Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 214: Deutsche Flüchtlingspolitik zwischen Willkommenskultur und Politik der Abschottung

Zuwanderung und Aufnahme von Flücht­lin­gen: politische Entschei­dung oder moralische Pflicht?

in: vorgänge Nr. 214 (Heft 2/2016), S. 120-130

So sehr politischen Diskussionen und Entscheidungen in Europa derzeit von der Migration und den mit ihr verbundenen Problemen dominiert werden – so wenig ist bisher aus der politischen Philosophie zu dem Thema zu hören. Weitgehende Sprachlosigkeit herrscht vor. Eine der wenigen Ausnahmen in neuerer Zeit ist Michael Walzers „Sphären der Gerechtigkeit“, mit deren moralphilosophischem Kern sich Johann S. Ach beschäftigt hat.

Ein Thema der Politischen Philosophie

Die Themen der Zuwanderung und der Aufnahme von Flüchtlingen sind von Seiten der Politischen Philosophie bislang eher stiefmütterlich behandelt worden. Wenige Autorinnen und Autoren haben sich systematisch mit den Fragen befasst, ob es eine Pflicht gibt, einwanderungswillige Menschen aufzunehmen, ob diese möglicherweise ein Recht darauf haben, nicht nur ihr Herkunftsland zu verlassen, also ein Recht auf Emigration, sondern auch ein Recht auf Immigration, also darauf, in ein Land ihrer Wahl aufgenommen zu werden, und wie viele Immigrantinnen und Immigranten gegebenenfalls aufgenommen werden müssen.(1) Ein prominentes Beispiel für dieses Schweigen der Politischen Philosophie ist John Rawls, dessen ‚Theorie der Gerechtigkeit‘(2) von vorneherein von einer geschlossenen Gesellschaft ausgeht, der das Thema aber auch in seinem Buch zum Völkerrecht kaum berührt.(3)

Zu den wenigen Ausnahmen gehört Michael Walzer, der sich in seinem Buch ‚Sphären der Gerechtigkeit‘ ausführlich zur Frage einer möglichen Aufnahmeverpflichtung geäußert hat.(4) Walzer vertritt dort die Auffassung, dass es eine Aufnahmeverpflichtung ebenso wenig geben könne wie ein Recht auf Einwanderung. Politische Gemeinschaften haben Walzers Auffassung nach vielmehr das Recht, über die Erstzulassung, also die beiden Fragen, welche und wie viele Zuwanderinnen und Zuwanderer sie aufnehmen wollen, nach Gutdünken selbst zu entscheiden. Dieser Vorschlag ist zu Recht als „ex-gratia-Ansatz“ bezeichnet worden und es ist darauf hingewiesen worden, dass sich die Mehrheit der Staaten heute tatsächlich genau so verhält.

Im Folgenden will ich der Frage nach dem Verhältnis von politischen Entscheidungen einerseits und moralischen Verpflichtungen in der Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik andererseits nachgehen und insbesondere diskutieren, welche Rolle das Kriterium der ‚Mitgliedschaft‘ in dieser Debatte sinnvoller Weise spielen kann. Für Michael Walzer handelt es sich dabei, wie zu zeigen sein wird, um das grundlegende Kriterium: Es sind die Mitglieder der politischen Gemeinschaften, die über Aufnahme oder Ablehnung entscheiden. In einem ersten Schritt sollen daher die Überlegungen von Walzer im Zusammenhang nachgezeichnet werden. In einem zweiten Schritt möchte ich dann zeigen, warum das Kriterium der Mitgliedschaft und warum besondere Verpflichtungen gegenüber Landsleuten nur schwer, wenn überhaupt, als moralisch bedeutsam ausgewiesen werden können. In einem dritten Schritt schließlich werde ich in Zweifel ziehen, dass Walzer den Bezugsrahmen der Diskussion richtig gewählt hat. Wenn diese Überlegungen plausibel sind, dann ist der Spielraum politischer Entscheidungen in der Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik, wie ich am Ende behaupten werde, durch die moralische Pflicht, die wir gegenüber Zuwanderern und Flüchtlingen haben, begrenzt.

Minimal anständige Samariter

Walzer ist der Auffassung, dass es sowohl ‚interne‘ als auch ‚externe‘ Prinzipien sind, die unsere Überlegungen in Bezug auf Zuwanderung und die Aufnahme von Flüchtlingen leiten bzw. leiten sollten. Als externes Kriterium für die Vergabe von Mitgliedschaft, d.h. als ein Kriterium, „das nicht von innerhalb einer speziellen Gesellschaft vorherrschenden Auffassung von Mitgliedschaft abhängt“ (S. 68) kommt für Walzer zunächst das Prinzip der gegenseitigen Hilfe in Betracht. Gegenseitige Hilfe greift, wie Walzer sagt, „über politische (ebenso wie über kulturelle, religiöse und sprachliche) Grenzen hinaus“ (S. 67). Der paradigmatische Fall einer Verpflichtung zur gegenseitigen Hilfe ist für ihn das Beispiel des guten Samariters aus dem Neuen Testament: Zwei Fremde begegnen sich „am Straßenrand“, von denen einer aktive Hilfe dringend benötigt, der andere in der Lage ist, diese zu leisten. Es ist, mit anderen Worten, „die Abwesenheit jedweden Kooperationszusammenhangs“ (S. 67), die gegenseitige Hilfe erforderlich und zur moralischen Pflicht macht. Unter diesen Voraussetzungen muss der zur Hilfeleistung Fähige „innehalten und dem verletzten Fremdling Hilfe leisten, ganz gleich, wo ich ihm begegne und welcher Gruppe er oder ich angehören.“ (S. 68).
Was im individuellen Bereich gilt, lässt sich Walzer zufolge auch auf die kollektive Ebene übertragen. Auch Gruppen von Menschen sollen in Not geratenen Fremden Hilfe zukommen lassen. Tatsächlich ist das Prinzip der kollektiven Hilfeleistung Walzers Auffassung nach sogar zwingender; und zwar deshalb, weil politischen Gemeinschaften ein weiteres „Aktionsfeld für wohltätige Handlungen zur Verfügung offensteht“ als Einzelpersonen (S. 84).

Aus dem Prinzip der kollektiven gegenseitigen Hilfeleistung lässt sich, so scheint es auf den ersten Blick, die Pflicht von Gesellschaften ableiten, zumindest jene Menschen aufzunehmen, die aufgrund einer Notsituation um Aufnahme nachsuchen. Und unter diesen wiederum vor allem jene Flüchtlinge, denen nicht durch Landverzicht oder Vermögensexport geholfen werden kann, sondern denen es gerade an einem „nicht exportierbaren Gut“ fehlt, nämlich der Mitgliedschaft in einem politischen Gemeinwesen (S. 88).

Das Prinzip der kollektiven gegenseitigen Hilfeleistung ist – ebenso wie sein individuelles Pendant – jedoch in seinem Umfang stark eingeschränkt: Was genau sich Fremdlinge schulden, die sich „am Straßenrand“ treffen, könne, wie Walzer feststellt, zwar nicht genau angegeben werden; doch gelte generell, „dass aktive Hilfe geleistet werden muss, wenn sie (1) von einer der beiden Parteien benötigt oder gar dringend gebraucht wird, und wenn (2) die Risiken und Kosten, die diese Hilfe verursacht, für die helfende Partei relativ gering sind“ (S. 68).

Das Prinzip der Hilfeleistung verlangt auf Seiten des Hilfeleistenden, um eine Formulierung von Judith Jarvis Thompson aufzunehmen, also allenfalls die Haltung eines „minimal anständigen“ – im Unterschied zu einem „barmherzigen“ – Samariter. „Ich brauche den verletzten Fremdling nicht in mein Haus mitzunehmen, es sei denn für einen kurzen Augenblick, und ich brauche ihn ganz bestimmt nicht zu pflegen oder mich gar für den Rest meines Lebens mit ihm zusammenzutun. Mein Leben kann von solchen zufälligen Begegnungen nicht geprägt und bestimmt werden“ (S. 68).

Welche „Risiken und Kosten“ die Hilfeleistung für die oder den Hilfeleistenden verursachen darf, ist „keineswegs klar“, das Prinzip selbst weist, wie Walzer sagt, eine ihm eigene „Unbestimmtheit“ auf (S. 68). Dies liege unter anderem daran, dass „die philosophischen Grundlagen und Begründungen des Prinzips … schwer zu spezifizieren“ seien (S. 67). Letztlich ziehe das Prinzip der gegenseitigen Hilfe seine „Wirkkraft“ (S. 68) aus der Erfahrung bzw. aus historischen Einsichten. Als solche sei es aber ein Teil unserer Moral.

Die aus dem externen Prinzip der gegenseitigen Hilfeleistungen resultierenden Verpflichtungen konfligieren, wie Walzer sagt, mit internen Prinzipien; solchen Prinzipien also, die sich aus „der internen Macht von sozialen Bedeutungen“ ergeben (S. 68). Im Falle der Frage nach möglichen Aufnahmeverpflichtungen ergeben sich diese aus dem Verständnis dessen, was Mitgliedschaft in einer Gesellschaft bzw. genauer: was Mitgliedschaft in „unserer“ Gesellschaft bedeuten. Diese Überlegungen führen ins Zentrum des Argumentes von Walzer (und zugleich ins Zentrum seiner Gerechtigkeitstheorie).

Mitglied­s­chaft als das erste und wichtigste Gut

Mitgliedschaft ist für Walzer das „erste und wichtigste Gut, das wir aneinander zu vergeben und zu verteilen haben“ (S. 65). Als solche ist sie einerseits ein zu verteilendes Gut neben anderen Gütern, andererseits aber ein besonderes Gut insofern, als das Gut Mitgliedschaft alle anderen zu treffenden Distributionsentscheidungen strukturiert. Dies liegt daran, dass politische Gemeinschaften für Walzer den konstitutiven Rahmen für alle weiteren Distributionsentscheidungen bilden. Nur vor dem Hintergrund einer geteilten Lebensform innerhalb einer politischen Gemeinschaft ist für Walzer ein „gemeinschaftliches Verständnis von den Dingen“ (S. 61) möglich und erhalten soziale Güter ihre jeweils spezifische Bedeutung. Diese Bedeutung von Gütern aber wiederum bestimmt die Distributionskriterien und -arrangements: „Wenn wir wissen, was [ein] soziale[s] Gut ist, was es für jene bedeutet, die ein Gut in ihm sehen, dann wissen wir auch, von wem aus und aus welchen Gründen es wie verteilt werden sollte.“ (S. 34) Das Konzept der distributiven Gerechtigkeit setze insofern „eine festumgrenzte Welt voraus, innerhalb deren Güter zur Verteilung gelangen: eine Gruppe von Menschen, die gewillt und bestrebt sind, soziale Güter zu verteilen, auszutauschen und miteinander gemein zu haben, und dies vor allem und in erster Linie im eigenen Kreis.“ (S. 65)

Mitgliedschaft als soziales Gut wird, folgt man Walzer, durch ein (gemeinsames oder geteiltes) Verständnis von Zugehörigkeit begründet. Eben deshalb sind „wir“ es, also jene, die bereits Mitglieder der Gemeinschaft sind, denen nicht nur die Verantwortung darüber zufällt, zu entscheiden, wer überhaupt in die politische Gemeinschaft aufgenommen werden soll, sondern die auch die Kriterien festlegen, anhand derer über Aufnahme oder Zurückweisung entschieden wird.

Politische Gemeinschaften oder Staaten sind in dieser Hinsicht, wie Walzer feststellt, einerseits also perfekten Vereinen vergleichbar: So, wie sich in einem Verein nur die Vereinsgründer selbst auswählen, alle weiteren Mitglieder aber durch jene ausgewählt werden, die bereits Mitglieder sind, sind auch politische Gemeinschaften im Hinblick auf ihre Auswahlprozesse souverän (S. 78). So, wie die Entscheidungen von Vereinen, sind auch die Entscheidungen der Auswahlkommissionen von politischen Gemeinschaften autoritativ und letztinstanzlich. Und so, wie Außenstehende für ihre Aufnahme in einem Verein zwar versuchen können, gute Gründe anzuführen, derentwegen sie aufgenommen werden sollten, jedoch keinen Rechtsanspruch auf Aufnahme geltend machen können, steht es auch „Fremdlingen“ zwar frei, an die Mitglieder einer politischen Gemeinschaft zu appellieren, sie aufzunehmen, ohne dass sie jedoch ein Recht auf Aufnahme hätten.

Im Hinblick auf die Gründe, die Außenstehende geltend machen können, wenn sie um Aufnahme nachsuchen, gleichen politische Gemeinschaften Walzer zufolge dagegen eher Familien. Deren Charakteristikum nämlich besteht darin, dass sich ihre Mitglieder in der Regel zwar nicht freiwillig ausgesucht haben, dennoch aber moralisch miteinander verbunden fühlen. Ähnlich werden, meint Walzer, auch die Mitglieder politischer Gemeinschaften bestimmte Außenstehende als nationale oder ethnische „Verwandte“ ansehen (S. 78). Das aber bedeute, dass die Entscheidung für oder gegen Aufnahme auch von unseren Beziehungen zu jenen Fremden abhänge, und zwar nicht nur von unserem abstrakten Verständnis von diesen Beziehungen, sondern auch von den konkreten Kontakten, Verbindungen und Bündnissen, die wir bereits eingegangen sind, und von den Einflüssen und Wirkungen, die wir jenseits unserer Grenzen in der Vergangenheit ausgeübt haben.“ (S. 67)

Potentielle Zuwanderinnen und Zuwanderer haben also keine Möglichkeit, einen Zugang (moralisch oder rechtlich) einzuklagen; um ihre Chancen auf Zulassung und Aufnahme zu verbessern bleibt ihnen vielmehr nur, mit mehr oder minder überzeugenden Gründen für ihre Aufnahme zu werben, d.h. mit solchen Gründen, die die Mitglieder der potentiell aufnehmenden Gemeinschaft geneigt machen können, ihrem Wunsch nach Aufnahme zu entsprechen. Solche Gründe können für Walzer neben der Mitverantwortung der Aufnahmegesellschaft für die Notlage der Aufnahmesuchenden beispielsweise ethnische oder ideologische Nähe sein, eine gemeinsame Geschichte oder kulturelle Tradition – oder auch einfach nur ein gemeinsamer ideologischer Gegner (S. 89).

Es sind also externe ebenso wie interne Prinzipien, die Walzers Auffassung zufolge unsere Überlegungen und unsere Praxis der Aufnahme bzw. der Zurückweisung von Einwanderungswilligen leiten. Wie aber hängen diese Prinzipien zusammen bzw. wie sind sie ins Verhältnis zueinander zu setzen? Auf diese Frage gibt Walzer mehrere Antworten. Anders als die Zweitzulassung, d.h. als die Einbürgerung, die er für „absolut unabweisbar“ hält, ist die Einwanderung seiner Auffassung nach „sowohl eine Frage der politischen Entscheidung als auch des moralischen Zwangs.“ (S. 106) Im Hinblick auf Zulassung und Ausschluss sind also beide Prinzipien einschlägig: sowohl die (internen) Prinzipien, die den Entscheidungen der jeweiligen Mitglieder einer Gemeinschaft zugrunde liegen, als auch das (externe) Prinzip der wechselseitigen Hilfeleistung.

Auch wenn beide Prinzipien seiner Auffassung nach Berücksichtigung finden müssen, sind sie aber doch nicht gleichgewichtig: Vielmehr kann das Prinzip der gegenseitigen Hilfeleistung, wie Walzer feststellt, „die Aufnahmepolitik, die ihre Basis im jeweiligen Spezialverständnis der Gemeinschaft von sich selbst hat, nur modifizieren, nicht aber von Grund auf umgestalten.“ (S. 92) Es gibt, mit anderen Worten, einen Vorrang der internen Prinzipien. Die Grenze im Hinblick auf Zulassung oder Ausschluss muss, wie er sagt, „diesseits … der einfachen Gleichheit“ (S. 87) gezogen werden.

Einfache Gleichheit – im Unterschied zu komplexer Gleichheit –, also die Idee eines singulären Verteilungskriteriums, das für alle Verteilungsvorgänge gleichermaßen gilt (S. 28), würde, folgt man Walzer, bedeuten, für eine „Welt ohne spezielle Bedeutungen und ohne politische Gemeinschaften“ zu optieren. In vorliegenden Fall für eine Welt, in der niemand Mitglied in einer spezifischen politischen Gemeinschaft wäre bzw. in der alle einem einzigen Weltstaat angehörten. Für Walzer jedoch sind beide Optionen, sowohl eine Art von ‚globalem Libertarianismus‘ als auch eine Art von ‚Weltsozialismus‘ gleichermaßen unattraktiv (S. 68f.). Der Grund dafür ist, dass Mitgliedschaft für Walzer nicht nur, wie bereits angedeutet, von unserem Verständnis von Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft abhängt, sondern umgekehrt und zugleich auch die Voraussetzung dafür ist, dass es spezifische politische Gemeinschaften überhaupt geben kann. Zulassung und Ausschluss sind insofern für Walzer „der Kern, das Herzstück von gemeinschaftlicher Eigenständigkeit.“ Ohne sie gäbe es „keine spezifischen Gemeinschaften, keine historisch stabilen Vereinigungen von Menschen, die einander in einer speziellen Weise verbunden und verpflichtet sind und die eine spezielle Vorstellung von ihrem gemeinsamen Leben haben.“ (S. 106; Hervorhebung im Original) Wenn, so Walzer weiter, diese Besonderheit tatsächlich ein Wert ist, dann muss es „eine Begrenzung geben, so dass ein geschlossener Raum entsteht.“ (S. 76) Ja, mehr noch, da Distributionsentscheidungen von der sozialen Bedeutung der zu verteilenden Güter abhängen, diese Bedeutung aber aller erst durch das gemeinschaftliche Leben der Mitglieder einer politischen Gemeinschaft konstituiert wird, gäbe es ohne spezifische politische Gemeinschaften und deren Entscheidungskompetenz in Fragen von Inklusion und Exklusion „auch kein Gut, das es wert wäre, verteilt zu werden.“ (S. 62)

Es ist also nicht nur so, dass „wir“ derzeit de facto Unterschiede zwischen Mitgliedern und Fremden machen. Ein Verzicht auf Grenzziehungen hätte zudem, folgt man Walzer, immense Kosten: und zwar nicht nur in Form einer Welt von „tausend kleinen Festungen“ (als Reaktion auf einen globalen Libertarianismus) bzw. einer weltstaatlichen Tyrannei (als Voraussetzung für die Aufrechterhaltung eines Weltsozialismus), sondern auch in Form eines Verlustes eben jener Güter, die „unser“ Leben bedeutungsvoll und „unsere“ Identität ausmachen.

Das Prinzip der Hilfe­leis­tung

Aus der Perspektive des moralischen Prinzips der Hilfeleistung muss man – gegen Walzer – der  Auffassung sein, dass die Einwanderungspolitik von den Bedürfnissen oder Interessen der Betroffenen auszugehen hat, und dass in Fällen, in denen, wie in der Frage der Zuwanderung, die Interessen verschiedener Gruppen miteinander in Konflikt geraten, die Interessen aller Betroffenen in gleichem Maße zu berücksichtigen wären. Was unter anderem auch bedeuten würde, dass grundlegendere Interessen Vorrang vor weniger grundlegenden hätten. Diese Forderung ergibt sich aus einem ebenso plausiblen wie simplen moralischen Prinzip, das Peter Singer so formuliert: „Wenn wir etwas Schlechtes verhüten können, ohne irgendetwas von vergleichbarer moralischer Bedeutsamkeit zu opfern, sollten wir es tun.“(5)

Eine Bevorzugung der Mitglieder der eigenen politischen Gemeinschaft scheint sich vor diesem Hintergrund kaum begründen zu lassen. Dies liegt daran, dass moralische Prinzipien wie das genannte akteur-neutral sind und akteur-relative Begründungen, also solche Begründungen, die sich unmittelbar auf die handelnde Person bzw. die handelnden Personen beziehen, und die es dem Handelnden erlauben, Handlungen auszuführen, die nicht das Gesamtwohl fördern, ausschließt. Akzeptiert man ein Prinzip diesen Typs, dann kann man nicht mehr sagen, dass es in irgend einem Sinne besser sei, eine Handlung A statt eine Handlung B auszuführen, nur weil uns Person X, die von Handlung A profitiert, in irgend einer Weise persönlich näher steht als Person Y, die von Handlung B profitiert.

Das bedeutet freilich nicht, dass nicht auch vor dem Hintergrund eines solchen moralischen Prinzips besondere persönliche Verpflichtungen begründet werden könnten. Tatsächlich wäre eine Moralkonzeption, die nicht mit der Möglichkeit solcher besonderen Verpflichtungen rechnet, nämlich nicht nur unrealistisch, sondern führte auch zu – alles in allem – suboptimalen Konsequenzen. Dies lässt sich besonders gut an den besonderen persönlichen Verpflichtungen von Eltern gegenüber ihren Kindern zeigen: Die Bedeutung, die es hat, dass Kinder in liebevollen Elternhäusern aufwachsen, erlaubt es durchaus, die parteiliche Bevorzugung von Kinder durch deren Eltern – bis zu einem gewissen Grad jedenfalls – unparteilich zu rechtfertigen (Singer 2002, 162). Aber auch mit Blick auf Freunde, Nachbarn oder – zumindest unter bestimmten Voraussetzungen – auch Verwandte lassen sich entsprechende besondere Verpflichtungen begründen. Gemeinsam ist diesen parteilichen Präferenzen(6), dass sie einen – mal mehr, mal weniger großen – Akzeptanznutzen besitzen und sich daher aus einer unparteilichen Perspektive rechtfertigen lassen. Was auf den ersten Blick wie eine akteur-relative Begründung aussehen mag, erweist sich bei näherem Hinsehen also als eine akteur-neutrale Rechtfertigung besonderer persönliche Verpflichtungen.

Lassen sich auf diese Weise auch besondere Verpflichtungen gegenüber Landsleuten bzw. dem Staat akteur-neutral begründen? Für eine solche Verpflichtung lassen sich eine Reihe von Argumenten anführen: Neben dem – auch von Walzer angeführten – Argument der ‚Verwandtschaft‘ vor allem Effizienz- oder Reziprozitäts-Argumente.(7) Walzer vergleicht politische Gemeinschaften mit Familien. Deren Charakteristikum besteht für ihn darin, dass sich die Mitglieder einer Familie in der Regel zwar nicht freiwillig ausgesucht haben, dennoch aber moralisch miteinander verbunden fühlen. Unsere Landsleute sind dem Verwandtschafts-Argument zufolge so etwas wie unsere Familien-Angehörigen bzw. –  mehr oder weniger nahen – ‚Verwandten‘. Aus eben diesem Grund fühlen wir uns ihnen besonders verbunden; und aus eben diesem Grund haben wir ihnen gegenüber besondere persönliche Verpflichtungen, die wir Fremden gegenüber nicht haben. Dieses Argument scheint freilich von vorneherein wenig geeignet, akteur-neutrale Gründe für eine Bevorzugung von Landsleuten zu liefern. Bereits im Falle realer Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen hängt es nämlich von den jeweiligen sozialen Arrangements ab, ob Familien- oder Verwandtschaftsbeziehungen Kooperationssysteme mit hohem Akzeptanznutzen darstellen. Zumindest größeren politischen Gemeinschaften aber fehlen gerade jene Kennzeichen, die reale Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen zumindest zu geeigneten Kandidaten machen: Weder kann man sie sich als eine Quelle von Liebe, Freundschaft und gegenseitiger Unterstützung vorstellen; noch hängen die Kooperationsmöglichkeiten der Mitglieder politischer Gemeinschaften von deren persönlichen Beziehungen untereinander ab.

An dieser Stelle setzt das Effizienz-Argument an: Auf lange Sicht gesehen ist es besser, so das Effizienz-Argument, dass es Staaten gibt, die sich um die Interessen ‚ihrer‘ Staatsbürgerinnen und Staatsbürger kümmern. Die besonderen Verpflichtungen der Landsleute untereinander resultieren diesem Argument zufolge daraus, dass nur staatliche Instanzen eine effiziente Verteilung von Gütern garantieren können. Auch das Effizienz-Argument führt jedoch nicht zum Ziel: Wenn überhaupt etwas, dann zeigt das Effizienz-Argument nämlich nur, dass eine effiziente Verteilung innerhalb eines Gemeinwesens an bestimmte administrative Voraussetzungen geknüpft sein mag; es sagt aber gerade nichts über die Ressourcenallokation zwischen verschiedenen Gemeinwesen.(8) Eine effiziente ‚nationale‘ Allokation von Ressourcen kann unter bestimmten Voraussetzungen ‚global‘ also durchaus ineffizient sein. Dies dürfte jedenfalls immer dann der Fall sein, wenn zwischen den Staaten erhebliche Ungleichheit herrscht. Zumindest in diesem Fall ließen sich besondere Verpflichtungen gegenüber Mitgliedern der eigenen Gemeinschaft nur noch schwerlich durch ihren Akzeptanznutzen rechtfertigen.

Ein drittes Argument für den besonderen Wert von Staaten und für besondere Verpflichtungen gegenüber Landsleuten beschreibt die Beziehungen der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger untereinander als Reziprozitätsbeziehungen. Die besondere Bereitschaft zu Solidarität und Hilfeleistung, die es zwischen Landsleuten zu geben scheint, hat ihren Grund, so das Argument, in dem Wissen, dass es sich bei einem politischen Gemeinwesen um ein auf Wechselseitigkeit gegründetes Unternehmen handelt. Die Hilfe, die beispielsweise die Menschen nach dem Oder-Hochwasser von 1997 erfahren haben, verdankt sich, folgt man dem Reziprozitäts-Argument, dem Wissen, dass auch den Hilfe Leistenden von ihren Landsleuten dieselbe Hilfe zuteil werden würde, sollten sie selbst in Not geraten. Bereits der aus diesem Wissen erwachsende Sicherheitsnutzen, erst Recht aber der tatsächliche Nutzen, der sich aus der Wechselseitigkeit der Gemeinschaftsunternehmungen ergibt, rechtfertigen dem Reziprozitäts-Argument zufolge besondere Verpflichtungen gegenüber Landsleuten – auch wenn diese aufgrund der schieren Größe des Gemeinwesens weit entfernt voneinander leben und sich nicht persönlich kennen. Zumindest im Hinblick auf die Frage der Immigration scheint das Reziprozitäts-Argument allerdings kaum zielführend: Aus den selben Gründen, die es für die Mitglieder der politischen Gemeinschaft rational erscheinen lässt, besondere Verpflichtungen gegenüber Landsleuten zu akzeptieren, wäre es nämlich auch für Zuwanderer und Flüchtlinge rational, die ‚Kosten‘ der Aufnahme in Form bestimmter Verpflichtungen zu ‚zahlen‘. In der Regel werden sie ja gerade deshalb um Aufnahme nachsuchen, weil sie Mitglieder einer politischen Gemeinschaft und somit Teil eines Wechselseitigkeitszusammenhanges sein bzw. erst noch werden wollen. Immigranten und Flüchtlinge von der Möglichkeit auszuschließen, Teil der Reziprozitätsgemeinschaft zu werden, hieße also entweder, ihnen moralisch zweifelhafte Motive zu unterstellen, oder sie einfach deshalb auszuschließen, weil sie nicht ohnehin schon ‚zu uns‘ gehören.

Besondere Verpflichtungen gegenüber Landsleuten bzw. dem Staat lassen sich, anders als besondere persönliche Verpflichtungen gegenüber eigenen Kindern oder gegenüber Freundinnen und Freunden, also nur schwerlich akteur-neutral begründen. Zumindest aber fallen sie unter den realen Bedingungen gravierender Not und krasser globaler Ungleichverteilung kaum ins Gewicht.

Auf dem Weg zu einer ‚globa­li­sier­ten‘ Welt?

Mitgliedschaft und Zugehörigkeit setzen, wie Walzer betont, politische Gemeinschaften einerseits voraus, da diese den konstitutiven Rahmen für alle Distributionsentscheidungen bilden; andererseits sind sie ihrerseits die Voraussetzungen dafür, dass es spezifische politische Gemeinschaften überhaupt geben kann. Politische Gemeinschaften bilden für Walzer insofern also in doppelter Weise den „Argumentations-“ bzw. „Bezugsrahmen“ der Diskussion (S. 61f).

Wenn Walzer von politischen Gemeinschaften spricht, dann denkt er dabei in erster Linie an „Städte, Länder und Staaten…, die über lange Zeiträume hinweg ihr inneres Leben selbst gestaltet haben.“ (S. 63) Diese zeichnen sich aus durch kollektive Erfahrungen und – daraus erwachsenden – geteilten Auffassungen über soziale Bedeutungen. Sie stellen historisch stabile Vereinigungen von Menschen dar, die einander in einer speziellen Weise verbunden und verpflichtet sind, und die eine spezielle Vorstellung von ihrem gemeinsamen Leben haben. Mir scheint, dass dieser Bezugsrahmen von Walzer falsch gewählt ist.

Ist es wirklich plausibel, so könnte man sich zunächst fragen, moderne Staaten wie beispielsweise die Bundesrepublik Deutschland als politische Gemeinschaften zu beschreiben, die durch alle jene Eigenschaften charakterisiert sind, die Walzer wichtig sind? Also unter anderem dadurch, dass ihre Mitglieder eine spezielle Vorstellung von ihrem gemeinsamen Leben haben? Tatsächlich scheinen moderne Staaten weniger politische Gemeinschaften im Sinne von Walzer zu sein, als vielmehr Konglomerate verschiedener ethnischer Gemeinschaften, Sprachgruppen, Konfessionen und Lebensformen – Entitäten jedenfalls, denen sich nur schwer eine ‚kulturelle Identität‘ oder sogar eine ‚Leitkultur‘ zuordnen lässt. Über diese These und über die Konsequenzen, die sich daraus ergäben, ließe sich aber sicher streiten.

Bedeutsamer scheint mir ein zweites Argument zu sein: Wenn die Wahl des Bezugsrahmens der Diskussion über Mitgliedschaft und Zugehörigkeit, wie Walzer feststellt, letztlich von kulturellen Erfahrungen und sozialen Herausforderungen abhängt, dann stellt sich die Frage, ob dieser von Walzer richtig gewählt ist. Singer (und mit ihm vielen anderen) ist darin Recht zu geben, meine ich, dass die Möglichkeiten staatlicher Selbstbestimmung und auch deren Rechtfertigung in dem Maße schwinden, wie mehr und mehr unserer Probleme nach einer globalen Lösung verlangen.(9) Das globale Problem der Immigration und das ebenso globale Flüchtlingsproblem sind dabei nur ein Beispiel unter anderen.

Es sprechen insofern nicht nur moraltheoretische, sondern auch handfeste kulturelle und politische, um nicht zu sagen: existentielle Gründe dafür, die Welt, in der wir alle gemeinsam leben, als die ‚politische Gemeinschaft‘ und damit als den Bezugsrahmen der Diskussion anzusehen.

„Sie sind wie wir, aber sie sind keiner oder keine von uns“

Folgt man Walzer, dann gibt es, wie gesehen, zwar Gründe, die politische Gemeinschaften zur Aufnahme von Einwanderinnen und Einwanderern verpflichten; diese Verpflichtung ist jedoch in zweifacher Hinsicht eingeschränkt: Das externe Prinzip verlangt Hilfe nur dort, wo die Risiken und Kosten, die diese Hilfe verursacht, für die helfende Partei relativ gering sind. Das interne Prinzip legt fest, dass politische Gemeinschaften im Hinblick auf ihre Auswahlprozesse souverän sind und Aufnahmewillige daher für ihre Aufnahme mit Argumenten, die die Mitglieder der Aufnahmegesellschaft überzeugen, werben müssen.

Walzer gibt damit im Wesentlichen die im gegenwärtigen politischen Diskurs vorherrschende Position wieder. Tatsächlich verstehen sich die meisten Staaten im Hinblick auf die Migrations- und Flüchtlingsproblematik wie Vereine bzw. wie Familien und folgen dem doppelten Argument von Walzer: Sie, die Immigrationswilligen und insbesondere die Flüchtlinge, „sind wie wir, aber sie sind keiner oder keine von uns.“ (S. 67) Zuwanderung ist demnach zwar auch eine Frage der Moral; vor allem aber und zuerst ist sie eine Frage der politischen Entscheidung.

Ein wesentlicher Grund für den (politischen) Erfolg dieser Position besteht, wie man vermuten kann, gerade darin, dass Walzers Argumente eine Einschränkung der Aufnahmeverpflichtung rechtfertigen. Das moralische Prinzip der Hilfeleistung scheint Einschränkungen der Aufnahmeverpflichtung dagegen kaum zuzulassen. Es verpflichtet die Staaten vielmehr dazu, so viele Flüchtlinge aufzunehmen, wie – angesichts der Situation in den Herkunftsländern der Zuwanderer und Flüchtlinge – nötig und – bezogen auf die Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit der Aufnahmeländer – möglich ist. Erreicht ist die Grenze der Belastbarkeit, folgt man dem oben zitierten Hilfsprinzip, erst dann, wenn die Aufnahmeländer durch ihre Hilfeleistung selbst in die Gefahr geraten würden, „irgendetwas von vergleichbarer moralischer Bedeutsamkeit“ opfern zu müssen. Das hat mit „Obergrenzen“, wie sie aktuell diskutiert werden, offenbar wenig zu tun; und ebenso offenbar sind die allermeisten Staaten, Deutschland nicht ausgenommen, von den Grenzen ihrer Belastbarkeit noch immer sehr weit entfernt. Mit anderen Worten: Die Spielräume, die Staaten im Hinblick auf ihre Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik haben, sind durch ihre moralischen Verpflichtungen definiert – und nicht umgekehrt.

JOHANN S. ACH   studierte Philosophie, Theologie und Soziologie sowie Erwachsenenbildung an den Universitäten Augsburg, Münster und Kaiserslautern, Seine Promotion zum Dr. phil. beschäftigte sich mit moralischen Problemen der tierexperimentellen biomedizinischen Forschung. Er war von 2000 bis 2002 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages, ist seit 2003 Geschäftsführer des Centrums für Bioethik an der Universität Münster und seit 2009 Wissenschaftlicher Koordinator der DFG-Forschungsgruppe „Theoretische Grundfragen der Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik“ an der Universität Münster. 

Anmerkungen:

(1)  Vgl. aber die Beiträge in: Cassee, Andreas/Goppel, Anna (Hg.) 2012: Migration und Ethik. Münster; Grundmann, Thomas/Stephan, Achim (Hg.) 2016: „Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?“ Philosophische Essays. Stuttgart.

(2)  Rawls, John 1993: Eine Theorie der Gerechtigkeit. 7.Aufl. Frankfurt/M.

(3)  Rawls John 2002: Das Recht der Völker. Berlin/New York

(4)  Walzer, Michael 1992: Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralismus und Gleichheit. Frankfurt/M; Seitenverweise beziehen im Folgenden auf diese Ausgabe.

(5)  Singer, Peter 1994: Praktische Ethik. Neuauflage. Stuttgart, S. 294

(6)  Singer, Peter 2002: One World. The Ethics of Globalization. New Haven/London, S. 160.

(7)  Vgl. zum Folgenden: a.a.O., S. 167ff.

(8)  A.a.O., S. 171f.

(9) Vgl. Singer, Peter 2002: One World. The Ethics of Globalization. New Haven/London.

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