf sämtliche Einkunftsarten – also auch Einkünfte aus Kapitalvermögen, Vermietung und Verpachtung: Dividenden, Veräußerungsgewinne und Zinsen sowie Miet- und Pachterlöse – sind Beiträge zu erheben. Entgegen einem verbreiteten Missverständnis bedeutet dies nicht, dass Arbeitgeberbeiträge entfallen. Vielmehr könnten diese als Wertschöpfungsbeitrag („Maschinensteuer“) erhoben und damit gerechter als bisher auf beschäftigungs- und kapitalintensive Unternehmen verteilt werden. Nach oben darf es weder Beitragsbemessungs- noch Versicherungspflicht grenzen geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben würden, sich ihrer Verantwortung für sozial Benachteiligte zu entziehen und in exklusive Sicherungssysteme auszuweichen. Nach unten muss finanziell aufgefangen werden, wer den nach Einkommenshöhe gestaffelten Beitrag nicht selbst entrichten kann. Nur im Falle fehlender, vorübergehender oder eingeschränkter Zahlungsfähigkeit der Versicherten hätte also der Staat die Aufgabe, Beiträge bedarfsbezogen zu „subventionieren”, d. h. aus dem allgemeinen Steueraufkommen zuzuschießen. Vorbild dafür könnte die Gesetzliche Unfallversicherung sein. Dort dient der Staat gewissermaßen als Ausfallbürge für Vorschulkinder, Schüler/innen und Studierende, die einen Kindergarten, eine allgemeinbildende Schule bzw. eine Hochschule besuchen, sowie für Menschen, die ehrenamtlich tätig sind.

Bürgerversicherung bedeutet, dass Mitglieder aller Berufs gruppen, d.h. nicht nur abhängig Beschäftigte, aufgenommen werden. Da sämtliche Wohnbürger/innen in das System einbezogen wären, blieben weder Selbstständige, Freiberufler/innen, Beamte, Abgeordnete und Minister noch Ausländer/innen mit Daueraufenthalt in der Bundesre-publik außen vor. Es geht darum, die Finanzierungsbasis des sozialen Sicherungssystems zu verbreitern, aber auch darum, den Kreis seiner Mitglieder im Sinne der Schaffung eines inklusiven Sozialstaates zu erweitern.

Bürgerversicherung schließlich bedeutet, dass es sich um eine Versicherungslösung handelt, also gewährleistet sein muss, dass ihre Mitglieder, soweit sie dazu finanziell in der Lage sind, Beiträge entrichten und entsprechend geschützte Ansprüche erwerben. Dies schließt keineswegs aus, dass sich der Staat mit Steuergeldern am Auf- und Ausbau der Versicherung beteiligt. Die geplante Bürgerversicherung würde allerdings zum Einfallstor für einen Systemwechsel, wenn sie nicht nach dem Versicherungsprinzip konstruiert wäre, sondern vollständig aus Steuermitteln finanziert würde.

[1] Vgl. Angelika Hellemann, Die neue Renten-Schock-Tabelle. Wer heute weniger als 2500 Euro verdient, dem droht Altersarmut. Ministerin von der Leyen: Legitimität des Rentensystems in Gefahr, in: Bild am Sonntag v. 2,9.2012.
[2] Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge, Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, 3. Aufl. Frankfurt am Main/New York 2012.
[3] Siehe Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP für die 17. Legislaturperiode, Rheinbach
o.J. (2009), S. 100 f, 4 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana [4]Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE – Drucksache 17/9354: Das Rentenpaket -Inhalt, Ziele, Wirkungen, in: BT-Drs. 17/9826 v. 29.5.2012, S. 8.
[5] Siehe Dirk Jacobi, Von der Leyens Rentenwunder, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2012, S. 18.
[6] Vgl, zur Riester-Reform bzw. zu den dahinter stehenden Interessen: Diana Wehlau, Lobbyismus und Rentenreform. Der Einfluss der Finanzdienstleistungsbranche auf die Teil-Privatisierung der Alterssicherung, Wiesbaden 2009; Christian Christen, Politische Ökonomie der Alterssicherung. Kritik der Reformdebatte um Generationengerechtigkeit, Demographie und kapitalgedeckte finanzierung, Marburg 2011.
[7] Siehe Stetiges Wachstum und sichere Arbeitsplätze für ein starkes Deutschland. Beschlüsse des Koalitionsausschusses vom 4. November 2012, S. 2(http;//www,cdu.de/doc/pdfcI121105-Koalitionsausschuss.pdf; 25.11.2012).
[8] Vgl. ebd., S. 5 f.
[9] Vgl. z.B.: Rentenpaket steht vor dem Scheitern, in: FAZ v. 6.12.2012.8
[10] Vgl. dazu: Ottmar Schreiner/Cansel Kiziltepe, Randnotizen zum Rentendisput in der SPD, in: Christoph Butterwegge/Gerd Bosbach/Matthias W. Birkwald (Hrsg.), Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung, Frankfurt am Main/New York 2012, S. 302-321.
[11] Vgl. Eckpunkte für ein Konzept zur Bewältigung der rentenpolitischen Herausforderungen: Altersarmut bekämpfen – Lebensleistung honorieren – flexible Übergänge in die Rente schaffen, Vorlage für die Sitzung des erweiterten Parteivorstandes am 10. September 2012 (http://www.jusos.de/sites/ default/files/nachrichten files/Rentenkonzept%20Parteivorstand.pdf;15,9.2012),
[12] Vgl. Die SPD-Rentenpolitik: Arbeit muss sich lohnen! Beschluss Nr. 1 des 2. Parteikonvents der SPD in Berlin am 24. November 2012; www.spd.de/sca]ableImageBlob/82046/data/20121124_ pkonv2012_beschluss_arl_rente-data.pdf(10.12.2012), S. 5.
[13] Siehe ebd., 5. 2 f
[14] Vgl. Johannes Steffen, Politik mit Altersarmut. „Es geht um die Systemfrage”, in: Sozialismus 10/2012, S.19.
[15] Siehe ebd., S. 4.
[16] Vgl. Anton Schaaf/Andrea Franz, Sozialdemokratische Konzepte zur Sicherung des Lebensstandards und zur Bekämpfung von Altersarmut, in: Christoph Butterwegge/Gerd BosbachlMatthias W. Birkwald (Hrsg.), Armut im Alter, a.a.O., S. 283-301; Wolfgang Strengmann-Kuhn/Dirk Jacobi, Die Grüne Bürgerrente gegen Altersarmut – garantiert für alle, in: ebd., S. 322-333; Matthias W. Birkwald/Christian Brütt, Für ein von Armut freies Leben im Alter! – Die Solidarische Mindestrente im Rentenkonzept der LINKEN, in: ebd., S. 334-359.
[17] Vgl. Annelie Buntenbach, Soziale Sicherheit im Alter – eine Frage der Solidarität!, in: ebd., S. 227-243; Hans-Jürgen Urban/Axel Gerntke, Der Neue Generationenvertrag als Grundlage einer solidarischen Alterssicherung, in: ebd., S. 244-255; Adolf Bauer, Die Gesetzliche Renten – zur Erwerbstätigenversicherung fortentwickeln!, in: Christoph Butterwegge/Gerd Bosbach/Matthias W. Birkwald (Hrsg.), Armut im Alter, a.a.O., S. 256-266.
[18] Vgl. Diether Döring, Soziale Sicherheit im Alter? – Rentenversicherung auf dem Prüfstand, Berlin 1997, S. 92.
[19] Vgl. hierzu ausführlicher: Christoph Butterwegge, Krise und Zukunft des Sozialstaates, 4. Aufl. Wiesbaden 2012, S. 386-416.

nach oben