Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 214: Deutsche Flüchtlingspolitik zwischen Willkommenskultur und Politik der Abschottung

Die Kirchen bestimmen selbst, worüber sie selbst bestimmen!

in: vorgänge Nr. 214 (Heft 2/2016), S. 164-166

Carsten Frerk: Kirchenrepublik Deutschland, Alibri Verlag Aschaffenburg, 303 S., 18.- Euro, ISBN 978-3-86569-190-3

Die vorliegende Publikation mit dem Untertitel „Christlicher Lobbyismus“ handelt vom „Konstantinischen Filz“ zwischen Kirche und Staat, der weit schlimmer erscheint, als man ihn sich vorstellt. Mit lückenlosen Beweisen wird das Werk fast zu einem Lehrbuch für Verfassungsbruch im Namen Gottes.

Zunächst wird ausgeführt, dass es zu einem juristischen Grenzbereich kam, weil Artikel 135 der Weimarer Reichsverfassung nicht vollständig in das Grundgesetz übernommen wurde. Der Satz „Staatsgesetze haben Vorrang vor Religionsgeboten“ fehlt. Das führte – frei nach Carl Amery – zu einer „hinkenden Trennung“ von Staat und Kirche. Carsten Frerks Buch geht den Verfassungsverstößen, die er darin zu erkennen glaubt, akribisch nach – und er überzeugt. Dabei richtet sich seine Kritik weniger auf die Lobbyarbeit als solche, als auf den Verdacht, wie weit sich der Staat dabei korrumpieren lässt und damit seine Neutralitätspflicht gegenüber anderen staatlich anerkannten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften verletzt. So stellt sich auch die Frage, wieweit dies eine aktive Religionsfreiheit einschränkt.

Im 1. Teil („Lobbyismus von außen“) werden den kirchlichen Büros sowohl auf Bundesebene wie auf Landesebene problematische Verflechtungen mit dem Staate nachgewiesen. Diese Büros entstanden, so die einleuchtende Erklärung Frerks, weil die beiden im Nationalsozialismus angepassten Großkirchen die einzigen Organisationen waren, auf die die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg aufbauen konnten. Alle anderen waren entweder verboten oder belastet. Von diesem Vorteil, der sich den Kirchen hier bot, profitieren sie noch heute. Schwerpunkt der weiteren Ausführungen bildet das „Böckenförde-Diktum(1)“, das sinngemäß besagt, dass der religiös-weltanschaulich neutrale, freiheitliche und demokratische Rechtsstaat selbst keine Werte setzen darf, aber auch nicht wertneutral sein kann und von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. In Umkehrung der Intention des liberalen Kulturchristen Böckenförde leiten die Kirchen daraus für sich einen ethischen Monopolanspruch ab, und das, obwohl ihnen nur noch etwas mehr als 60 Prozent der Bevölkerung angehören und die dem Diktum zugrundeliegende „Homogenität der Gesellschaft“ damit nicht mehr gegeben ist. Die verbleibenden 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung werden durch verschiedene Religionen, u. a. dem Islam, mehr aber noch durch einen Ethischen Humanismus geprägt.

Neben offizieller kirchlicher Lobbyarbeit, wird auf zahlreiche inoffizielle Angebote religiöser Betreuung, wie Andachten oder Gebetsfrühstücke hingewiesen. Außerdem veranstalten die „Kirchlichen Büros“ parlamentarische Abende und Empfänge zu den verschiedensten Anlässen. Es handelt sich dabei um Veranstaltungen, in denen der Autor einen nicht mehr zu rechtfertigenden Filz zwischen Staat und Kirche zu erkennen glaubt. So wird berichtet, dass bei dem Johannes-Empfang 2012 der Ratsvorsitzende der EKD das Urteil des Landesgerichts Köln, das die Beschneidung eines minderjährigen Jungen verurteilte, als verfehlt bezeichnete und damit ein Religionsgebot über das Staatsgesetz stellt, welches auf körperliche Unversehrtheit ausgerichtet ist.

Der 2. Teil des Buches beschreibt die Zustände bei den Landesregierungen. Während im Durchschnitt fast ein Drittel der Bevölkerung keiner Offenbarungsreligion mehr angehört, zeigt sich in den Bundesländern eine große Spannbreite von 81 Prozent christlichem Bevölkerungsanteil im Saarland, bis 17 Prozent christlich und 83 Prozent Sonstige in Sachsen-Anhalt. Der kirchliche Lobbyismus wird jedoch in allen Ländern als etwa gleich stark ausgeprägt geschildert. Auf der politischen Seite, die weitgehend aus Kulturchristen zu bestehen scheint, reicht die Bindung zu den Kirchen von schlichter naiver Frömmigkeit bis zu einer problematischen Verfilzung mit dem Klerikalismus. Dazwischen liegt, neben reinem Pragmatismus, auch die Verdrehung wissenschaftlicher Aussagen bis ins Gegenteil, z. B. wenn ein hochrangiger CDU-Parlamentarier das „Böckenförde-Theorem“ so missdeutet, dass das enge Staat-Kirchen-Verhältnis deshalb wichtig sei, weil der Staat von Werten lebt, die er selbst nicht schaffen kann (S. 156). Hier wird nicht nur falsch zitiert, sondern auch nicht erkannt, dass die kirchlichen Organisationen nicht die einzigen Elemente einer Gesellschaft sind, die die Wertvorstellungen der Individuen prägen, sondern nur ein veralteter Teil von vielen – und die Bibel (wie der Koran) nur ein Erzeugnis menschlichen Geistes ist, mit naiven kindlich-poetischen Vorstellungen aus einer Zeit die längst hinter uns liegt, – ein freiheitlicher Staat auch ohne Kirchen über geeignete Mechanismen verfügt seinen Fortbestand zu gewährleisten und sich auf Basis psychologischer Studien sogar herausstellen kann, dass religiös sozialisierte Menschen weniger sozial, altruistisch und rational agieren als religionsfrei aufgewachsene Personen.(2) Hier wäre anzumerken, dass man durchaus die Frage stellen kann, ob man gleichzeitig an die Demokratie und an Gott glauben kann. Schließlich wird ein ehemaliger Bundeskanzler mit den Worten zitiert: „Nicht nur politische Entscheidungen, sondern auch Gebete bewegen die Entwicklung der Welt“ (S. 230).

Der 3. Teil beleuchtet den Lobbyismus von innen. So behaupten die Kirchen, sie müssten ein „Wächteramt“ innerhalb der Gesellschaft und gegenüber dem Staat wahrnehmen. Aber dieses Amt kann, wenn überhaupt, nur widerspruchsfrei beansprucht werden, wenn eine tatsächliche Trennung von Staat und Kirche bestünde und die Kirche nicht, wie Frerk feststellt, eine Art Nebenregierung darstellen würde. Die Beschäftigung mit dem Begriff Wächteramt zeigt, dass es auf beiden Seiten an einem Unrechtsbewusstsein mangelt. Aber das bewusste Fehlverhalten scheint mehr beim klerikalen Herrschaftschristentum zu liegen als bei den Parlamentariern, denen er jedoch glaubt vorwerfen zu können, dass sie sich von den Kirchen korrumpieren lassen.

Friedrich Nietzsche äußerte einmal polemisch, es sei unanständig, heute noch Christ zu sein. Er unterschied noch nicht zwischen Kulturchristentum und Herrschaftschristentum. Nach dem Lesen dieses Buches und der darin beschriebenen Fakten könnte man durchaus zu der Überzeugung gelangen, dass Nietzsches Aussage heute zumindest für das Kirchenchristentum nicht ganz falsch wäre und man die BRD möglicherweise auch nicht mehr als eine „lupenreine Demokratie“ betrachten kann. Es besteht zwar der Verfassungsanspruch einer „Trennung von Staat und Kirchen“, die Verfassungswirklichkeit sieht jedoch anders aus. Das Buch schließt dann auch mit der Frage: Ist Deutschland tatsächlich eine Demokratie?

Ein herzliches Dankeschön Carsten Frerk für die interessante Darstellung eines Ist-Zustandes, den sich die wenigsten so vorstellen konnten und der auch für Insider wichtige Details enthält.

Erich Satter

Anmerkungen:

(1)  Nach Ernst-Wolfgang Böckenförde, ehem. Richter am BVerfG: „Der freiheitlich, säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Geboten garantieren, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularer Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“ (zit. nach: Wilhelm F. Kasch/ Klaus Dieter Wolff (Hg.), Glaube und Gemeinwohl. Paderborn 1986, S. 81f.)

(2)  S. auch Erich Satter, Wer Wissenschaft und Kunst besitzt … Neu-Isenburg 2015, S. 21 und S. 85; sowie Jan M. Kurz, Der Böckenförde-Fehlschluss, hpd.de.

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