Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 214: Deutsche Flüchtlingspolitik zwischen Willkommenskultur und Politik der Abschottung

Editorial

in: vorgänge Nr. 214 (Heft 2/2016), S. 1-5

Auch wenn unsere Bundeskanzlerin die Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik Deutschlands nicht zugeben will: Aus der regierungsamtlichen „Willkommenskultur“ des Jahres 2015 ist inzwischen eine Unkultur der gezielten Abschreckung und Zuwanderungsverhinderung geworden. Ein beschämendes Zeugnis dieser Kehrtwende ist das im Frühjahr 2016 vereinbarte EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen, zeigt es doch die faktische Geringschätzung der täglich beschworenen „europäischen Werte“, präziser: der für europäische Staaten (einschließlich der Türkei!) verbindlichen Menschenrechte. In der Sache handelt es sich bei diesem Abkommen um eine perfide Form von Menschenhandel: Für jeden unerwünschten Flüchtling, der aus Griechenland in die Türkei „zurückgeführt“ wird, sollen die EU-Staaten einen erwünschten Flüchtling aus den Lagern in der Türkei aufnehmen. Was macht die Türkei eigentlich zu einem „sicheren Drittstaat“ im Sinne des Art. 16a Abs. 2 Grundgesetz und der Rechtsprechung des EGMR zur Zulässigkeit von Abschiebungen? „Wenn die Türkei ein sicherer Drittstaat ist“, so die ironische Feststellung von Christian Bommarius, „dann ist Syrien eine gefestigte Demokratie, und der Islamische Staat eine Hochburg der Toleranz und Humanität.“(1)

In der jetzigen Situation ist eine Erinnerung an die menschenrechtlichen Standards für den staatlichen Umgang mit Flüchtlingen bitter notwendig: Dieser Schwerpunkt der vorgänge zu Deutschlands Flüchtlingspolitik beginnt deshalb mit einem Beitrag von Wolfgang Grenz, der die grundlegenden Schutzmechanismen, aber auch die politischen Abschottungspraktiken gegenüber Flüchtlingen erläutert. Der frühere Generalsekretär von Amnesty International Deutschland weist in seinem Artikel darauf hin, dass die geltenden nationalen und internationalen Menschenrechtskataloge für Flüchtende kein Grundrecht auf Einreise in ein bestimmtes Land ihrer Wahl gewährleisten, es streng genommen nicht einmal ein Menschenrecht auf Asyl, sondern lediglich auf Asylersuchen gibt. Unter welchen Voraussetzungen Menschen als Flüchtlinge anerkannt werden können und welche Schutzmechanismen es jenseits des Asylrechts gibt, stellt Grenz im Überblick dar. So gewährt Art. 16a des Grundgesetzes auch nach seiner massiven Amputation im Jahre 1993 „politisch Verfolgte(n)“ grundsätzlich das Asylrecht.(2) Der Tatbestand der politischen Verfolgung ist dabei im Lichte der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 weit auszulegen. Danach steht das Asylrecht jedem Menschen zu, dem wegen seiner Hautfarbe, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung Gefahr für Leib und Leben oder Beschränkungen seiner persönlichen Freiheit drohen.(3) Diese Kriterien müssen allerdings in der Person des Flüchtlings selbst erfüllt sein. Menschen, die vor Hunger, wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit oder Bürgerkrieg in ihren Heimatstaaten fliehen, gelten nicht schon per se als asylberechtigt, ggf. unterliegen sie einem subsidiären Schutz. Dies betrifft aktuell insbesondere Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Pakistan wie auch den Maghrebstaaten Nordafrikas. Grenz unterbreitet Vorschläge zur Weiterentwicklung des europäischen Asylrechts, etwa die Freizügigkeit für anerkannte Flüchtlinge. Denn im Unterschied zum Ablehnungsbescheid, der einmal gefällt für alle EU-Mitgliedsstaaten gilt, dürfen sich auch anerkannte Flüchtlinge nicht frei in der EU bewegen, was ihre Integration erschwert. Die volle Freizügigkeit gestattet das Unionsrecht nur für EU-Bürger_innen.(4)

uf die externen Ursachen der gegenwärtigen Fluchtbewegungen nach Europa geht der Essay von Volker Perthes ein, der sich mit den gesellschaftlichen Umbrüchen im Nahen und Mittleren Osten beschäftigt. Nach Einschätzung des Autors, der die Stiftung Wissenschaft und Politik leitet, erlebt diese Region derzeit einen tektonischen Bruch, der mehr sei als der bloße Wechsel von einem politischen Zustand in einen anderen; vielmehr befinde sich das gesamte Ordnungsgefüge der postosmanischen Gesellschaften in Auflösung. Die zunehmende Bezugnahme auf und Instrumentalisierung von Jahrhunderte alten konfessionellen Konflikten sei nur ein Symptom dieses Zerfallsprozesses. Vor dem Hintergrund dieser Diagnose entwickelt Perthes Eckpunkte für eine europäische Politik, die sich nicht darauf beschränkt, Europa gegenüber dem Mittleren und Nahen Osten abzuschotten – weil diese Form der Konfliktvermeidung zum Scheitern verurteilt sei. Das zeigt sich deutlich in der Flüchtlingsfrage: Europa kann die humanitären Katastrophen in seiner Nachbarschaft nicht ausblenden.

So wenig, wie Europa in der Flüchtlingspolitik ohne seine Anrainerstaaten agieren kann, so wenig kommen deutsche Asylpolitik und deutsches Asylrecht ohne Europa aus. Zahlreiche Standards des Flüchtlingsschutzes ergeben sich aus europäischen und völkerrechtlichen Verpflichtungen, ohne die die deutsche Flüchtlingspolitik nicht zu denken ist. Ihnen widmen sich die beiden folgenden Artikel. Jürgen Bast weist in seinem Kommentar auf die durchaus vorhandenen Stärken des europäischen Flüchtlingsrechts hin, aber benennt auch dessen Schwachstellen. Karl-Jürgen Bieback widmet sich dagegen ausführlich den Problemen des europäischen Asylrechts und den Ursachen seiner fehlenden politischen Umsetzung. Dafür macht er vor allem die mangelnde Solidarität, aber auch fehlende finanzielle Mittel und Verwaltungsressourcen verantwortlich – die Umsetzung der gemeinsamen europäischen Asylpolitik sei nach wie vor Sache der Nationalstaaten an der EU-Außengrenze. Um die dortigen humanitären Katastrophen zu beenden sei es notwendig, dass sich Europa nicht nur um die Flüchtlinge kümmere, die den Kontinent (demnächst) erreichen. Dass Asyl in Europa nur beantragen kann, wer bereits europäischen Boden erreicht hat, und zugleich keine legalen Einreisemöglichkeiten geschaffen werden, befördere die zunehmende Risikobereitschaft der Flüchtlinge. Deshalb ist auch absehbar, dass der mit der Türkei abgeschlossene Flüchtlingsdeal für viele Anlass sein wird, andere gefährlichere Fluchtrouten über das Mittelmeer zu wählen. Künftig dürften also wieder mehr Todesopfer zu beklagen sein, und das Geschäft der Schlepper munter weiter blühen, so Bieback.

Ein Beispiel für die nationalen Egoismen in der Flüchtlingsfrage ist die Auseinandersetzung um die Einstufung sogenannter „sicherer Herkunftsstaaten“. Mit den verfassungs- und völkerrechtlichen Problemen dieser Einstufung befasst sich der Beitrag von Norman Paech. Die erwähnte Verfassungsänderung aus dem Jahre 1993 bezweckte u.a. eine rasche „Erledigung“ zahlreicher Asylanträge: Nach dem neuen Art. 16a Abs. 2 und 3 Grundgesetz gilt das Asylrecht grundsätzlich nicht für Personen aus anderen EU-Mitgliedsländern sowie aus solchen Staaten, die vom deutschen Gesetzgeber zu „sicheren Herkunftsstaaten“ erklärt wurden. Dies sind neben Ghana, Senegal und den Balkanstaaten nach dem Willen der Regierungsmehrheit künftig auch die Maghrebstaaten Marokko, Algerien und Tunesien. Angesichts der ständigen Ausweitung dieser Liste wird immer deutlicher, dass für die Einstufung als „sicherer Herkunftsstaat“ nicht die Menschenrechtslage, sondern der Andrang von Flüchtlingen aus jenen Ländern entscheidend ist.

Die Ablehnung von Asylanträgen löst jedoch nicht das Problem in Deutschland: Menschenrechtlichen Schutz genießen hier wie in ganz Europa auch solche Personen, deren Asylanträge abgelehnt wurden und die im Behördendeutsch „ausreisepflichtig“ sind. Ihrer Abschiebung stehen nämlich die sog. Refoulement-Verbote der UNO-Folterkonvention sowie die Art. 2 und 3 EMRK entgegen, wenn ihnen im Verfolgerstaat Tod, Folter oder eine andere unmenschliche Behandlung drohen.

Wie stark das Asylrecht faktisch unter Druck gerät, indem Verfahren „gestrafft“ werden, führt Johannes Moll vor Augen. Er ist in der Unabhängigen Sozial- und Verfahrensberatung der Diakonie im Heidelberger Ankunftszentrum tätig, einer bundesweiten Modelleinrichtung, in der alle zuständigen Behörden unter einem Dach vereint sind. In Heidelberg findet ein beschleunigtes Asylverfahren statt, das im Idealfall innerhalb von 48 Stunden abgeschlossen sein soll. Unter diesen Bedingungen ist es kaum möglich, dass ein Flüchtling die gesetzliche „Regelvermutung“ der sicheren Herkunftsstaaten widerlegen kann, indem er „Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, dass er entgegen der Vermutung politisch verfolgt wird.“ (Art. 16a Abs. 3 Satz 2 GG). Dazu gehört die Vorlage von Beweisen für die individuelle Verfolgung, die auf die Schnelle kaum zu erbringen sind – zumal viele Flüchtlinge nach den Strapazen der Flucht kaum so schnell über ihr Erlebtes reden wollen.

Eine Gruppe, die besonderen Schutz im Aufnahmeverfahren bedürfen, sind Kinder und Jugendliche, die etwa 30 Prozent der hier ankommenden Flüchtlinge ausmachen. Wie deren Ankunft und Behandlung in Deutschland aussieht, schildert Tanja Funkenberg, die bei terre des hommes tätig ist. Sie weist auf die Probleme in den Erstaufnahmeeinrichtungen, die fehlende kindgerechte Betreuung, bestehende Lücken in der Gesundheitsversorgung und beim Bildungszugang hin. Die Praxis zeige, dass Kinder, die in Begleitung ihrer Eltern einreisen, schlechter gestellt sind als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Während unbegleitete Minderjährige gesondert betreut und versorgt werden, „laufen“ mitreisende Kinder meist im normalen Asylverfahren ihrer Eltern mit, ohne dass auf ihre besonderen Förderbedarfe geachtet wird.

Die meisten der im Grundgesetz normierten Grundrechte gelten nicht nur für deutsche Staatsangehörige, sondern für alle sich hier aufhaltenden Menschen, unabhängig von ihrem asylrechtlichen Status. So erfordert insbesondere die Unantastbarkeit der Menschenwürde die Einhaltung bestimmter Standards bei staatlichen Leistungen, insbesondere die Gewährleistung des Existenzminimums. Zu erinnern ist hier insbesondere an die eindrückliche Mahnung seitens des Bundesverfassungsgerichts: „Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen (…) Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“(5) Dass dies täglich dennoch geschieht, beschreibt Tatjana Ansbach in ihrem Beitrag.

Mit den steigenden Flüchtlingszahlen erreichte im vergangenen Jahr die Zahl der friedlichen, aber auch der gewaltsamen Proteste gegen Migrantinnen und Migranten und ihre Unterkünfte neue Rekordwerte. Wie aus versammlungsrechtlicher Sicht mit den Protesten (und Gegendemonstrationen) umzugehen ist, erläutert Hartmut Aden in seinem Beitrag zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über ein geplantes Demonstrationsverbot im sächsischen Heidenau.

Die Furcht vor den Flüchtlingen wird auch durch die Angst vor terroristischen Anschlägen befeuert. Allein die Vorstellung, dass sich unter den zahlreichen Flüchtlingen potenzielle Attentäter nach Europa oder Deutschland einschleichen könnten, setzt die Politikerinnen und Politiker in Bund und Ländern unter Zugzwang. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen in jüngster Zeit sogenannte islamistische Gefährder, denen die Bereitschaft zu terroristischen Anschlägen zugetraut wird. Jannik Rienhoff untersucht in seinem Beitrag, welche Bedeutung die verschiedenen Maßnahmen der Überwachung dieser Gefährder haben – und welche rechtsstaatlichen Kosten damit verbunden sind.

Nach diesen tagespolitischen Herausforderungen schließen wir den Themen­schwer­punkt mit einem Essay von Johann S. Ach. Er stellt sich die aus gerechtigkeitsphilosophischer Sicht zentrale Frage des Flüchtlingsthemas: Gibt es eine allgemein begründbare Verpflichtung zur Aufnahme von Flüchtlingen in unserem Land – und wenn nicht, wie dann mit dem moralischen Dilemma umgehen? Im Gegensatz zur politischen Geschäftigkeit ist aus der aktuellen Philosophie bisher wenig zu hören, was unseren gedanklichen Horizont weiten könnte. (6)i Eine der wenigen Ausnahmen ist Michael Walzers „Sphären der Gerechtigkeit“, mit denen sich Ach eingehend befasst hat.

Der Aspekt der Gerechtigkeit könnte auch eine zunehmende Bedeutung erlangen, wenn es darum geht, welche Haltung die deutsche Bevölkerung zu den hier lebenden Flüchtlingen einnimmt. Wie kann eine sozial gerechte Verteilung der monetären Kosten und der sozialen Integrationsleistungen aussehen? Bisher, so konstatiert der Publizist Albrecht von Lucke, werden sie oft auf dem Rücken der sozial Schwächeren und in ihren Regionen ausgetragen, „was zu zunehmender Verbitterung führt. Das beginnt bei der Frage der Unterbringung, die allzu oft nur in den armen Quartieren stattfindet; das setzt sich fort bei der Frage der Bildung, obwohl bereits heute die Schulen in den sozial schwachen Gebieten mit massiven Sprach- und Integrationsproblemen zu kämpfen haben; und es endet schließlich bei der Verteidigung des Mindestlohns, weil speziell im Niedriglohnsektor aus der Migration massive Dumping- und Verdrängungsphänomene zu resultieren drohen.“(7) So rächt sich der jahrzehntelang betriebene Abbau sozialstaatlicher Infrastrukturen und der Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Der angesichts dieser Entwicklung kaum verwundernde Triumph der AfD war vermutlich der wesentliche Anlass für die Bundesregierung, ganz „populistisch“ eine Kehrtwende in ihrer Flüchtlingspolitik zu vollziehen.

Im Namen der gesamten Redaktion wünschen wir Ihnen eine anregende Lektüre mit dieser Ausgabe der vorgänge,

Martin Kutscha und Sven Lüders

Anmerkungen:

(1) Christian Bommarius, Zynische Annahme, in: „Berliner Zeitung“ v. 2./3. 4. 2016.

(2) Vgl. Reinhard Marx, Das Asylrecht – Art. 16a, in: Andreas Fisahn/Martin Kutscha, Verfassungs­recht konkret. Die Grundrechte, 2. Aufl. 2011, S. 175 ff.

(3) Vgl. Bodo Pieroth, in: Hans. D. Jarass/Bodo Pieroth, Grundgesetz. Kommentar, 11. Aufl. 2011, Art. 16a, Rn. 2.
(4) Art. 21 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union.

(5) Bundesverfassungsgericht, Urteil v. 18. 7. 2012, undesverfassungsgerichtsentscheidungen Bd. 132, S. 134 (173).

(6) Ein lesenswertes Zeugnis der philosophischen Verarbeitung eigener Migrationserfahrung ist immer noch Hannah Ahrendts 1943 verfasster Essay „We Refugees“ (erschienen in: Marc Robinson (Ed.), Altogether Elsewhere. Writers on Exile, Faber and Faber), abrufbar unter http://www-leland.stanford.edu/dept/DLCL/files/pdf/hannah_arendt_we_refugees.pdf.

(7) Albrecht von Lucke, Der Triumph der AfD, in: Blätter f. dt. u. intern. Politik 3/2016, S. 5 (8).

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