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Die program­mierte Partei

aus: Vorgänge Nr. 200 ( Heft 4/2012), S. 36-41

Die Piraten, soviel lässt sich angesichts ihres fulminanten Höhenfluges und dem ihm folgenden Absturz in den nationalen Umfragen sagen, sind ihrem historischen Vorbild in einem Aspekt nicht unähnlich. Der Schrecken den sie unter den gegnerischen Parteien verbreiten sowie die Faszination, die sie nicht nur auf ihre Anhänger ausstrahlen, stehen in einem recht unausgewogenen Verhältnis zu der tatsächlichen, in ihrem Fall parlamentarischen Schlagkraft.

Mittlerweile tritt dieser Mangel immer deutlicher zutage und der Stoff verblasst allmählich, aus dem sich die Erzählungen speisten, die zuhauf auf den realen und medialen Marktplätzen von ihnen und über sie verbreitet wurden. Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg, und in nichts sind Feuilletons und artverwandte politische Wissenschaftler kunstvoller, als in der retrospektiven Ausbreitung von Gründen eines Erfolges, den sie prospektiv nicht erahnt haben. Und so erklang seit dem Wahlabend in Berlin das hohe Lied auf die neue juvenile Kraft, der man angesichts eines erschlafften Parteienbetriebes, der sie als Alternative hervorgebracht hat, gerne einige Unkenntnis des Metiers und seiner Gepflogenheiten nachsah. Manche erkannten in der politischen Formation bereits die Vorhut eines neuen sozialen Milieus, das schon mal ohne störende Empirie auf dreißig Prozent veranschlagt wurde. Die Piraten vermochten auf diese Weise das Selbstbild zu festigen, sie seien, egal was sie gerade treiben, die innovative Speerspitze politischer und gesellschaftlicher Prozesse, ein Bild, dessen Aussagekraft sich nicht zuletzt an den konservativen Netz-Konvertiten erwies, die ihnen lustvoll nacheiferten.

Sie haben sich in mehreren Landesparlamenten festgesetzt und sogleich das Volk, das ihnen dorthin verholfen hat, in bester Piratenmanier mit internen Kabalen abgeschreckt. Nun sind sie geschwächt und es ist wahrlich nicht ausgemacht, dass sie mit der kommenden Bundestagswahl ins feste Ensemble des parlamentarischen Betriebes aufsteigen. Diese Wahl ist die Probe auf die Praxis, welche Rolle sie dort besetzen wollen. Sie beanspruchen für sich, die Fortschrittsvorstellung der Gesellschaft in einer Weise zu prägen, wie es die Sozialdemokraten in den siebziger und die Grünen in den achtziger Jahren getan haben. Doch auf den ersten Blick passen sie nicht in das Raster der Cleavages, der historischen Zuspitzungen einer jeweils spezifischen gesellschaftlichen und kulturellen Verwerfung, auf denen die Parteien eine ihre Existenz begründende politische Antwort gaben. Die letzte solchermaßen erfolgreiche Formation waren die Grünen, die das Mensch-NaturVerhältnis auf die politische Agenda hoben. Aber was ist die Innovation, die dem politischen Dasein der Piraten Dauerhaftigkeit verleihen wird?Die erste Selbstauskunft fällt erstaunlich altbacken aus: „The Medium ist the Massage”. Die doppeldeutige Botschaft die Herbert Marshall McLuhan 1967 noch analytisch auf die „orphischen Fähigkeiten des Radios, Fernsehens und Films” bezog, wurde, als die Piraten gerade in Berlin ihren ersten Sieg errungen hatten, von der damaligen politischen Geschäftsführerin, Marina Weisband, medial aufs Internet und programmatisch auf die eigene Partei geweitet. Das Internet wird zur Agora und „die Piratenpartei vertritt eine Politik der Information. Sei es politische Information (Transparenz), informationelle Selbstbestimmung (Datenschutz), offengelegte Information (politische Aufklärung) oder Informationsaustausch (Netzpolitik). Aus diesem übergeordneten Thema, sowie aus dem Motiv von Freiheit, lassen sich Standpunkte zu allen Bereichen ableiten, wie Wirtschafts- und Familienpolitik. Dies wird das Thema der Zukunft sein und die Piraten arbeiten an den Strukturen der Zukunft.” Weisband brachte damit die bis heute gültige politische Philosophie der Piraten auf den Punkt.

Seit den sechziger Jahren hat es keine so euphemistische Herleitung des politisch Möglichen aus dem technisch Machbaren gegeben, doch hat seitdem auch kaum eine technische Innovation eine solch gesellschaftsprägende Kraft gehabt, wie das Internet. Und die Selbststilisierung der Piraten zur politisch-digitalen Avantgarde entfaltet ihre Attraktivität wohl auch daraus, dass der Zugang, den sie zur Sphäre des Politischen versprechen, ausgesprochen niedrigschwelligfst: man muss vornehmlich User sein, um auf der Seite des Fortschritts zu stehen. Diese technologieaffine Selbstbestimmung hebt die Piraten bei allem gemeinsamen sozialen Habitus deutlich ab von den Grünen, deren Auftritt immer schon von einer gewissen moralischen Schwerfälligkeit war. Während diese nicht nur, wie die Sozialdemokraten, die sozialen Lasten gerecht aufteilen wollen, sondern auch noch die der künftigen Generationen obendrauf packen, beantwortet sich bei der Piratenpartei die Frage, wer zur Avantgarde gehört oder ggf, als konservativ zu brandmarkten ist, über Kenntnis und Nutzung von web 2.0, facebook, twitter und sonstiger digitaler Kommunikationswegen.

Diese selbstreferenzielle Weiterung des Mediums zur allgemeinen Politik hat Weisband auf die kurze und zeitgemäße Formel gebracht, die Piratenpartei habe „nicht bloß ein Programm anzubieten, sondern ein Betriebssystem.”

Man könnte auch sagen, die Piraten sind die erste Partei, die ihr Programm programmiert, oder genauer, bei der die Programmierung Programm ist.

Das Betriebssystem ist die „Liquid Democracy”, seine Software lautet „Adhocracy” und „Liquid Feedback”, Online-Verfahren der Themensetzung, Diskussion und Abstimmung, welche die Delegation der eigenen Stimme, sogar die Delegation der Delegation wie auch die federzeitige Annullierung der Delegation ermöglicht und auf der seit Jahren in der Netzgemeinde verbreiteten Vorstellung von der Schwarmintelligenz beruht. „The Wisdom of Crouds” (so der Titel des einschlägigen Buches von James Surowiecki) schreibt den oft zufällig zusammenkommenden Gruppen und Foren im Netz eine hohe Deliberations-, Entscheidungs- und Selbstkorrekturkompetenz zu, bei der das Gesagte bedeutsamer ist als die Identität des Sagenden ünd die nun die Piraten nicht nur für ihre internen Abstimmungen reklamieren sondern auch als Reformmodell einer verkrusteten repräsentativen Demokratie anpreisen.

Dass diese digitale Demokratie-Vorstellung in erstaunlich kurzer Zeit über die Piraten und die Netzgemeinde hinaus Attraktivität entfaltet hat, dass vor allem die Parteien des linken Spektrums sich ihr gegenüber in achtungsvollen Erklärungsnöten sehen, begründet sich nicht allein mit der seltsamen Kombination von digitaler Innovation und rousseauscher Anmutung. Die Verachtung der repräsentativen Bestandteile der Demokratie, die darin mitschwingt, hat auch mit dem theoretischen Grund zu tun, dem die Liquid Democracy entwachsen ist, einem Grund, der von dieser Linken jahrzehntelang als eigener gehegt wurde. Sie ist unschwer als eine digitale Übersetzung des Habermasschen Konzeptes der deliberativen Demokratie zu lesen, einer Übersetzung freilich, welche die jener innewohnende Reflexion auf ein überschaubares Setting an Codes eindampft. Mehr als ein Jahrzehnt bevor die Schwarmintelligenz Einzug in die politische Arena hielt, sprach dieser in seinem Buch „Faktizität und Geltung” (1992) bereits von „der höherstufigen Intersubjektivität von Verständigungsprozessen, die sich über demokratische Verfahren oder im Kommunikationsnetz politischer Öffentlichkeiten vollziehen. Diese subjektlosen Kommunikationen, innerhalb und außerhalb des parlamentarischen Komplexes und ihrer auf Beschlussfassung programmierten Körperschaften, bilden Arenen, in denen eine mehr oder weniger rationale Meinungs- und Willensbildung über gesamtgesellschaftlich relevante und regelungsbedürftige Materien stattfinden kann.” Für Habermas war dieser Kommunikationsfluss die Gewährleistung, dass „kommunikativ erzeugte Macht über die Gesetzgebung in administrativ verwendbare Macht umgeformt” wird. Was seinerzeit zum Markenkern der politische Philosophie von SPD und Grünen avancierte, haben nun die Piraten digitalisiert und ohne Urheberverweis als Alleinstellungsmerkmal für sich reklamiert.

Doch ihre Internetvariante der Demokratie ist nicht unproblematisch, denn die „Liquide Democracy” reduziert die für jene substanzielle Kategorie des Volkes zu Access. Dieser ist materiell und intellektuell voraussetzungsvoll, auch die Piratengemeinde ist ein sozial exklusiver Club. Zudem genügen die Verfahren der „Liquid Democracy” nicht den Standards, welche das Bundesverfassungsgericht für die elementaren demokratischen Prinzipien der freien, gleichen und geheimen Wahl einfordert, auch der Chaos Computer Club bescheinigt dem E-Voting ein gerüttelt Maß an Manipulationsanfälligkeit.

Das wird von den Piraten zu Widrigkeiten des Mediums eingedampft, die technisch nicht bewältigt, deren Bewältigung aber als potenziell machbar betrachtet werden. Wie immer die technische Lösung aussehen wird, damit ist aber noch nicht unter Beweis gestellt, dass ein solcherart gestalteter Prozess den Rahmen einer horizontalen Kommunikation in einer überschaubaren Gruppe überschreiten und sich zu einem vertikalen Verfahren der Willensbildung in einer Massendemokratie entwickeln kann. Nicht umsonst gelten derzeit die erbittertsten Auseinandersetzungen der Piraten Fragen der politisch-organisatorischen Hierarchie.

Es darf bereits bezweifelt werden, dass die gegebenen digitalen Kommunikationsformen jenen Kriterien genügen, die Habermas an eine vernünftige Lösungen generierende ideale Kommunikation angelegt hat. Zudem müsste sich diese „Liquid Democracy” an der Maxime des italienischen Politikwissenschaftlers Giovanni Satori messen lassen, wonach „Demokratie zwar komplizierter als jede andere politische Form (ist), doch paradoxerweise (…) nicht fortbestehen (kann), wenn ihre Grundsätze und Mechanismen den geistigen Horizont des Durchschnittsbürgers übersteigen.” Bislang darf bezweifelt werden, dass Adhocracy und Proxy-Strukturen mit alle ihren Problemen und Phänomenen wie Cloaks, Flamewars und Trollen viel mehr Menschen als den Mit-gliedern einer Crew oder eines Squads der Piraten vertraut sind und selbst unter diesen kann man eine ungleiche Verteilung des technologischen (Herrschafts-)Wissens vermuten.

Zu diesem Mangel gesellt sich ein weiterer unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten nicht unwesentlichen Aspekt des eigenen Mediums. Das Internet ist gleichzeitig eine fluide wie ökonomisch vermachtete Größe. Auch die kommunikativen Strukturen der Piraten bewegen sich in diesem Spannungsfeld und eine Weiterung der Liquide Democracy über ein verbandsinternes Abstimmungsverfahren hinaus auf das reale Volk ist, sofern sie nicht modellhaft gedacht wird, ohne Nutzung der das Medium charakterisierenden ökonomisch vermachteten Strukturen kaum vorstellbar. Man muss dabei noch nicht einmal an das ausgedehnte Sponsoring des Internet-Moloch Google denken, dessen sich viele webaffine Institutionen und Vereine im Umfeld der Piraten erfreuen. Diese Doppelgesichtigkeit haftet bereits den von den Piraten favorisierten kommunikativen Wegen wie Facebook, Twitter et, al. an und es braucht nicht viel, um sich „follower” und „friend” mit all ihren Beeinflussungsmöglichkeiten als zeitgemäß-virtuelle Fassung des strammen Parteimitgliedes klassischer Prägung vorzustellen. Zumindest zeichnet sich im Weichbild der sich dynamisch entwickelnden Partei bereit ein Kern von Machern ab, denen das Internet nicht nur Medium der Willensbildung, sondern auch Quelle des Einkommens ist, was spätestens dann von Belang sein wird, wenn die ökonomischen Potenziale des Intemets und deren Regulierung Gegenstand von Parteibeschlüssen sein werden.

Ist die von den Piraten propagierte digitale Deliberation unter demokratischen Gesichtspunkten bereits von einer solchen Unzulänglichkeit, das sie sich kaum als zeitgemäße Fassung von Abraham Lincolns Kategorie des governement „by the people” übersetzen lässt, so bleibt erst recht unklar, was „for the people” rauskommt. Die von der früheren Geschäftsführerin Weisband propagierte „Politik der Information” ist mitnichten das übergeordnete Thema, das nur mit dem „Motiv von Freiheit” unterlegt werden muss, um für alle Bereiche programmatische Antworten geben zu können. Bereits der Begriff der Freiheit weist eine Definitionsbreite auf, die mindestens mit dem parlamentarischen Spektrum identisch ist, doch liegen zwischen der Freiheit der FDP und derjenigen der Linken Welten. Und Information kann zwar auch Werte übertragen, ist aber kein Ersatz für die normative Selbst-Bestimmung einer Partei, aus der sich erst die Haltung in einem konkreten Politikfeld ableiten ließe.

Ob „Information” und „Freiheit” die Piraten in der Wirtschaftspolitik eher zu Friedman oder Keynes tendieren lassen, ist ebenso offen, wie die Haltung zur Veränderung der Einkommenssteuer oder zum Euro. Auch die Anhängerschaft weist eine breite Palette von Positionen auf, dafür spricht schon ihre Herkunft aus allen Bereichen des
Parteienspektrums.

Bislang werden das Fehlen politischer Kenntnisse und der erkennbare Mangel an Positionierung mit dem anti-institutionellen Fluidum des Neueinsteigers mehr schlecht als recht kaschiert, doch es wird zunehmend erkennbar, dass das Set programmatischer Gemeinsamkeiten der Piraten schnell aufgebraucht ist, sobald sie sich an die Arbeit der Konkretion machen. Dann zeigt sich, dass zwischen Netz und Norm ein kategorialer Unterschied besteht.

Solange der eigene politische Grund so schwammig ist, dürfte auch fraglich sein, ob es je ein Piraten-Gouvernment „of the people” geben wird. Der Begriff der Output-Legitimation der die Rückbindung politischer Entscheidungen durch ihre Wirkung auf das Wahlvolk als eine wesentliche Legitimationsressource fasst, ist der Internet-Demokratie bislang konzeptionell fremd. Regierungsbereitschaft wird zwar vollmundig (von allen?) bekundet, Regierungsfähigkeit aber weder programmatisch noch personell unter Beweis gestellt. Es fehlen rudimentäre Kenntnisse der Politik, was habituell mit einem bisweilen populistischen anti-instituionellen Duktus mehr schlecht als recht kaschiert wird. Und in der politischen Substanz gehen sie, selbst im Kernbereich ihres Selbstverständnisses, dem Internet, kaum über das hinaus, was z. B. die Grünen an regierungsfähigen Vorlagen bereits beschlossen haben.

Wenn die Piraten trotz all dieser Unzulänglichkeiten und trotz der zur Schau gestellten selbstbezüglichen Streitkultur, nach wie vor für viele noch attraktiv sind, dass sie als parlamentarische Kraft gehandelt werden, dann kann dies allerdings nicht allein mit ihrem juvenilen Habitus erklärt werden. Auch der allgemeine Überdruss am etablierten Parteienbetrieb, der nun von Wahlforschern angeführt wird, liefert noch keinen hinreichende Begründung für einen Zulauf, der in seiner Vehemenz und Konstanz ohne Beispiel ist, lässt die Erklärung der Wahlforscher doch die Frage unbeantwortet, warum er sich nicht in anderen, z. B. populistischen Formationen entladen hat. Was die Piraten auszeichnet ist die spezifische Verknüpfung des rasanten ökonomisch-kulturellen Fortschritts des Internets mit einem umfassenden basisdemokratischen Gestaltungsanspruch. Die Piraten sind die Protagonisten eines nachholenden sozialen Wandels, die angetreten sind, den digital-technischen Möglichkeitsraum partizipativ und emanzipativ zu füllen. Sie sind dabei getragen von dem gleichen Gefühl, die Geschichte auf ihrer Seite zu haben, dass zuletzt vor dreißig Jahren die Grünen beflügelte. Bei aller Unterschiedlichkeit in der politischen Positionierung, die bislang fraglich sein lässt, ob es sich bei den Piraten um eine Partei des linken Spektrums handelt, liegt darin die spezifische Verbindungslinie zwischen diesen Beiden.

Dass die Offenheit der Teilhabe ein schlagkräftiges Instrument sein kann, haben die Piraten bewiesen, als sie erfolgreich gegen Ursula von der Leyens Internetsperren rebellierten. Hinter dem Banner „Klarmachen zum Ändern” sammeln sich seitdem jene meist jugendlichen Wähler, denen das ironische Bekenntnis zur eigenen Unfertigkeit die passende Antwort auf einen Politikbetrieb gibt, dessen intransparente Routine kaum mehr mit den proklamierten Ansprüchen in Deckung gebracht werden kann.

Zwar erfordert ihr Konzept einiges an materiellen und intellektuellen Ressourcen, doch politisch ist es voraussetzungslos. Es propagiert eine individuell bestimmbare, gleichberechtigte Teilhabe an einem herrschaftsfreien Verfahren der Willensbildung und hebt sich damit ab von den weitaus verbindlicheren, mehr Bekenntnis fordernden und in ihren Strukturen tradierteren Gemeinschaftsformen und Entscheidungsverfahren der Parteien.

Vor allem hebt es sich ab von einem Politikmodell des Reformzwanges, der permanenten Systemanpassung, das für Phasen des drohenden sozialen Wandels, wie wir sie vor allem in den Null-Jahren erlebt haben, typisch ist. Es waren Jahre einer sozialdemokratischen Politik durch Führung, Jahre der wirtschaftsaffinen Elite und eines auswalzenden Elitediskurses und nichts verdeutlicht den Vorzeichenwechsel mehr, als das niveaulose Abtauchen dieser Elite in der selbstverursachten Krise und das gleichzeitige Hervortreten einer geradezu gesichtslosen, hierarchieaversen Formation wie die Piraten von der Hinterbühne der Macht. Als der Soziologe Heinz Bude vor zehn Jahren einen solchen Paradigmenwechsel mit einer neuen „Generation Berlin” antizipierte, verband er ihn — ohne das Internet oder gar die Piraten auf dem Radar zu haben — mit einer Haltung, welche diese nun mit Erfolg als ihre eigene stilisieren: „Es kommt weniger darauf an, das Ganze zu erfassen, sondern irgendwo anzufangen. Die Definition eines Ausgangspunktes ist etwas ganz anderes als die Entscheidung im Ausnahmezustand. Denn Definition ist nicht Schöpfung, sondern Durchsetzung einer neuen Kombination.” Irgendwie anfangen, definieren, ohne das Ganze zu erfassen, besser lässt sich die derzeitige Piraterie nicht auf den Begriff bringen.

So wie innerhalb einer Gesellschaft Sektoren sozialer Erstarrung mit solchen sozioökonomischer Dynamik koexistieren, so wie zwischen Langzeitarbeitslosen in Anklam und Nerds in Neukölln Welten klaffen, so gehört es zu dieser neuen Unübersichtlichkeit, dass Politik mit beiden Formen des sozialen Wandels gleichzeitig konfrontiert ist, sich ihr Gestaltungsanspruch folglich auch auf die Bewältigung beider erstrecken muss. An dieser äußeren Anforderung versagen die Piraten bislang, sie gestalten allenfalls nach der restriktiven Maßgabe ihrer inneren Verfasstheit und verharren im attraktiven Modus der Systemkritik. Für diese bietet allerdings der etablierte Politikbetrieb den optimalen Resonanzkörper. Denn sie rühren damit in einer offenen Wunde der Parteien, vornehmlich des linken Spektrums, die nur allzu bereitwillig in das Lamento über die postdemokratischen Sachzwänge und sklerotischen Verformungen des parlamentarischen Systems einstimmen, das sie selbst repräsentieren, und dabei noch nicht einmal merken, dass sie mit dieser Schizophrenie ein wesentlicher Teil zum allgemeinen Überdruss beitragen, der die Piraten hervorgebracht hat.

Die eingefahrene Selbstblockade eines politisches Betriebes, welcher zu jeder Selbst-Reform gleich deren passendes Unmöglichkeitstheorem mitliefert, wird auch nicht dadurch kuriert, dass nun im trauten Gleichklang mit den Piraten, allerlei direkt-demokratische Bypässe gelegt werden. Denn die Forderung nach mehr Transparenz und Partizipation ist Ausdruck geschwundenen System-Vertrauens, sie schafft deshalb aber noch lang kein neues, sondern allenfalls partiell bessere Kontrollmöglichkeiten. Sie ist Ausdruck eines antiinstitutionelles Effektes Sie dürfte zudem Willensbildungsprozessen, die immer auf eine Entscheidung, mithin auf Mehrheits- und Kompromissfähigkeit hin orientiert sind, nicht immer zuträglich sein.

Das spüren auch die Piraten bereits in dem Maße, in dem mit der Zahl ihrer Mitglieder und der Einbindung in die verschiedenen Parlamente, der Zwang zur inneren Abstimmung, zur Koordinierung und Priorisierung steigt. Und es gehört nicht viel prognostische Fähigkeit zu dem Ausblick, dass sie, sofern sie aus ihrer augenblicklichen Lernkurve den richtigen Weg finden, ihre Verfahren dem Politikbetrieb, in dem sie sich etablieren, anpassen werden. Und es spricht leider viel für den erfahrungsgesättigten Pessimismus, dass auch sie an dessen vermachteten Strukturen wenig ändern werden.

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